Problem von Anonym - 17 Jahre

Motivationsprobleme (leider nicht die üblichen)

Hey
gleich vorweg: ich erwarte hier keine Antwort auf mein Problem!
Ich würde einfach nur eure Meinung zu meiner aktuellen Situation hören.

Also ich wie schon in meiner Überschrift beschrieben habe ich extreme Motivationsprobleme, allerdings nicht die üblichen d.h kein Durchhänger wegen schlechten Noten oder Mobbing. Ich habe jetzt im letzten Jahr (11. Klasse) nen Notendurchschnitt von 1,9 gehabt ohne auch nur einen Finger zu rühren (laut Freunden bin ich hochbegabt und solle mal ein IQ-Test machen, aber ich halte nicht viel davon Menschen nach einer Zahl zu be- bzw verurteilen, ich empfinde es eher als vorteilhaft nicht viel tun zu müssen^^)...ich bin zwar nicht der beliebteste in der Schule, doch habe ich viele gute Freunde, die mir alles bedeuten und denen ich alles anvertrauen kann. Auch über meine Motivationsprobleme wissen sie schon Bescheid, doch auch sie konnten mir keinen zufriedenstellenden Rat geben und ich wollte einfach noch eine \"zweite\" unabhängige Meinung einholen.

Aber ich schweife ab. Meine Motivationsprobleme beruhen eher auf einem \"Überdruss\". Nicht vom Leben an sich, ich bin keineswegs depressiv, sondern versuche meistens mein Leben so gut es geht zu meistern, doch ich bin es leid etwas zu tun was ich nicht will...dazu gehört das lernen von mir unwichtigen Dingen in der Schule, die ständige Bevormundung durch Autoritäten, seien es Eltern, Lehrer oder der Staat, Erwartungshaltungen von allen nach dem Schema F: Schule, Ausblidung/Studium, Arbeit bis wahrscheinlich bald 70. Freie Entfaltung der Persönlichkeit oder \"andere\" Wege beschreiten ? Fehlanzeige...

Ich will ganz offen sein: Ich verabscheue diese Gesellschaft, die mich in meiner freien Entfaltung extrem behindert. Wohin man schaut gibt es Regeln, Gesetze, Vorschriften vom Staat gegen unseren Willen (Wo ist die Demokratie geblieben??), moralische und soziale Erwartungen der Gesellschaft (Ellenbogen- und Leistungsgesellschaft in der man den Menschen vergisst und nur noch seine Produktivität und sein Kontostand zählt -> purer Materialismus, Menschlichkeit, Weltoffenheit und Individualität adé).

Ich will einfach mein eigenes Ding machen, will frei sein von allen Zwängen und Normen. Ich will einmal nur für den Moment leben können, ohne jeden meiner Schritte genau bedacht zu haben, da mich das in meiner gesellschaftlichen und sozialen \"Karriere\" vielleicht aus der Bahn werfen könnte!

Ich bin bin es leid, ich will einfach nicht mehr, ich will eine Auszeit! Ich würde gern einfach nur mal entspannen ohne Gedanken über eine ungewisse Zukunft in einer mir verabscheuunggswürdigen Gesellschaft, in der man nur etwas ist, wenn man was hast. ich fühle mich einfach nur ohnmächtig, aber als Realist sehe ich ein, dass man allein wohl nichts verändern kann...

Manchmal beneide ich Leute die \"dumm\" sein können d.h einfach nur \"Kopf zu und machen, was man dir sagt, dann gehts dir gut\", wenn nicht wirst du als \"Spinner\" oder \"Freak\" geächtet, der gegen alles Sturm läuft...

Ich könnte jetzt noch stunden- und seitenlang meine Gedanken niederschreiben, aber ich will euch nicht weiter quälen.

Zu guter Letzt noch ein dickes Lob an das ganze KuKa-Team, ihr macht echt ne tolle Arbeit :) Ich glaube man sollte statt gleich zum Psychiater oder Psychologen zu rennen, lieber zu euch \"gehen\", da ist man wohl deutlich besser aufgehoben...

Just my two cents about life :)
Tim

Marie Anwort von Marie

Lieber Tim,

wenn ich sowas lese, freue ich mich immer wieder, hier beim KuKa zu arbeiten. Deine Gedankengänge kann ich so gut nachvollziehen! Sie erinnern mich sehr stark an meine eigene Abizeit, da war es bei mir auch besonders schlimm. Jeden Tag zur Schule zu rennen, immer zu wissen, dass man sich die wenigen sinnvollen Sachen, die man da lernt, auch in einer Viertelstunde selbst hätte beibringen können... und sich dann immer noch von irgendwelchen "Autoritäten" bevormunden lassen zu müssen, deren Horizont nicht mal bis zum eigenen Tellerrand reicht. Ja, es hat durchaus Nachteile, Dinge kritisch zu hinterfragen und sich Gedanken zu machen, und manchmal wäre ich auch liebend gern einfach "dumm" gewesen.

