Problem von Daniel - 21 Jahre

Selbstwahrnehmung

Hey..
Ich habe seit der Grundschulzeit Übergewicht. Erst ab der 5. Klasse wurde das jedoch ein wirkliches Problem, als Ausgrenzung und Spott zur Regel wurden. Ich verlor an Freunden und die wenigen die ich hatte, sah ich auch nur sporadisch (1-2 mal pro Jahr) außerhalb der Schule. Ich bin nie zu Parties eingalden worden, war nie in Clubs, um zu "Feiern" und frage mich bis heute, wie das eigentlich geht, d.h. wie man sich verhalten soll. Mein Leben bestand aus der Schule, Familie und Literatur. Ich habe immer wieder versucht abzunehmen und das auch mit zwischenzeitigem Erfolg, aber hinterher meist sogar noch mehr zugenommen. Mit jedem Versuch brannte sich nur noch mehr in mein Gedächtnis ein, dass Abnehmen der Schlüssel aller Probleme war. Dass dem nicht so war, wurde mir erst viel später klar. Dass ich chronisch depressiv war, mich selbst sozial isoliert habe und aus diesen Gründen allein schon nicht hätte abnehmen können, wurde mir wesentlich später erst klar.

In der Oberstufe habe ich dann gemerkt, wie viel Zeit ich vertan habe. Meine kleine Welt - Bücher, Fernsehen, Schule - erschien mir auf einmal sinnlos. Ich hatte meine Jugend verlebt, ohne auch nur einmal in einer Disko gewesen zu sein, hatte nie eine Beziehung gehabt, war nie auf Parties gewesen; kurzum ich habe nahezu alle Freuden verpasst, die ein Mensch in seiner Jugend haben kann.

Heute stelle ich mir die Frage, Warum? Und ich weiß, dass ich mir selbst viele dieser Chancen verbaut habe. Ich habe mich selbst isoliert, um mich zu schützen. Meine Idee einer Lösung war immer, zuerst abzunehmen, dann Freunde zu finden, dann eine Beziehung einzugehen.

An der Uni habe ich das erste mal erlebt, dass Leute mich nicht nur auf mein Aussehen reduziert haben. Ich habe Freunde gefunden, die mich so mögen wie ich bin. Doch noch immer glaube ich, ohne abzunehmen nie einen festen Freund zu finden. Ich glaube immer noch, kein Recht auf all das zu haben, weil ich aussehe wie ich aussehe. Und auch andere Personen reduziere ich bis zu einem gewissen Grad auf ihr Körpergewicht. Ich habe regelrecht das Gefühl besessen zu sein von dem Fitnesswahn, obwohl ich selbst immer daran gescheitert bin. Ich kann in meinem Inneren nicht überwinden, dass es anderen nicht so erging. Ich hoffe inständig, dass ich die "Narben", die mir durch ständige Ausgrenzung nicht erspart blieben, nicht auf ewig behalten muss; dass ich irgendwann einmal aufhören werde zu glauben, dass jeder normalgewichtige Mensch doch eigentlich keine Probleme haben kann, dass jeder normalgewichtige Mensch doch eigentlich zufrieden sein müsste. Ich weiß, wie anmaßend diese Gedanken sind, wie arrogant es klingen muss, hinter jedem psychischen Problem ein Problem mit dem eigenen Körper zu sehen und zu suchen. Gibt es irgendetwas, womit ich diesen Gedanken aktiv entgegentreten kann. Ich weiß, dass man Selbstvertrauen nur dadurch gewinnt, indem man sich seinen Ängsten stellt. Aber wie schafft man es, dass die eigene Selbstwahrnehmung nicht ständig auf den Gedanken hinausläuft: Schlank = Schön; Übergewicht = Hässlich. Mich hemmt das, Neues auszuprobieren und ich habe ständig Angst vor dem Urteil andere Menschen. Ich möchte endlich lernen, meinen Körper zu akzeptieren, wenn ich ihn schon nicht ändern kann!

Florian Anwort von Florian

Hallo Daniel

Wie sollte ein Junge, der sich ständig in der Schule von anderen Schülern anhören durfte dick und daher minderwertig zu sein, lernen sein Selbstwert NICHT durch sein Gewicht und sein Aussehen zu definieren? Diese Vergangenheit verfolgt Dich seit der Grundschule und zährt immer und immer wieder an Deinen Nerven und sorgt dafür, dass Du Dich selbst minderwertig fühlst, weil Du übergewichtig bist. Daher glaubst Du auch heute noch daran, dass Schönheit und ein gesundes Selbstwertgefühl nur ein Resultat eines normalen Gewichts ist, ungeachtet dessen, dass Dich auch Leute respektieren und annehmen können ganz gleich wie viele Kilos Deinen Körper zieren.

