Problem von Anonym - 15 Jahre

Ich komm nicht mehr klar

Moin
Erstmal Dickes lob an eure Arbeit find ich toll was ihr hier ehrenamtlich leistet
Nun zu meinem problem:
Bin 15 j und besuche die 9 klasse eines gymnasiums soweit so gut...
Zuhause habe ich starke probleme mit meinem Bruder(19). Er ist dauernd aggresiv gegenüber mir aber wir kriegen ihn einfach nicht aus dem haus raus. Er meint dauernd ich wäre schwul; das schlimme ist er hat recht. Bzw was heisst schlimm... ich habe mich damit abgefunden und naja habs bis jetzt nur meiner besten freundin erzählt weil ich mir die Reaktionen von anderen gar nicht ausmalen will.
Auch meiner familie kann/will ich es nicht sagen weil es einfach eine zu große enttäuschung für sie wäre. Ich denke nicht das sie mich hassen würden aber mit sowas umzugehen ist nicht grade leicht
Nun hab ich die frage: was ist der perfekte zeitpunkt mich zu outen oder kann man es wirklich ewig verheimlichen?
Danke im Vorraus
Lg

Marco Anwort von Marco

Lieber Unbekannter,

zuerst einmal viele lieben Dank für Dein Lob. So etwas hören wir immer sehr gerne! :) Ich freue mich, dass auch Du so viel Vertrauen in den Kummerkasten setzt, dass Du uns Dein "Problem" geschrieben und anvertraut hast. Ich werde Dir sehr gerne ein paar persönliche Gedanken zu Deiner Anfrage schreiben.

Wie ich Deinem Text entnehmen kann, hast Du im Moment zwei Probleme, mit denen Du nicht ganz fertig wirst bzw. nicht weiterweißt. Das wäre zum Ersten Dein Bruder, den Ihr "einfach nicht aus dem Haus raus kriegt." und zum Zweiten Dein bevorstehendes Outing bezüglich Deiner Homosexualität. Ich kann gut verstehen, dass Dich beide genannten Situationen bedrücken. Deshalb ist es umso wichtiger dieses "Bedrücken" zu bekämpfen bzw. loszulassen, um die Schönheit des Lebens wieder mehr genießen zu können. Ich denke beide Situationen sind nicht von heute auf morgen einfach "in Luft aufgelöst", aber Du hast den ersten Schritt in die richtige Richtung bereits getan, und zwar indem Du Dich damit auseinandersetzt und uns geschrieben hast. Jetzt ist also Zeit für den zweiten Schritt!

Nun möchte ich aber konkret auf Deine Situation eingehen und fange mit Deinem "Bruder-Problem" an:
So wie Du schreibst, scheint Dein Bruder gerade tatsächlich nicht sonderlich "nett" zu Dir zu sein. Aber Deinen Satz im Text "wir kriegen ihn einfach nicht aus dem Haus raus" finde ich trotzdem irgendwie sehr unpassend, wenn man von seiner Familie spricht. Dein Bruder ist schließlich DEIN Bruder! Dein Bruder ist schließlich der Sohn DEINER Mutter! Dein Bruder ist schließlich der Sohn DEINES Vaters! Ihr seid EINE Familie, Ihr gehört zusammen! Da kann man nicht einfach ein Familienmitglied sozusagen "abschieben wollen" (so hört es sich nämlich in Deinem Text an!), nur weil er gerade nicht so "spurt" wie er sollte. Das klingt so, als wärt Ihr froh, wenn er nicht mehr da wäre oder zumindest nicht mehr in Eurer Nähe! Und das ist doch sicherlich nicht so, oder?
Denk mal darüber nach, was "Geschwisterliebe" für Dich bedeutet (Damit meine ich keine sexuelle Liebe, sondern eher "freundschaftlicher Art"). Dass Dein Bruder diese "Geschwisterliebe" mit seinem derzeitigen Verhalten nicht zeigt, steht außer Frage, aber Du zeigst sie mit obiger Aussage genauso wenig! Damit will ich Dich nicht anklagen oder verletzen, aber zu einer funktionierenden Geschwisterbeziehung gehören eben immer zwei dazu!

