Problem von Nicole - 20 Jahre

Keine Zeit und alleine

Hallo! Ich muss das einfach irgendwem schreiben, weil ich schon wieder kurz vorm heulen bin! Sitz hier auf Arbeit und kann nicht mehr. Ich bin aus einer kleinen Stadt direkt nach XXX gezogen. Früher hab ich meine Freunde in 5-20 Minuten erreichen können, hab immer meine Eltern und Geschwister bei mir gehabt.
Jetzt bin ich in XXX und brauche am Tag alleine schon 1,5-2 Stunden zur Arbeit, was mich irgendwie fertig macht. Das Problem ist nur, dass ich nicht näher an die Arbeit ziehen will weil ich es dort wo ich momentan wohne mag. Ein kleiner Wald direkt in der nähe und ruhig. Die Leute die ich von der Arbeit kenne wohnen auch alle mehr als eine Stunde weg. Innerhalb der Stadt! Und überallhin brauche ich mindestens eine Stunde je Fahrt! Irgendwie macht mich das total fertig. Ich kann einfach zu niemanden einfach fix mal hingehen wenn ich was habe. Besonders nach hause nicht, weil ich dorthin 3 Stunden fahre..... Ich fühl mich alleingelassen hier. Alle die ich kenne wohnen ewig weit weg und ich will ja auch mal Freizeit haben, die ich nur ungern in der Bahn verbringen würde. Irgendwie bräuchte ich jemanden der direkt bei mir wohnt, wie ich es eben gewohnt war. Ich wohne jetzt schon fast ein Jahr in XXX, aber bekomme es irgendwie einfach nicht auf die Reihe. Stimmt irgendwas nicht mit mir? Ich könnte heulen, aber vor meinen Kollegen ist das einfach zu peinlich. Mit Freunden drüber reden.... Ich rede mit meinen Eltern drüber, aber ich glaube meine Mutter macht das auch schon fertig und sie sagt ich kann jederzeit wieder zurück kommen. Einfach zurück gehen wäre für mich irgendwie wie aufgeben, aber dort bzw nur eine halbe Stunde entfernt in der nächsten Stadt wohnen die Leute mit denen ich aufgewachsen bin und die ich alle vermisse! Aber aufgeben.....?

Nuala Anwort von Nuala

Liebe Nicole,

ich kann gut verstehen, wie du dich fühlst. Ich kenne auch ein paar Leute, die dort leben. Das leidige "Herumgefahre" ist auf jeden Fall auch bei ihnen ein Thema.
Es sei dir versichert, dass du völlig normale Reaktionen zeigst. Denn zum Einen bist du ein ganz anderes Umwelt und Alltagsleben gewöhnt, außerdem brauchen Menschen unterschiedlich lange, um sich in einer neuen Umgebung zurecht zu finden. Manche ziehen um und sind nach kurzer Zeit am neuen Ort angekommen, finden leicht neue Kontakte und sind viel auf Achse. Andere fühlen sich erstmal wie "im Urlaub", vermissen ihre Heimat und fühlen sich orientierungslos. Und dazwischen gibt es natürlich viele Abstufungen.

Prinzipiell sehe ich deine Lage so: Es gibt für jede Position mehrere Argumente - du müsstest für dich herausfinden, welche mehr wiegen. Stelle doch eine Kosten - Nutzen - Analsye auf, am besten schriftlich. Was spricht für Bleiben, was für Gehen?

