Anwort von PaulG

Liebe Lia,

danke, dass du dich an uns gewandt und von deinem Problem berichtet hast. Ich kann verstehen, dass du dich fürchtest, dich deinem Freund zu öffnen. Die Wahrheit ist: Ich kann dir nicht sagen, wie er reagieren wird. Aber, so lächerlich es sich für dich vielleicht anhört: Noch ist nicht aller Tage Abend.

Du hast dich in deinem Text ja beschrieben. Es ist unübersehbar, dass du dich als abstoßend empfindest. Und das schon eine Weile. Du bist so überzeugt davon, fühlst dich jeden Tag bestätigt, dass du gar nicht mehr daran glaubst, jemand könnte es auch anders sehen. Und das ist schade. Denn diese Möglichkeit besteht.

Wenn du das Gefühl hast, deinem Freund gegenüber unehrlich zu sein - dann würde ich mit offenen Karten spielen. Es wird nicht leicht sein, aber du willst ihn ja irgendwann in Wirklichkeit treffen, oder? Früher oder später kommt der Moment der Wahrheit. Ob er dich dann so nimmt, wie du bist, das kann dir niemand garantieren. Doch es gibt genauso wenig eine Garantie dafür, dass er dich hässlich finden wird. Wenn du ihm erzählst, was dich an dir stört, möchte ich dir raten, nicht eine so heftige Wortwahl zu gebrauchen, wie hier bei uns. Vielleicht kommt dir das wiederum als Verrat vor. Aber es ist ja so: Du weißt schlicht noch gar nicht, wie er das sieht. Und wenn du dich heftiger niedermachst, als die Realität es verdient - dazu zählen Worte wie "ekelhaft" und "furchtbar" - dann wirst du ihn eher verwirren. Niemand kann von ihm erwarten, dass er bei dir bleibt, wenn die Chemie nicht stimmt, oder er nicht so begeistert von dir ist. Doch wenn er dich wirklich gern hat, dann solltest du ihm nicht den Moment der Erkenntnis ersparen, in dem er dich sieht, und sich entscheiden muss. Es wird ganz schnell gehen. Wenn du ihm zuvor Druck machst, wird er am Ende bei dir bleiben, ohne es zu wollen. Für zwei Wochen, einen Monat. Aber wirkliche Ehrlichkeit, wirkliche Stärke kannst du von ihm nur erreichen, wenn du nicht alles vorweg nimmst. Das Gesamtbild wird er sowieso erst erfassen können, wenn ihr euch trefft.

Erzähle ihm, was DU an dir hässlich findest, lass nicht aus. Aber beschimpfe dich nicht, und merke nicht schon mal an, dass er dich wohl besser verlassen sollte. Das ist unwahr. Du hast dich so in dein Gefühl der Hässlichkeit versenkt, dass es für dich schon eine unveränderliche Tatsache ist. Nur gibt das nicht die Realität in den Augen all deiner Mitmenschen wieder. Wenn ich dir jetzt schreibe "Schönheit liegt im Auge des Betrachters!", lachst du dann über mich? Ziehst die Augenbrauen hoch, weil Paul ja so ein weltfremder, ahnungsloser Schönmaler ist? Sollte das so sein, Lia, dann muss ich es in Kauf nehmen. Ich bin nämlich fest davon überzeugt, dass Schönheit eine sehr wandelbare Kategorie ist.

Es gibt Schönheit - das, was den Mann der dich liebt, dahin schmelzen lässt, wenn er dich sieht. Das, was sein Herz höher schlagen lässt, was ihn erregt. Viele Männer haben das Problem, dass sie - genau wie du auch - die Vorgaben der Gesellschaft, was "schön" ist, zu ihrem Maßstab machen. Wir alle haben die schlanken, unbehaarten Bikini-Models so verinnerlicht, das wir nervös werden, sobald unser Herz und Gehirn uns signalisieren, dass sie weder real sind, noch das abbilden, was wir - jeder für sich, als Persönlichkeit - schön finden. Und das kann auch eine Frau sein, die dick ist. Jemand, dessen Körper Unregelmäßigkeiten aufweist. DU magst dich hässlich finden - ich gebe dir mein Wort darauf, dass du es nicht bist. Keine Frau ist hässlich. Nur haben viele Frauen das Problem, dass sie sich durch das, was in Katalogen und Serien zu sehen ist, unterdrücken lassen. Und Schuld daran haben nicht zuletzt wir Männer. Weil wir nämlich oft nicht die Eier haben, die Meinung unserer Freunde, Kollegen und Trainingsbrüder zu ignorieren, und auf ihre Sprüche nichts zu geben. Einfach zu sagen: "Meine Freundin ist für mich die schönste Frau der Welt!" Vielleicht werden wir daraufhin ausgelacht. Vielleicht werden uns eigenartige sexuelle Vorlieben unterstellt. Oder was auch immer. Aber das müssen wir aushalten. Und wer dich nicht schön findet, Lia - gut, der ist eben dieser Meinung. Doch ob dir das mit einem Jungen passiert, mit zehn oder zwanzig - es ist doch niemals die ganze Wirklichkeit. Kann es nicht sein. Dafür gibt es zu viele Männer in diesem Land, auf dieser Welt. Wenn dein Freund nervös werden sollte, sobald es darum geht, sich mit dir zu zeigen - dann heißt das noch nicht, dass er dich abstoßend findet. Es heißt erstmal nur, dass er nicht den Mut aufbringt, zu dir zu stehen. Vielleicht findet er ihn. Falls nicht, dann ist er ohnehin nicht der Richtige für dich. Vielleicht aber ist es ja wahr, was er sagt, Lia: Vielleicht liebt er dich ja wirklich so, wie du bist? Auch mit Dehnungsstreifen, einer großen Nase und Haaren? Lass es darauf ankommen. Denn dich zu verstecken, zu verschweigen, was du doch nicht wegzaubern kannst, wird dich weder glücklich machen, noch deine Selbstzweifel zerstreuen. Die Parole heißt: Angriff nach vorn. Zeige dich. Öffne dich. Erwarte von deinem Freund, dass er zu dir steht. Denn du bist schön.