Ich denke, es kann helfen, sich über die Gründe des Verhaltens Deines Bruders auseinanderzusetzen, sich also zu fragen: "Warum handelt er so? Warum behandelt er Dich so?" Du schreibst, er ist dauernd aggressiv. Hier gibt es (mindestens) zwei mögliche Gründe: Es ist "angeboren", sprich es liegt einfach an seiner Art; oder er hat es durch eigene Erfahrungen bzw. Erlebnisse "erlernt", sprich seine Umwelt (z. B. Erziehung, Freunde, gesellschaftliche Einflüsse, ...) ist daran Schuld. Bei beiden Gründen gibt es im Prinzip nur eine hilfreiche Lösung: Man muss Deinem Bruder neue (Lebens-)Erfahrungen geben, so dass es sein Verhalten ändert bzw. ändern will. Denn, wie es bei uns Menschen eben immer ist: Wir lernen nur aus eigenen Erlebnissen und eigenen Fehlern, oder aber durch das Vorbild (bzw. Vorleben) anderer Menschen; und dieses Vorbild kann eben positiv oder auch negativ sein. Was bedeutet das also konkret für Dich? Behandle Deinen Bruder so, wie Du von ihm gerne behandelt werden würdest. Und gib ihm nicht das zurück, was er Dir vielleicht "böses" angetan hat! Nein, gib ihm genau das Gegenteil zurück! Und zwar das, dass Du ihn als Deinen Bruder akzeptierst (so wie er ist), respektierst und lieb hast. Das ist doch viel schöner, als dauernd in dieser "angespannten" Atmosphäre zu leben, oder?
Ich denke, der erste Schritt von Dir, beginnt ganz tief in Dir drinnen, und zwar bei Deinen Gedanken. Ich will Dir nicht Deine Gedanken "manipulieren", nein, Du sollst Dir darüber selbst Deine eigenen Gedanken machen, aber frage Dich doch mal: "Will ich wirklich, dass mein Bruder aus unserem Haus auszieht oder hätte ich ihn lieber gerne noch manchmal bei mir?"

Dass Geschwister sich nicht immer blendend verstehen, weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut. Aber wenn man sich bewusst macht, dass man nur zusammen eine FAMILIE ist, kann man die ganze Sache oft schon etwas entspannter sehen. Vielleicht kannst Du ja in einer ruhigen Minute einmal ganz offen mit Deinem Bruder über Eure "Beziehung" sprechen. Ich denke, wenn beide den Wunsch nach einer "Verbesserung" dieser Beziehung haben und Ihr auch beide kompromissbereit seid, steht dem nicht mehr entgegen. Sicherlich habt Ihr doch auch gemeinsame Interessen, oder? Trotz Eurem Altersunterschied gibt es bestimmt viele Hobbys, Freizeitaktivitäten und Ausgehorte, die Ihr zusammen erleben könnt, wenn Ihr es beide wollt. Traue Dich - denn was hast Du dabei zu verlieren? Eigentlich nichts, aber gewinnen kannst Du ganz viel: Ein "harmonisches" Zusammenleben mit Deinem Bruder! Und das ist wirklich Gold wert, glaube mir! Ich wünsche Dir alles Gute bei Deinen Versuchen, die "Probleme" mit Deinem Bruder schrittweise zu minimieren.

Das Zweite, was Dich momentan bedrückt, ist Dein eventuelles Outing wegen Deiner Homosexualität. Als erstes möchte ich Dir an dieser Stelle sagen, dass ich es gut finde, dass Du Deine Art zu lieben akzeptiert hast und dazu stehst. Viele schwule Männer reden sich ein, sich das nur einzubilden und versuchen es deshalb zu verdrängen! Lieber Unbekannter, es zeigt wirklich Mut, Reife und Stärke von Dir, dass Du zu Dir selbst ehrlich bist und Dir nichts falsches vormachst! Du bist Du, und deshalb weißt Du auch am Besten, was Dir gefällt, was Dir gut tut, was Deine Interessen sind und auch, ob Du Dich eher zu Frau oder zu Mann hingezogen fühlst. Leider gibt es auch in der heutigen Zeit und Gesellschaft noch viele Menschen, die Homosexualität verurteilen und Schwule und Lesben diskriminieren und deren Leben somit ein Stück weit schwerer machen. Aber das soll Dich nicht entmutigen! Anfeindungen zu erleben gehört leider zum Leben eines jeden Menschen dazu, und ein weiser Spruch hierzu lautet: "Ich danke meinen Feinden, denn die haben mich stark gemacht!" Vielleicht hilft diese Aussage ja auch Dir etwas, wenn Dich mal jemand komisch anschaut oder beschimpft: Bleibe Du selbst; und bei dem zweiten komischen Blick oder der zweiten Beleidigung, macht es Dir schon etwas weniger aus, Du bist also schon "stärker" geworden!

Lieber Unbekannter, Du fragst in Deinem Text, ob man das wirklich ewig verheimlichen kann. Meine Antwort hierzu ist ganz einfach: Ja, kann man! Aber glücklich werden wirst Du dabei nicht!!! Du könntest ja nie eine Liebesbeziehung zu einem Mann aufbauen, und die bedingungslose Liebe des eigenen Partners gibt es woanders nirgends zu spüren! Du wärst Dein ganzes Leben lang eingeschränkt, könntest nicht das leben, wofür Du stehst und was Du bist! Nein, ohne ein Outing wirst Du definitiv kein glückliches und zufriedendes Leben führen können!
Aber trotzdem sollst Du nichts überstürzen! Lass Dir ruhig Zeit, so viel Zeit wie Du brauchst. Gerade im Teenie-Alter ist man sich seiner sexuellen Orientierung oft nicht ganz sicher. Ich weiß nicht, wie weit Du hier schon stehst, und wie "sicher" Du Dir bist, schwul zu sein. Das ist ja nichts schlimmes, aber da ein Outing nicht leicht für Dich sein wird, solltest Du Dir schon klar sein, dass das nicht nur eine "Phase" von Dir ist.