Eine wesentliche Frage für mich wäre: Was bedeutet dir deine Arbeitsstelle bzw. was hat sie so attraktiv gemacht, dass du nach XXX gezogen bist? Falls du eher aus Not umgezogen bist, weil du in deiner Gegend nichts gefunden hast, würde das deine Verfassung schon auch erklären. Da wäre mein Appell an dich: Wenn dir XXX und die Arbeit dort nicht allzuviel bedeutet und dein Herz noch so an deiner Heimat hängt, suche einfach dort nach einer Alternative. Das hat doch nichts mit Aufgeben zutun, jedenfalls nicht im Sinne von "ich bin so eine erbärmliche Versagerin, nur weil ich nicht mehr in XXX wohnen möchte" ;P Es wäre zwar ein Aufgeben, aber unter positivem Vorzeichen. Du würdest etwas aufgeben, was dich bedrückt und an deiner Entfaltung hindert. Es wäre sozusagen lästiger Ballast, den du abwerfen würdest.
Auch wenn du nicht sofort fündig werden würdest, hättest du doch das gute Gefühl, dich zu deinen Gunsten zu engagieren. Und auch wenn ein paar Monate verstreichen würden, bis du ein passendes Jobangebot finden würdest, hättest du zumindest etwas Kraft gewonnen. Einfach aus dem Grund, dass du aktiv wirst, das Gefühl bekommst, deine Lage selbstständig verändern zu können. Das kann dir enorme Zuversicht und Motivation geben.
Natürlich könnte es genauso gut sein, dass die Zeit verfliegt, du vergeblich nach einem neuen Job suchst und dich gleichzeitg immer mehr in XXX einlebst, neue Bekanntschaften findest und es doch nicht mehr so blöd ist, dort zu wohnen. Das wäre ja ein feiner Effekt, finde ich.

Falls du mit deiner Arbeit in XXX glücklich bist, solltest du schon überlegen, wie du dich arrangieren kannst. Was trotzdem nicht bedeuten muss, dass du dort "ausharren" sollst, wenn du trotz schicker Arbeit sehr traurig bist und Heimweh hast! Da kommt eben wieder die oben erwähnte Kosten - Nutzen - Analyse ins Spiel.

Ein paar Anregungen habe ich für dich, welche eventuell zu einer Besserung deiner Situation führen können:

- Nutze die Bahnfahrten so effektiv wie möglich. Wenn dir nach Telefonieren mit deinen Lieben ist, mach das ruhig. Es muss ja nicht jeder mitkriegen, einige Menschen schaffen es wunderbar diskret, über längere Bahnstrecken mit anderen Personen zu telefonieren. Oder chatte, schicke SMS... deine Freunde und deine Familie schreiben dir bestimmt schnell zurück, sodass du schon während einer Fahrt eine Rückmeldung bekommst.
Wenn du eher jemand bist, die gerne ein Buch liest und/oder Musik hörst oder lieber aus dem Fenster schaust, solltest du das konsequent verfolgen, um abzuschalten bzw. dich mental auf deine Arbeit einzustimmen. Es kann nämlich auch genau falsch sein, während der Bahnfahrt mit Anderen zu kommunizieren, wenn das eigentlich nicht die stimmige Gelegenheit für dich ist (z.B. weil du dafür mehr Intimität und Ruhe benötigst). Ich denke, es ist sehr wichtig, dass du dir detaillierte Gedanken machst, wie du die Fahrten für dich optimal auskosten kannst. Und sei es, dass du Veranstaltungstipps im Internet oder Zeitschriften liest und damit deine Freizeit planst.
Du kannst auch (kürzere) Briefe schreiben - wenn du gerade eine bestimmte Stimmung mitteilen willst, kannst du diese sicherlich während einer längeren Bahnfahrt niederschreiben. Wenn du aussteigst, musst du nur noch an einem Briefkasten vorbei und schon hast du dir selbst Erleichterung durch das Schreiben verschafft und gleichzeitig das emotionale Band zwischen dir und dem Empfänger/der Empfängerin gestärkt.

- Lass dich oft in XXX besuchen. Selbst oft nach Hause zu fahren ist gut und schön, doch auf Dauer nicht zielführend, wenn du fest vorhast, dich in der neuen Stadt einzuleben. Gerade Menschen, die noch nicht so verwurzelt mit dem neuen Wohnort sind, neigen dazu, jedes oder jedes zweite Wochenende in die Heimat zu fahren. Das birgt aber die reale Gefahr, wichtige Erfahrungen zu verpassen. Wenn man aber Freunde und Familie zu sich einlädt, kann man auch mit diesen abends um die Häuser ziehen und dadurch die Stadt und auch andere Leute kennenlernen.

