Problem von Sandra - 23 Jahre

Ich will meine Familie nicht mehr sehen - bin ich deswegen kalt?

Hallo ihr Lieben!
Zunächst mal zu mir generell: Ich bin seit 4 Jahren Studentin und lebe seit einem 3/4 Jahr mit meinem Freund zusammen. Meine Eltern leben in der Nähe meines Studienortes, weshalb sie wollten, dass ich bei Ihnen wohnen bleibe.
Mit ihnen gab es in den ersten 3,5 Jahren meines Studiums fast nur Streit. Sie wollten nicht, dass ich erwachsen werde (erzählten mir immer, auch ohne dass ich irgendwas in der Hinsicht sage, Du bist nicht erwachsen!). Sie wollten, nicht dass ich selbstständig werde. Eine eigene Wohnung war nie im Gespräch. Ich habe von Anfang an neben meinem Studium gearbeitet, aber das sollte auf das Konto meines Vaters gehen. Ich bekam dann, meistens auf mehrfaches nachfragen, 100€ für Mensaessen und Taschengeld ausgezahlt. Am Anfang des Studiums lerne ich auch meinen Freund kennen. Zunächst alles ok. (Ich liebe ihn und wir sind bis heute zusammen.) Als ich dann öfters abends weg war und mich nicht alle paar Stunden bei meinen Eltern meldete "dass es mir gut geht" fingen sie an, alles auf ihn zu schieben. Und können ihn nicht leiden, allerdings nie begründet sondern "weil sie wissen was das für ein Typ ist".
Nun nach einem langen Kampf um Selbstständigkeit (mit etlichen Streits, Vorwürfen von meinen Eltern die meist orkanartig kamen wenn ich es am wenigsten erwartete weil eigentlich mal eine Zeit lang alles okay schien. Dabei haben sie sich ständig mit ihren Forderungen selbst widersprochen.) bin ich endlich ausgezogen, mit meinem Freund zusammen, und lebe von meinem Nebenjob und dem Kindergeld (welches sie mir zwischenzeitlich vorenthalten wollten, bis ich einen Abzweigungsantrag gestellt habe. Laut ihnen steht ihnen das Kindergeld zu, nicht mir. Dabei war scheißegal, dass ich gerade versuche Klausuren zu schreiben und Miete zahlen muss, hauptsache sie versuchen ihre Meinung und ihre Erziehung durchzusetzen.), habe mein eigenes Konto und verdiene mir durch zusätzliche Nachhilfestunden meinen Semesterbeitrag. Und komme finanziell klar, planen und organisieren konnte ich schon immer. Ohne einen Cent meiner Eltern. Die einzigen, die das nie wahr haben wollten, waren meine Eltern.
Seit dem Streit um das Kindergeld (einhergehend mit Verwürfen, ich würde sie nicht lieben, sei respektlos, würde irgendwann tot in einer Gosse enden etc., auch dass ich nicht genug Interessa an ihnen zeigen würde, ich würde mich nicht genug für ihre Probleme und das Haus interessieren usw. Ich fragte, was ich konkret besser machen soll, was sie sich wünschen. Alles was ich erhielt war eine Antwort "Generell", und "das wüsste ich doch wohl") haben wir Funkstille. Seit einem halben Jahr jetzt.
Letztendlich habe ich mich schon sehr häufig und ausführlich mit meinen Problemen auseinandergesetzt, und die Funkstille tut mir gut. Weil meine Eltern keine Anforderungen mehr an mich stellen können, die ich nicht erfüllen kann. Sie haben mich für meinen technischen Studiengang kritisiert, weil sie lieber wollen, dass ich etwas Soziales mache. Sie wollten, dass ich doch bitte mehr in Studentenkneipen gehe (abends kam ich mit dem Bus nicht mehr zum Wohnort meiner Eltern), prophezeiten gleichzeitig dass ich tot irgendwo landen würde (weil ich nicht ständig anrief wo ich bin), wollten dass ich jeden Rat ihrerseits befolge, ansonsten sei ich respektlos... vor allem schien es immer wieder okay zu sein, bis es wieder los brach. Eine emotionale Achterbahn.
Nun ist das Problem: ich weiß, dass meine Eltern mich lieben. Welche Probleme sie in ihrer Jugend mit den eigenen Eltern hatten. Und ich habe das Gefühl, ich muss eigentlich mit ihnen reden, den Kontakt wieder aufnehmen um ihnen nicht weh zu tun. Gleichzeitig weiß ich, dass wir nie ein Gespräch hatten, in der sie meine eigene Meinung respektiert haben, mich nicht mit Vorwürfen fertig gemacht haben und mich nicht wie ein kleines Kind behandelt haben.
Ich habe einfach Angst davor, zu kalt zu sein. Ich weiß, ich sollte das versuchen zu klären (wie, habe ich schon in der psychologischen Beratung in unserer Uni erfahren, z.B. durch Briefe usw.), aber gleichzeitig will ich einfach nicht. Ich will nicht wieder in diesen Strudel von Vorwürfen gezogen werden, die nur dazu führen, dass ich mich wieder selbst fertig mache, mein bisschen Selbstbewusstsein, das ich in den letzten paar Jahren aufgebaut habe, zerstört. Wie kann ich mit mir selbst ins Reine kommen? Ich weiß was ich will. Eigentlich. Gleichzeitig macht mich mein Gewissen fertig, was ich meinen Eltern, die es immer "nur gut gemeint" haben damit antue. Im Moment habe ich das Gefühl, deswegen ein schlechter Mensch zu sein. Kann ich das überhaupt vor mir rechtfertigen? Einerseits, wenn ich nur an mich und mein Glück denke, ist die Situation gut. Auch wenn es, wie Heiligabend, dann Situationen gibt, wo ich sie vermisse. Genau wie meinen kleinen Bruder, der immer schon auf meine Eltern in jeder Hinsicht gehört hat und keinen Kontakt mit mir will. Andererseits will ich nicht wieder so heruntergezogen werden. Ich kenne mich selber, ich weiß dass ich mich da nicht zur Wehr setzen kann. Weil es schon immer so war. Mal schneller, mal konnte ich mich länger beherrschen, aber irgendwann war ich dann wieder an dem Punkt dass ich total fertig war.
Und nun verunsichert mich dieses Dilemma. Wisst ihr, was ich tun kann, um wieder einigermaßen mit mir selbst im Gleichgewicht zu sein? Ich habe das Gefühl, egal was ich mache, es ist auf die eine oder andere Art falsch.

