Problem von Anonym - 17 Jahre

Das ist nicht die Welt, die ich kenne...

Ich weiß nicht, ob man mich verstehen kann.
Ich weiß nicht, ob man meine Gedankengänge nachvollziehen kann.
Ich weiß nicht, weshalb ich so denke.

Es passieren so viele grausamen Dinge auf dieser Welt.
Ich habe sie so schön in Erinnerung. Als Kind war ich mit meinen Freunden auf dem Spielplatz, wir sind eingesaut nach Hause gekommen und haben Pfannkuchen gegessen. Das war alles kein Problem. Es war alles so unbeschwert, so leicht.
Ich will nicht sagen, ich sehne mich nach meiner Kindheit. Das tue ich nicht. Aber ich sehne mich nach diesem Gefühl von... Heilsamkeit. Dass alles okay ist.
Zwei Tage vor dem Amoklauf in Stuttgard war bei uns an der Schule ein riesiges Chaos, meine Mitschüler liefen mir entgegen. Es hieß, da wäre ein Amokläufer. Wir sollten trotzdem über einen Hintereingang in die Schule gehen. Es stellte sich heraus, dass in der angrenzenden Straße ein Mann ausgerastet sei und mit Maschinenpistole und Munition alle wegschießen wollte, die sich ihm in den Weg stellten, zuletzt auch sich selber. Er wurde von der Polizei und dem SEK entwaffnet und in die Psychiatrie gebracht.
Was wäre passiert, wenn er in unsere Schule gekommen wäre? Wenn er Menschen getötet hätte? Dann zwei Tage später in den Nachrichten: Amoklauf.
Alles scheint so unwirklich. Wieso ist hier alles so verdammt grausam? Und warum sind gerade wir es, die alles nur noch schlimmer machen?
Ich verstehe nicht, wie man Menschen töten kann. Menschen missbrauchen kann. Ich wurde früher auch missbraucht. Auch heute geht es mir nicht gut, ich bin seit über 1 1/2 Jahren in psychiatrischer Behandlung; leide unter einer Bipolaren Störung und einer Essstörung. Und auf sowas wird es immer geschoben. Die Menschen waren krank. Alles "Psychos".
Es macht mich traurig, in so einer Gesellschaft zu leben.
Ich versuche wenigstens mein schlechtes Gewissen zu bereinigen, ich bin Veganer und achte auf meine Mitmenschen und deren Gefühle, komme aber nicht mit mir klar.
Immer wenn ich solche schrecklichen Bilder im Fernsehen sehe, denke ich mir, dass ich nicht mehr leben will. Dass sind im prinzip Suizidgedanken; die habe ich schon sehr lange, was aber eine andere Geschichte ist, nur nicht auf mein Leben und meine Sorgen bezogen, sondern einfach auf die Unlust auf dieser Welt zu leben.
Wozu leben wir?
Was bring es, sich anzustrengen, gut zu sein, perfekt zu sein, wenn man doch keinen Dank dafür erhält? Bestenfalls landet man letztendlich an einer Arbeitsstelle, in der gemobbt wird, oder wo man sich nicht wohlfühlt. Man tut andauernd das selbe. Essen, schlafen, arbeiten, vielleicht mal mit Freunden weggehen oder feiern. Aber das ist doch alles so unnötig.
Ich bin momentan sowieso wieder in einer Tiefphase, aber die dunkle Welt die ich sehe, ist doch schließlich die Realtität. Es mag die Sonne scheinen, doch bleiben die meisten Menschen dieser Welt tief im Inneren egoistisch und grausam. Ich habe das Bedürfnis zu fliehen. Das paart sich perfekt mit meinen Wünschen, nicht mehr zu leben. Aber ich werde mich nicht umbringen. Ich werde nicht wieder in der Psychiatrie landen. Und ich werde auch niemanden umbringen, nur weil mich vielleicht einige Menschen fertigmachen. Ich werde mein Leben leben, mit meinen Freunden Zeit verbringen. Aber ich werde immer Zweifeln. Ist die Gesellschaft nicht eigentlich ein einziger, riesiger Grund, nicht mehr leben zu wollen?