- Bemühe dich darum, deine Stadt zu erforschen. Fahre gezielt oder auch planlos herum, steige an einer beliebigen Haltestelle aus und spaziere dann dort herum. Such dir ein Café, einen hübschen Park oder eine Kneipe und ruhe dort aus. Lasse den Flair auf dich wirken, beobachte die vorbeikommenden Menschen. Du wirst auf Orte stoßen, die dir gefallen, dich berühren, dir im Gedächtnis bleiben. Mit manchen wirst du dich vielleicht stark identifizieren können, andere wirst du nie wieder besuchen wollen. Wie es auch ausgeht, auf diese Weise entsteht eine Verbindung zwischen der Stadt und dir. Bestimmte Orte kannst du dann auch deinen Freunden zeigen, das macht stolz und stärkt dein Gefühl, einen Platz in XXX gefunden zu haben.

- Fahre nach der Arbeit nicht immer direkt nach Hause. Gehe dorthin, wo es dir gefällt, drehe z.B. erst eine Runde durch eine Grünanlage oder trinke einen Kaffee. Das gibt dir das Gefühl, deine Freizeit sinnvoll zu nutzen und nicht von der Welt abgeschirmt zu sein.

- Versuche, dein Viertel genau kennenzulernen und achte darauf, welche kulturellen und sozialen Angebote es dort gibt. Optimal ist es, wenn du deine Interessen mit einer Gruppe von Gleichgesinnten ausleben kannst, z.B. beim Sport im Stadtteilzentrum. Schau dir Aushänge an Pinnwänden an, ob es Freizeitgruppen gibt. Vielleicht gibt es Stammtische extra für dein Viertel?

- Wenn du ein paar ausgesuchte Arbeitskollegen sehr sympathisch findest, solltest du dich verstärkt mit ihnen umgeben. Wer weiß, vielleicht ergibt sich nach Feierabend ein gemeinsamer Abend oder eine Aktivität am Wochenende! Du musst ja auch nicht erzählen, dass du noch haderst. Manche Informationen kann man ruhig zurückhalten, bis sich das Vertrauen gefestigt und geeignete Momente zur Offenbarung entstehen. Ich finde aber auch, dass es völlig ok und menschlich ist, so etwas zu sagen wie "Komisch, ich bin nun schon ein Jahr hier, aber meine Heimat vermisse ich trotzdem." Ich bin mir sicher, dass auf solche Aussagen eher Verständnis kommt als Ablehnung.

- Bedenke, dass Beziehungen Zeit brauchen, um zu wachsen. Es ist schon häufig so, dass es mitunter Jahre dauert, bis man neue feste Bezugspersonen gefunden hat. Auch in deinem Heimatort hat es bestimmt bei einigen Menschen etwas gedauert, bis ihr richtig befreundet wart.
Ich denke, wenn du offen für andere Leute bist und an verschiedenen Freizeitangeboten in unterschiedlichen Konstellationen teilnimmst, kannst du auf Dauer durchaus ein "Gegengewicht" zu deiner alten Heimat finden, sodass du auch wieder gerne nach XXX zurückfährst, wenn du in der Heimat zu Besuch gewesen bist.

- Auch wenn du dich gerade wohl in deiner Wohnung fühlst, könntest du ja trotzdem nach einer Alternative nahe deiner Arbeitsstelle gucken. Schauen kostet bekanntlich nichts und ein Umzug müsste ja auch nicht sofort erfolgen.

Ich hoffe, dass für dich etwas dabei ist, was dir weiterhilft.

Ich wünsche dir alles Gute!
Nuala