Problem von Anonym - 49 Jahre

Ich kann nicht mehr....

Wie ich sehe, schicken hier eher Personen jüngeren Alters ihre Probleme ein.... Dennoch möchte ich auch hier mein Herz ausschütten...

Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht wo ich anfangen soll.... ich schreibe einfach mal drauf los.
Wie man sieht, bin ich 49 Jahre und Facharzt für Neurologie und Neurochirurgie an einem Universitätsklinikum.
Die Probleme fangen schon in meinem Privatleben an. Da auch mein Berufsfeld nicht vom Fachkräftemangel verschont geblieben ist, fehlen uns, je nach Bereich und Station, 3 bis 4 Ärzte. Daraus resultiert das wir Schichten von bis zu 20 - 36 Stunden haben (Die Regel sind meistens 14 bis 16 Stunden!). Daraus folgt das ich quasi mehr auf der Arbeit als zuhause bin. Ich sehe wie genervt meine Frau von meinen langen Arbeitszeiten ist, jedoch schluckt sie ihren Frust (noch) runter.
Es ist zwischen uns eher ein Nebeneinander als ein Miteinander. Wenn ich nachhause komme, ist sie entweder schon im Bett oder ist selber auf der Arbeit. Zeit für Dinge, die man in einer Ehe eben tut, ist daher nicht da.
Und unsere gemeinsame Zeit besteht meist aus Abendessen und eventuell abends Fernsehen gucken. Natürlich tut mir meine Frau unendlich leid und es geht von meiner Seite aus sogar so weit das ich Verständnis dafür hätte wenn sie mir fremd geht oder sich gleich einen anderen Lebenspartner sucht.

Ich bereue es auch das ich so wenig Zeit für meinen Sohn habe... Er ist heute zwar schon 23 Jahre, hat eine abgeschlossene Berufsausbildung und meint das es ihn nie gestört hat, das ich eher wenig Zeit mit ihm verbracht habe.... die einzige gemeinsame Zeit was und ist die, wenn ich mal im Sommer und Winter Urlaub habe.... Unter der Woche habe ich eigentlich gar keine Zeit für private Aktivitäten und da ich in der Regel eine 6 Tage/Woche habe, ist meine Freizeit recht überschaubar. So kommt es das längere Ausflüge, gemeinsame Freizeitaktivitäten etc. praktisch nur dann ausgeführt werden kann, wenn ich Urlaub habe.

Zuhause wartet aber meist auch eine Menge Arbeit.... ich nehme Arbeit mit nachhause und muss hier den Papierkram erledigen, wofür ich in meinem Büro/Praxis keine Zeit habe.

Auf der Arbeit lastet natürlich ein ungeheurer Druck auf mich... Operationen, Bürokram, Visiten, Teamgespräche, Patientengespräche, Vorbereitungen und und und...
Dazu der Druck, während den Operationen keine Fehler zu machen (man steht dann quasi mit einem Bein in den Knast), dazu das etwas rauhe Arbeitsklima weil natürlich alle anderen Kollegen auch gereizt und gestresst sind.
Aber wie soll man noch konzentriert und ruhig arbeiten, wenn man dauernd unter Stress steht und meist noch müde ist.
Die Arbeit als Chirurg ähnelt manchmal wirklich Akkordarbeit am Fließband -
Von einem OP -Saal in den nächsten.
Dazu halt der ganze Papierkram (Bürokratie, Verwaltungskram, Arztbriefe etc.).

Auch wenn ich dann mal Urlaub oder Freizeit habe, kann ich nicht abschalten. Ich komme von der Arbeit nachhause, lege mich ins Bett und will schlafen.... Aber dann kommen all die Dinge hoch, die dann wie ein Karussell in meinem Kopf umherkreisen.... Der Arztbrief muss bis übermorgen geschrieben werden, der Bericht muss morgen fertig gestellt werden, die Akte muss durchgearbeitet werden, der Patient muss operiert werden. Diese Gedanken lassen mich dann meist nicht richtig einschlafen...
Ich fühle mich dann am nächsten Tag wie gerädert weil ich vielleicht 4 oder 5 Stunden geschlafen habe und trinke haufenweise Kaffee, Kaffee, Kaffee.

Auch als ich letzes Jahr im Sommer mit meiner Familie für 3 Wochen nach Australien geflogen bin, lag ich am Strand, saß ich im Restaurants, bin spazieren gegangen - und habe dennoch nur an die Arbeit gedacht... was erwartet mich wenn ich wieder zur Arbeit komme, was muss ich alles erledigen, was ist passiert, habe ich Schuld an dem was passiert ist und und und, ich bekomme dann manchmal sogar Angst und kann dann erst recht nicht schlafen oder abschalten! Ich fühle mich echt fertig, bin gestresst, habe oft Streit mit meiner Frau, ich bin dauernd im Stress und stehe manchmal echt kurz davor alles hinzuschmeißen!