Das Problem ist: Sobald du mit anderen Menschen zusammenlebst, musst du dich bestimmten Regeln unterwerfen. Ohne Regeln, ohne Gesetze kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Die Gesetze, die du verabscheust, weil sie dich in deiner freien Entfaltung behindern (zugegeben, viele davon sind wirklich Irrsinn), dienen auf der anderen Seite auch deinem Schutz. Stell dir mal vor, es würde z.B. einfach nur das "Recht des Stärkeren" gelten - dann könnte jeder, der dir körperlich überlegen ist und gerade einen schlechten Tag hat, mit dir einfach machen, was er will - und das würdest du wahrscheinlich auch nicht wollen, oder?
Wenn du komplett frei sein willst von Regeln, Zwängen und Normen, dann musst du komplett außerhalb der Gesellschaft leben, sprich: dir irgendwo ein Fleckchen Erde suchen, das du allein bewohnst (oder auf dem du der "Bestimmer" bist und sich alle anderen deinen Regeln unterwerfen, aber daran sind bekanntermaßen schon sehr viele Menschen gescheitert).
Mir persönlich wäre das auf Dauer zu einsam und auch zu langweilig, aber wenn du sicher bist, in dieser Gesellschaft nicht leben zu können (und in anderen Gesellschaften gibt es auch genügend Zwänge, denen du dich unterwerfen müsstest), dann ist das wohl der einzige Weg - zumindest ist mir noch kein besserer eingefallen. Vielleicht kannst du das ja einfach mal ein paar Wochen oder Monate lang ausprobieren (irgendwo hinfahren, nur ein Zelt und das Nötigste mitnehmen, kaum Kontakt zu anderen Menschen) und schauen, ob das was für dich wäre. (Zu empfehlen an dieser Stelle: die Werke von H.D. Thoreau - v.a. "Walden", und "Civil Disobedience" könnte dir auch gefallen - aber das nur am Rande).

Die Kompromisslösung wäre, dass du in der Gesellschaft bleibst, dir aber zumindest einen Beruf suchst, in dem du relativ viel Eigenverantwortung und Freiraum hast (z.B. als Selbstständiger). Das macht es deutlich erträglicher.

Die gute Nachricht ist: falls du dich für ein Studium entscheidest, fallen viele Zwänge, die dich jetzt an der Schule stören, erstmal weg (ist zumindest meine Erfahrung, nachdem ich jetzt mein erstes Studium hinter mir habe). Du kannst im Studium deutlich freier entscheiden, wie du dein Leben gestaltest, und die Verantwortung liegt in erster Linie bei dir selbst und nicht bei irgendwelchen "Autoritäten", die entscheiden, was "gut" für dich ist.

Noch ein paar Worte zur "Gesellschaft", die du verabscheust: Die "Gesellschaft" ist ja nicht irgendeine unsichtbare Macht oder Institution, gegen die du arbeiten musst. Die Gesellschaft besteht aus Menschen, von denen einige so denken, wie du es beschrieben hast - aber es gibt auch viele, für die materielle Dinge zweitrangig sind, die den Wert eines Menschen nicht an seinem Kontostand bemessen und denen so etwas wie Menschlichkeit wichtig ist. Du kannst dich bewusst dafür entscheiden, dich mit solchen Menschen zu umgeben.

Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, dass du deinen Weg findest! Wenn du magst, kannst du auch gern nochmal schreiben.

PS: Als Psychologin muss ich jetzt doch mal für meine "Zunft" Partei ergreifen: Ich würde mir manchmal wünschen, dass einige der Menschen, die uns hier schreiben, etwas eher zum Psychologen gegangen wären - wenn sie sich an uns wenden, scheint es mir nämlich manchmal schon fast zu spät zu sein. Die wenigsten "rennen da gleich hin", sobald ein Problem auftaucht. Und bei wirklich schlimmen, dauerhaften Problemen ist der Kummerkasten auch kein Ersatz für eine Therapie. Ich weiß, es gibt da auch viele "schwarze Schafe", aber ich würde mich trotzdem freuen, wenn du deine Meinung über Therapeuten vielleicht nochmal überdenken könntest :-)

Liebe Grüße,
Marie