"Wann ist der perfekte Zeitpunkt mich zu outen?" Lieber Schreiber, ich habe gelernt mit dem Wort "perfekt" sehr vorsichtig umzugehen, weil es fast nie den 100-%-igen Perfektionismus gibt. Deshalb formuliere ich Deine Frage ein bisschen anders: "Wann ist ein guter Zeitpunkt mich zu outen?"
Ich denke, da sollte auf jeden Fall an erster Stelle stehen: WENN DU SOWEIT BIST! Denn wenn Du Dich noch nicht "offenbaren" willst, dann ist der Zeitpunkt des Outings jetzt auch noch nicht empfehlenswert. Erst wenn Du Dir sicher bist Deine Art zu lieben öffentlich zu machen, halte ich es für passend Dich zu outen. Ansonsten würdest Du Dir dauernd selbst im Weg stehen.
Wenn Du also soweit bist und Dich zu einem Outing entschieden hast, würde ich Dir raten bei engen Bezugs- bzw. Vertrauenspersonen anzufangen, also am besten bei Deiner Familie, oder auch erstmal nur bei Deinen Eltern. Hab keine Angst - sie werden vielleicht überrascht sein und sich erstmal Sorgen machen, aber Du bist ihr geliebter Sohn. Und (so gut wie) alle Eltern unterstützen ihre Kinder nach besten Kräften, ganz egal ob sie hetero- oder homosexuell sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dein Outing Euer Verhältnis beeinträchtigt. Klar, da gehört viel Mut von Dir dazu, aber letztendlich wirst Du froh sein, nicht weiter in "Geheimniskrämerei" leben zu müssen.

Ein guter Zeitpunkt dazu wäre eine ruhige und entspannte Zeitspanne, vielleicht am Sonntagmorgen. Da ist man ausgeschlafen, gut gelaunt, kommt (oder geht) nicht gestresst von der Arbeit, und man hat in der Regel auch Zeit. Setze Dich mit Deinen Eltern zusammen und bringe es am besten gleich auf den Punkt ohne langes "Herumdrucksen". Deine Eltern werden sicherlich noch Fragen haben, deshalb sollte es nicht zwischen Tür und Angel passieren, sondern Du solltest einen Zeitpunkt wählen, wo auch genügend Zeit vorhanden ist. Fragen, die kommen könnten, sind zum Beispiel "Warum?" oder "Woher weißt Du das?" oder "Wie stellst Du Dir da Deine Zukunft vor?" oder "Hast Du schon Erfahrungen im Schwulsein?" Wenn Du Dir hierzu schon vorher Gedanken machst, wird es Dir im direkten Gespräch leichter fallen eine Antwort zu finden. (Denn Du musst schließlich auch selbst eine Antwort darauf wissen!) Deine Eltern haben nämlich schon das Recht ihre Fragen beantwortet zu bekommen, zumindest die meisten. Du darfst auch Dinge für Dich behalten, denn obwohl sie Deine Eltern sind, die Dich groß gezogen haben, musst Du Ihnen nicht alles auf die Nase binden. Nein, auch Du hast eine Privatsphäre!

Ich weiß nicht, wie Deine Eltern reagieren werden. Ich wünsche Dir auf jeden Fall alles Gute bei Deinem Gespräch. Und auch wenn es vielleicht erstmal nicht so läuft wie Du es Dir vorstellst oder wünschst, lass Deinen Eltern Zeit sich damit auseinanderzusetzen und lass ihnen ihre eigene Meinung dazu bilden. Auch sie sollen (wie Du) nichts überstürzen!

So, lieber Unbekannter, ich hoffe ich konnte Dir zu Deinen beiden Problemen weiterhelfen und es waren ein paar gute Ratschläge und Gedanken für Dich dabei. Ich wünsche Dir alles Gute und viel Kraft auf Deinem weiteren Lebensweg! Vergiß nie: Sei Du selbst! Lebe und liebe so wie Du bist und willst! Und nicht unbedingt so wie es vielleicht andere erwarten! Es ist Dein Leben - Es gehört nur Dir, und nicht den Anderen!
Vielen Dank, dass Du meine Antwort gelesen hast. Du darfst Dich gerne wieder melden, wenn Du bei einem Problem nicht weiterkommst.

Viele liebe Grüße

Marco