Wenn ich dann zu Besuch bei meinen Eltern bin (meist kommen meine Brüder und deren Verwandten auch und wir veranstalten quasi ein Familientreff), jammern alle über ihre Probleme... der eine will das Rauchen aufhören, der andere muss hin und wieder mal eine Überstunde machen, der andere hat ein Kratzer im Auto, die andere muss ja so viel im Haushalt machen - und wenn ich dann mal anfange zu "jammern" heißt es sofort von allen "Du hast gerade Grund zu jammern, Du hast doch ´n geilen Arztjob und verdienst viel Geld und hast doch ausgesorgt". Es ist dann einfach diese Ignoranz die mich aufregt! Von denen würde doch kein einziger auch nur einen meiner Arbeitstage überstehen!

Ich weiß einfach nicht mehr weiter, es ist so als würde ich in einem großen, tiefen Loch mit glatten Wänden stehen, aus dem ich einfach nicht mehr herauskomme.

Ich würde mich sehr freuen wenn Sie mein Problem bearbeiten und bedanke mich schon mal recht herzlich!

MichaelaS Anwort von MichaelaS

Lieber Unbekannter,

es freut mich sehr, dass du dich mit deinen Sorgen an uns gewandt hast. Das Alter spielt dabei wirklich keine Rolle, unser Kummerkasten ist für alle offen und jeder kann einmal in einer Lebensphase stecken, in der er oder sie selbst nicht mehr weiter weiß.

Der Beruf des Arztes ist tatsächlich ein Beruf, der eine enorme Belastung bedeuten kann, was leider oft übersehen wird. Wie du es selbst in deiner Familie erlebst, sehen viele dabei in erster Linie die Geldkomponente: ein Arzt verdient viel Geld, also muss das doch ein super Job sein. Dabei wird leider übersehen, unter welchem Druck man als Arzt oft steht und welche Opfer man für seinen Beruf bringen muss.

Die Opfer, die du bringst, sind sehr groß: Verzicht auf ein erfülltes Privat- und Familienleben, auf ausreichend Freizeit, vor allem aber auch auf Zeit, in der der Beruf einfach mal zur Seite geschoben werden kann. Dass dich die Arbeit oftmals auch im Urlaub so stark beschäftigt und du kaum davon Abstand nehmen kannst, zeigt, wie sehr dein Beruf mittlerweile dein Leben dominiert.

Leider ist es nicht ganz so einfach, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Du merkst, dass sich etwas in deinem Berufsleben verbessern müsste, sodass sich auch dein Privatleben wieder positiv entwickeln kann. Andererseits hast du aber als Arzt nicht so viele Möglichkeiten, deine Arbeitszeiten selbst zu beeinflussen, wie es vielleicht andere Arbeitnehmer haben.

Fest steht aber, dass es wichtig ist, dass sich etwas für dich verändert. Ich habe von einer Studie gelesen, in der herausgefunden wurde, dass besonders Ärzte häufig von Burn-Out betroffen sind. Wenn ich mir deinen Text durchlese, bekommt man einen guten Eindruck davon, warum das so ist: immer an die Arbeit gefesselt sein, der unerfüllte Wunsch nach mehr Zeit für die Familie und große Verantwortung in der Arbeit, die belastend sein kann.

Ich möchte dir daher raten, einmal die Möglichkeiten durchzudenken, die dir offen stehen, um etwas an deiner beruflichen Situation zu verändern. Ich weiß leider nicht, welche Optionen man als Facharzt für Neurologie und Neurochirurgie hat, sich beruflich zu verändern. Aber ein guter Freund meiner Familie ist zum Beispiel auch Arzt. Im Krankenhaus musste er lange Zeit unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Jetzt hat er sich selbstständig gemacht, kann sich seine Arbeitszeiten besser einteilen und hat dadurch mehr Zeit für seine Familie und für Freizeitaktivitäten. Vielleicht steht dir diese Möglichkeit auch offen?
Alternativ könntest du auch in Erwägung ziehen, dich nach einem Arbeitsplatzwechseln zu einer anderen Klinik umzusehen. Dass Ärzte oft anstrengende Arbeitszeiten haben, wird wohl an jeder Klinik so sein. Vielleicht gibt es aber trotzdem Unterschiede zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen und du hättest an einem anderen Arbeitsplatz mehr Chancen, deinen Arbeitsalltag familienfreundlicher zu gestalten.

Eine weitere Idee meinerseits wäre noch, ein vertrautest Gespräch mit deinem Vorgesetzten zu führen. Wenn du an deiner beruflichen Situation zu zerbrechen drohst, kann dieser vielleicht dabei helfen, eine Lösung zu finden, um dich im Job mehr zu entlasten. Ich denke, jeder Arbeitgeber ist daran interessiert, dass sich Mitglieder des Unternehmens, in diesem Fall der Klinik, wohl fühlen und nicht an ihrem Beruf kaputt gehen.

Lieber Unbekannter, ich wünsche dir sehr, dass du eine Möglichkeit findest, etwas an deiner beruflichen Situation zu verändern und somit besser entlastet wirst. Wenn du tatsächlich das Gefühl hast, für ein Burn-Out gefährdet zu sein, kann es auch weiterhelfen, sich einmal einen psychologischen Rat einzuholen.

Ich wünsche dir auf jeden Fall alles Gute!

Alles Liebe,
Michaela