Anwort von Shanina

Hallo du,

deine Mail hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Besonders deine Frage "Wozu leben wir?"
Das ist wohl eine der bedeutesten Fragen überhaupt, der Sinn des Lebens.
Ich denke, dass jeder Mensch seinen eigenen Sinn für das Leben herausfindet. Ich denke das ist ein nicht einfacher Weg, Menschen wollen immer Gewissheit, handfeste sichere Antworten auf ihre Fragen, Sicherheit. Aber ich denke auf diese Frage muss jeder seine eigene Antwort finden - und davon überzeugt sein.
Und ich denke, die meisten Menschen kommen irgendwann an diesen Punkt wo sie für sich die Antwort finden. Manche oft erst mit einem Schicksalserlebnis.
Ich denke keiner kann dir die Antwort geben, wozu du lebst.
Selbst wenn ich dir jetzt irgendeine Antwort gebe auf diese Frage, würdest du auf irgendwelche Spekulationen vertrauen? Ich denke auch du musst diese Antwort für dich selbst finden.
Und ich denke nicht, dass es eine Antwort ist die "einfach da ist". Ich denke dass sich das oft erst Stück für Stück zusammensetzen muss bevor es einen Sinn ergibt.
Aber versuch nicht, krampfhaft nach dieser Antwort zu suchen. Ich weiss, es klingt vielleicht blöd, aber atme erstmal durch und erkenne auch wieder die schönen Sachen. Ich bin heute draussen im Garten gelegen und hab wieder die Vögel zwitschern hören... Blumen blühen sehen. Den Frühling empfunden. Das hat mich glücklich gemacht. Es ist ein einfaches "Beispiel", du musst garnicht weit schauen um Dinge zu erkennen die schön sind. Das fängt doch schon beim Wetter an. Zumindest für mich. Denn ist Sonne und der ganze Tag und alles was dazugehört, ist das wirklich so selbstverständlich? Selbstverständlich früh aufzustehen und abends wieder ins Bett zu gehen? Für mich nichtmehr.
Ist es auch selbstverständlich, was du geschrieben hast? Essen, Schlafen, Arbeiten, mit Freunden weggehen und feiern? Würden Menschen die fast verhungern - Essen je als Selbstverständlich ansehen? Diese Menschen wären mit Essen überglücklich. Es ist auch wieder nur ein Beispiel, aber ich möchte dir damit zeigen dass es viele "alltägliche" Dinge in unserem Tagesablauf gibt, die uns selbstverständlich geworden sind - aber es sind oft eigentlich Dinge, deren Wert wir zu schätzen verloren haben. Dinge worüber wir glücklich sein sollten, dass wir sie haben.
Du sehnst dich nicht nach der Kindheit zurück, aber nach Heilsamkeit. Kinder empfinden und denken anders. Kinder denken nicht über den Sinn des Lebens nach, sie leben einfach. Und wie schon gesagt - sie empfinden anders. Wieder ein Beispiel - meine Freundin wollte mir einen Berg zeigen wo sie früher Schlittenfahren war - einen "riiiesen" Berg. Wo man lange laufen musste, und lange herunterfahren konnte. Wir fuhren hin, und sie war total enttäuscht. Es war kein riesen Berg, es war ein sehr kleiner Berg. Aber sie hatte es damals als riesen Berg empfunden. Für Kinder (es waren viele dort) war dieser ein sehr großer Berg.
Ich möchte damit nur sagen, dass du die "Heilsamkeit" damals vielleicht ganz anders empfunden hast, als du es heute tust. Hast du damals schon Fernsehen gehört, oder Zeitung gelesen und so wie heute über Amokläufe und ähnliches nachgedacht?