Liebe Grüße,
Sandra

Anna Anwort von Anna

Liebe Sandra,

vielen Dank für Dein Vertrauen und für Deine ausführliche Beschreibung über die Situation, in der Du Dich gerade befindest.
Was Du schilderst, klingt drastisch und ich kann mir gut vorstellen, dass es für Dich eine richtig schwere Situation ist, mit der Du da gerade klar kommen musst.
Dass Du den Kontakt zu Deinen Eltern (vorerst) abgebrochen hast, war das Beste, was Du da tun konntest. Du sagst, dass Dich ihr Verhalten über die Zeit mal schneller, mal langsamer, aber immer sicher fertig gemacht hat und dass, egal, was Du zu sagen hattest, Du in Deiner Meinung und Deine Person nie akzeptiert oder ernst genommen wurde.
Der Abstand war also vollkommen richtig - nur so kannst Du erstmal zu Dir selbst finden und Dir das eigenständige Leben aufbauen, das gesund und notwenig ist. Und: ich bin beeindruckt. Nicht jeder hätte das in Deiner Situation geschafft, immerhin bist Du auch Kind Deiner Eltern und wärst je nachdem so uneigenständig, dass Du gar nicht in der Lage dazu gewesen wärst, die Stärke zum Nein aufzubringen.
Mit so einem Schritt kannst Du sehr stolz auf Dich sein - Dein Fundament für ein Leben in eigener Verantwortung.
Gut finde ich auch, dass Du zwar Deine Enttäuschung über Deine Eltern formulieren kannst, Dir das Leben aber nicht von ihnen aus der Hand nehmen lässt. Dass Du Dein Geld einforderst, dass Du alles tust, um selbstständig zu sein und nicht in eine Opferrolle verfällst.

Ich kann verstehen, dass Du Dich aber wie abgeschnitten fühlst. Uneins, irgendwie zweigeteilt und dass Du Dich auch danach sehnst, einen guten Kontakt zu Deinen Eltern zu haben. Dass Du sie und Deinen Bruder vermisst, ist ein gutes Zeichen und ich würde es nicht allein auf ein Schuldgefühl schieben. Aber dass Du Dich schuldig fühlst, ist denke ich in dem Zusammenhang auch normal. Du liebst Deine Eltern, Du kennst ihre Vorgeschichte - Du wärst also bereit, ihnen zu verzeihen, wenn sie doch nur einen Schritt auf Dich zu machen würden. Es ist, als würdest Du ihnen die Hand hinhalten, die sie brauchen, um sich selbst aus dem Loch ihrer Ängste zu befreien. Aber sie wollen Deine Hand nicht, sie wollen Dich mit runterziehen.
Deine Eltern sind zur Zeit in einer schweren Phase, Du bist die Älteste und Du gehst mit bestem Beispiel voran. Dein Bruder wird das hoffentlich eines Tages verstehen und Dir gleich tun. Deine Eltern lieben Dich, aber wahrscheinlich sind so sehr in sich selbst gefangen, dass sie es einfach nicht ertragen, auf Dich zu zugehen. Für sie würde es sich wohl so anfühlen, als würden sie sich selbst damit aufgeben.
Den Ratschlag der psychologischen Beratungsstelle muss ich dringend weitergeben. Du solltest einen Brief schreiben, oder vielleicht zwei, einen an Deine Mutter und einen an Deinen Vater, immerhin sind die beiden ja auch unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Ängsten, Stärken, Schwächen und Kommunikationsweisen. Aber: Du musst den Brief oder die Briefe nicht abschicken, wenn Du nicht willst. Wichtig ist, dass Du sie einfach schreibst. Das könnte dieses uneinige Gefühl in Dir schon erheblich lindern. Des was Du brauchst, um vollkommen eins zu werden, ist Kontakt. Kontakt zu Deiner Kindheit, Deiner Heimat, Deiner Herkunft und somit auch eigentlich zu Deinen Eltern und Deiner Familie. Sie verweigern ihn Dir, also könntest Du ihn mit einem Brief wenigstens einseitig herstellen. Was ist mit Deiner Verwandtschaft? Oma, Opa, Tante, Onkel usw.? Auch der Kontakt zu ihnen könnte Dir sehr gut tun!
Und wenn Du denkst, Du bist so weit - nimm den Kontakt zu Deinen Eltern einfach nochmak auf. Und wenn Du merkst, es geht nicht, kommuniziere ihnen ganz klar und - wichtig - ganz situationsbedingt, was jetzt nicht in Ordnung ist und warum Du deshalb den Kontakt wieder abbrechen musst. Damit bietest Du ihnen wenigstens die Chance, zu wissen, was an ihrem Verhalten so schlimm ist.

Ein kleiner Hinweis ganz am Schluss: Vielleicht kannst Du ja mit dieser Übungsheftreihe etwas anfangen, wenn Du Dich gerne auch mit Dir selbst beschäftigst:
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Ich wünsche Dir auf Deinem Weg alles Gute,

Deine Anna