Diesen Umstand ignorierst Du aufgrund Deiner Erfahrungen aus der Kindheit, dass Liebe und Zuneigung nur den Normalgewichtigen, den Schönen und den Beliebten gegeben wird. Du lebst somit auch weiterhin einer Vorstellung aus Deiner Vergangenheit. Einer Zeit in der Du jetzt nicht mehr handeln kannst. Das einzige was Du mit Deiner Erfahrung und Deinen Vorstellungne aus der Vergangenheit machen kannst, ist es Dir Fragen darüber zu stellen, was den gewesen wäre, wenn Du vielleicht schlank und vielleicht beliebt gewesen wärst.

Dieses Denken sorgt dafür, dass Du in diesem Vergangenheitsdenken und dem Denken an das "Was wäre wenn..." verbleibst und das Hier und Jetzt unsinnig weiter vernachlässigst. Da die Vergangenheit nun aber bereits geschehen ist und nicht wiederholt werden kann, ist jegliches "Was wäre wenn..."-Denken absolut nutzlos. Das frustet umso mehr und lässt Dich lieber in Deine Idealvorstellung versinken, als Dich darauf zu konzentrieren was Du wirklich jetzt tun kannst.
Wenn Du nun in der realen Welt, in der eben nicht alles nach der Idealvorstellung abläuft, ankommst, bist Du unzufrieden. Unzufrieden mit Dir selbst und Deinem Gewicht. Unzufrieden mit Deiner Vergangenheit und mit Deiner Gegenwart. Diese Unzufriedenheit sorgt jedoch für ein Hungergefühl und dieser sorgt für die natürliche Reaktion: Du isst und zwar über Deinen eigentlichen Energiebedarf hinweg.

Du bewegst Dich also insgesamt in einem Teufelkreis aus dem Du meinst nicht entkommen zu können. Doch das ist nicht richtig, Du kannst diesen durchbrechen und dadurch nicht nur Zufriedenheit sondern auch noch die Möglichkeit ernten, doch noch etwas schlanker zu werden. Das einzigste was Du dazu tun musst, ist einfacher gesagt als getan: Du musst Dich im Hier und Jetzt befinden.
Gemeint ist damit, dass Du Deine Gedanken nicht länger in die Vergangenheit oder die sorgvolle Zukunft lenkst, sondern Dich einzig darauf konzentrierst auf den gerade stattfindenden Moment. In diesem Moment existiert die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Es ist fast so als ob Du diesen Moment nur beobachtest, Du nimmst wahr was passiert um Dich herum und in Dir, Du bemerkst wie Du selbst handelst ohne Dich anzustrengen. Dein Körper macht alles was er tun soll automatisch ohne Dein zutun.

Dies erreichst Du dadurch Dich selbst etwas zurückzunehmen und auf Deine Reflexe, Dein Unterbewusstsein zu vertrauen. Du kannst Deine Aufmerksamkeit auf verschiedene Tätigkeiten in Deinen Körper konzentrieren, wie Deinem Atem, Deinen Herzschlag oder auch die Bewegung einzelner Muskel. Du kannst Deine Aufmerksamkeit auch auf etwas außerhalb Deines Körpers richten, wie etwa das was Du gerade für Dein Studium lernen willst, das was Du gerade schreiben willst oder auch nur das Beobachten eines Tieres oder des Straßenverkehrs.
Lenkst Du Dein Bewusstsein auf solche Dinge, bist Du im hier und jetzt und handelst so wie es im hier und jetzt wichtig ist. Merkst Du, dass Du in Gedanken abtrifftest z.B. in die Vergangenheit, so lenke Deine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gegenwärtiges. So bleibst Du im Hier und Jetzt. Und solltest Du doch mal länger abtrifften und Dir dessen Bewusst werden, mache Dir keine Sorgen daraus und kehre zurück in den aktuellen Moment.


Mit dieser Methode schafft Du es, bereits in der ersten Minute Deine Unzufriedenheit zu zügeln und Zufriedenheit zu verspüren. Du kannst zudem Deinen Körper dabei beobachten wie er selbstständig agiert und sogar Dein Gewicht langsam und stetig auf das Maß reduziert, was Dein Körper selbst für richtig hält. Du brauchst dabei nichts zu tun, außer im aktuellen Moment zu leben und die Vergangenheit hinter Dir zu lassen.
Probiere es ein paar Wochen lang aus. Es wird Dir nicht schaden.


Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute


Gruß

Florian