Zu deinem Erlebnis in deiner Schule und dem Mann mit der Maschinenpistole, einerseits kann man natürlich so denken wie du es gerade tust, "was wäre passiert wenn..." oder vielleicht sogar "warum sind Menschen so grausam..."
Aber dann gibt es noch eine andere Denkweise. Zum Beispiel sich zu sagen "Zum Glück ist mir nichts passiert!" "Zum Glück wird diesem Menschen jetzt in der Psychiatrie geholfen." "Gottseidank ist keinem Menschen was passiert."
Verstehst du was ich meine?
Denke nicht nur negativ, sondern sehe auch das Positive. Es gibt immer positive und negative Erlebnisse. Aber man kann aus jedem das ziehen was man auch sehen will. Versuch mehr positiv zu denken - denke um! Das negative zu sehen, das ist - tut mir Leid - wirklich einfach. Aber es ist nicht gut. Es macht unglücklich. Und es lässt zweifeln. Warum, wieso, weshalb, was wäre, usw.
Denke um. Frage nicht alles und jedem nach. Du stehst dir so selbst im Weg.
Menschen können Monster sein, können morden, quälen, vergewaltigen und missbrauchen, schlagen, lügen, usw. - und ich weiss wie schwer es ist und wie weh es tut wenn man Missbraucht wird. Du schreibst dir ist genau das passiert, und es tut mir sehr Leid dass du diese Erfahrung machen musstest, aber das hilft dir nicht weiter. Ich denke letzendlich kannst auch da nur du wieder dir selbst helfen, du musst für dich selbst den Weg finden, damit klarzukommen. Du hast therapeutische Hilfe, und das unterstützt dich. Aber leben - das musst du damit. Ich möchte dir einen Denkanstoß geben. Dir hat ein Mensch sehr weh getan, aber möchtest du ihm wirklich gönnen dass er es geschafft hat, dein ganzes Leben kaputtgemacht zu haben? Ist es das wirklich wert? Das was passiert ist, ist Vergangenheit. Schliesse damit ab, wage einen "Neuanfang". Es ist schwer, sehr schwer - aber weisst du was sehr hilft? Akzeptieren. Vielleicht auch wenn du mir jetzt den Vogel zeigst - einen Missbrauch zu akzeptieren - aber glaub mir, es hilft oft sehr viel. Akzeptieren dass es geschehen ist und damit Abschliessen. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es könnte ein Ziel sein für dich.
Du schreibst noch von einer Arbeitstelle in der man gemobbt wird, oder man sich nicht wohlfühlt. Worüber hast du diese Erfahrung gemacht? Selbst? Ich denke (soweit ich es herauslese) dass du noch in der Schule bist. Hast du diese Erfahrung gehört von anderen? Freunden? Oder Eltern? Aber warum beziehst du das auf dich? Es gehört genauso zum Umdenken dazu. Warum schreibst du nicht "Bestenfalls landet man an einer Arbeitsstelle, in der man sich wohlfühlt"? SOLLTE (!) diese Situation wirklich auftreten - irgendwann - auch dann gibt es Wege heraus. An eine Arbeitstelle wird man nicht gefesselt. Man kann wechseln, eine andere Arbeitsstelle suchen, auch in der heutigen schlechten Situation. Sei optimistisch(er) - und hab Mut.
Du siehst eine Dunkle Welt - aber ich bitte dich, übersehe nicht die kleinen Lichter die leuchten, und wenn sie nur so groß sind wie Glühwürmchen, ganz finster ist die Welt nicht - nur wenn du deine Augen schliesst und nichtsmehr sehen willst...
Fühl dich ganz lieb gedrückt und ich hoffe du verstehst meine Mail und sie hilft dir etwas aus deinem Tief heraus und gibt dir Denkanstöße, oder vielleicht erkennst du nun sogar eins dieser kleinen Lichter?


Shanina