Tja - und dann gibt es ja auch noch die berühmten "inneren Werte". Wieder eine Gelegenheit dir an die Stirn zu tippen, falls du das vorhin gemacht hast. Trotzdem sage ich dir, was die Wahrheit ist: Was nützt einem Typen, der auf der Suche nach der großen Liebe ist, eine Frau, die nicht lächeln kann, nicht verzeihen kann, panisch und mäkelnd und gereizt und gefühllos ist? Sie mag die schönste Figur haben, die man sich denken kann - es nützt nichts. Und dann kommst du: Eine ehrliche, selbstkritische, herzliche, humorvolle, einfühlsame Person. Wer ist jetzt geeigneter für den Strand von Saint-Tropez? Die Katalognixe. Wer ist geeigneter für romantische Stunden, Freude und Schmerz und den dauerhaften Nestbau? Du. Und das ist Fakt.

Wer von uns Männern bloß nach der Figur geht, nach Äußerlichkeiten generell, ob Haare, Pickel, Bauch oder sonstwas, der ist entweder nicht auf der Suche nach Liebe - sondern nach jemanden, mit der er ins Bett gehen und vor Freunden angeben kann. Oder er ist noch nicht bereit für die Liebe. Es gibt persönliche Vorlieben, das ist klar. Vielleicht ist dein Freund doch nicht angezogen von dem, was du darstellst. Aber, wie gesagt: Deshalb wärst du nicht hässlich. Und selbst wenn er es dir sagen würde, wärst du es nicht. Ihr wäret nicht zum Paar bestimmt - warum also trauern? Und in ihm drin wäre es hässlich genug, um wirklich keinen Schmerz aufkommen zu lassen. Nur, du weißt nicht, ob es so kommt. Und wenn du nicht mit offenen Karten spielst und die Sache wagst, wirst du es niemals herausfinden.

Für die Schule wünsche ich dir viel Glück und Erfolg. Wenn du nicht mehr viel Luft hast, ist das sicher beängstigend. Hier hilft nur, sich ins Zeug zu legen. Stell dir mal vor: Worst case - du schaffst es nicht ins Abi. Was machst du dann? Kannst du es wiederholen? Oder entscheidest du dich für einen anderen Weg? Wenn es wirklich passiert, wird sich das für dich erstmal als gigantische Niederlage anfühlen. Doch auch wenn es dazu kommt, es gibt viele Lebenswege, die Schönes versprechen - auch wenn du es jetzt nicht glaubst. Ich kann mir vorstellen, dass für dich viel vom Abitur abhängt, und das will ich auch gar nicht zurückweisen. Doch sollte es geschehen, was du befürchtest - dann wäre es der falscheste Weg, in Vorwürfen und Hoffnungslosigkeit zu versinken. Es gibt immer ein Weiter. Mach dir einen Plan, was du tust, falls du scheiterst. Darüber hinaus ist es nur durch Lernen zu bewerkstelligen. Aber könnte es nicht sein, dass auch das mit deinem ersten Problem Hand in Hand geht? Dass du dir - die du dich so hässlich findest - gar nicht zugestehst, im Leben Erfolg zu haben? Wie in der Liebe, so in Schule und Job? Auch das ist Quark, Lia. So wie du mit Sicherheit schön bist, so wirst du auch etwas aus dir machen. Wenn du dich selbst davon überzeugst, dann wirst du auch die ganze Welt davon überzeugen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul