Anwort von PaulG

Liebe Marie,

seltsam ist das: Da ist dieser Junge. Du hast dich in ihn verliebt, du sehnst dich nach ihm. Und es gibt sogar Anzeichen, dass er dich auch mögen könnte. Sprich - vielleicht könnte es ja sein, dass du gar nicht hungern musst, um schön gefunden zu werden? Vielleicht gibt es auch jemanden, der dich so lieben kann, wie du bist? Ich frage mich gerade, warum all das nicht dazu führt, deinen Lebenswillen zu stärken. Und das macht mich traurig.

Du bist viel zu dünn. Viel zu dünn. Soll ich dir sagen, warum? Weil ich nicht viel größer bin als du, sieben Jahre älter bin und ein Typ, und nur ungefähr zehn Kilo mehr wiege. Und ich habe auch Untergewicht. Warum willst du dich zu Tode hungern, wo es doch so viel gibt, wofür es sich zu leben lohnt? Gibst du damit nicht selbst zu, dass es zu nichts führt, wenn man sich Schmerzen unterwirft, um schön zu sein? Es gibt mehr, viel mehr, was dich schön macht, als nur deine Figur. Erinnere dich, was du über deinen Schwarm gesagt hast: Ein einziger Blick in seine Augen... und sowas passiert Jungs auch! Ganz egal, ob das Mädchen dazu dünn oder kräftig ist, helle oder dunkle Haare hat. Es braucht das gewisse Etwas. Es kann sein, dass es sofort Klick macht, ohne dass man gleich weiß, warum. Und dann fällt es einem auf: Dieses Glänzen in ihren Augen, wenn sie ihre wunderschönen Wimpern senkt... Dieses supersüße Lächeln... und wie sie sich bewegt... wie man jedes Mal auf ihre Hände schauen muss, die sooo weich aussehen. Meinst du, das erleben nur Frauen? Quatsch. Wir Männer erleben das auch. Wir träumen auch, wenn wir uns verlieben. Und wenn eine Frau oder ein Mädchen den Raum betritt, dann sehen wir nicht nach, ob ihre Taille vielleicht eine Spur zu breit ist oder ob sie einen Pickel an der Stirn hat. Wenn du auf der Suche nach Liebe bist, passiert es einfach. Und man kann auch auf der Suche nach Liebe sein, ohne es direkt zu wissen. Wenn nämlich dein Herz danach hungert. Deines hat es dir gesagt. Warum hörst du nicht darauf?

Das Essen ist keine lästige Pflicht, der man sich entledigen sollte, sobald es geht. Essen ist auch da, um genossen zu werden. Man kann mit Essen seinen Körper zugrunde richten, das stimmt. Das geht aber nicht nur mit zu viel, sondern auch mit zu wenig Essen. Dein Körper ist geschaffen, um in der Welt zu bestehen, und nicht, um ihn langsam, aber sicher zu vernichten. Ich kann mir vorstellen, dass es dich bei dem Gedanken, ein schweres Essen zu dir zu nehmen, nur so schüttelt. Aber ich bin auch besorgt, dass du immer mehr verblasst, ohne dass die Menschen um dich herum es so richtig mitkriegen. Wenn du dir nicht zutraust, deinen Mut zum Essen selbst wieder zu finden, dann öffne dich. Gibt es niemanden, weder in der Familie noch unter Freunden, dem du dich öffnen könntest? Es ist auch möglich, im Internet von den Erfahrungen Anderer zu lesen und daraus Kraft zu schöpfen. Sieh dich nur einmal hier im Kummerkasten um: Da waren schon viele Mädchen wie du, die seltsamerweise in so jungen Jahren, wo noch alles vor ihnen liegt, wo man eigentlich quietscheglücklich sein sollte, die Meinung entwickeln, irgendwie habe die Natur etwas mit ihnen falsch gemacht. Und sie lassen sich selbst leiden, obwohl sie doch den Kampf gegen die Natur nicht gewinnen können. Sie will nämlich nichts Schlechtes für dich, wenn sie dich etwas dünner oder etwas kräftiger macht, oder wenn sie dir ein anderes Gesicht gibt als die jeweilige Klassenschönheit. Du bist als etwas Besonderes zur Welt gekommen, einzigartig wie jeder Mensch - und besonders und einzigartig sollst du für deine Mitmenschen sein. Für Freunde, Familie, oder auch deinen Freund. Es mag dir schwerfallen: Aber Essen ist keine Last. Dein Körper hat das Bedürfnis danach, damit du die Form erhältst, die dir entspricht, mit der du gekommen bist, die dich schön macht. Und nicht eine, in die du dich künstlich und durch Schmerzen hineinzwängen musst. Du bist nicht fett. Du bist richtig, wie du bist - wie du nur immer warst. Nicht extra mager, sondern so, wie dein Naturell es vorgibt. Um schön zu sein, muss man keine Models nachahmen, sondern sich nur erinnern, dass das menschliche Herz viel besser weiß als jedes Magazin, was Schönheit ist.

Um herauszufinden, was dein Schwarm für dich fühlt, musst du ihn ansprechen. Wenn du dir ein Date mit ihm wünschst, Marie, musst du nicht deine Seele verkaufen, nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Du musst ihn einfach fragen, ob er mal mit dir ins Kino möchte, Inliner fahren, ein Eis essen. Schau mal - es wird doch Frühling! Du kannst nicht mehr als einen Korb bekommen. Das hört sich jetzt schlimm an, aber Gewissheit zu haben, ist immer besser, als sich ewig zu fragen "Würde er vielleicht...?", und sich dann, wenn es zu spät ist, zu grämen "Ach, hätte ich doch nur!" Das kann dir immer passieren, und es ist wirklich nicht schön. Es ist auch keineswegs angenehm, Zurückweisung zu erfahren. Aber immerhin bleibt dir der Trost, deinen Mut zusammen genommen zu haben. Weißt du, wie er reagiert? Woher willst du wissen, dass du nicht offene Türen bei ihm einrennst? Dass er auf nicht sehnlicher wartet, als dass du ihn fragst? Das hier könnte der Beginn einer ganz großen Liebesgeschichte sein. Doch du zögerst. Das ist menschlich. Aber wenn du Erfolg hast - und diese Möglichkeit besteht - dann kann er dir vielleicht zeigen, dass du für ihn die Schönste bist. Weißt du's?

Auch wenn es nicht so sein sollte, Marie: Dann hast du dich getraut. Und trauen musst du dich auch, dich nicht mehr zu verbiegen, sondern deinen Körper anzunehmen. Heute sagst du, du fühlst dich zu fett, obwohl du besorgniserregend dünn bist. Wieviel Kilo willst du noch abnehmen? Wenn du entscheiden könntest, wie viel weniger würdest du wiegen, sobald du morgen aufwachst? Zwei? Fünf? Zehn? Und wird dich das zufrieden stellen? Oder wirst du nicht immer noch eines und noch eines abmagern wollen, ohne je zufrieden sein zu können? Das ist gefährlich, Marie, sehr gefährlich. Und so unnötig. Weil Jungs, die dich wegen deines Gewichts nicht ansehen wollen, deiner Liebe sowieso nicht wert sind. Aber bei deinem Schwarm könnte es doch anders sein? Du schadest dir selbst, wenn du glaubst, du müsstest erst ein anderer Mensch mit einem anderen Körper werden, um gemocht zu werden. Gleiches gilt für das Ritzen: Keine Folter, kein Schmerz, den du dir zufügst, wird das Problem beheben - das Problem, dass dir die Erkenntnis fehlt, dass es gar nicht sein muss. Es gibt keinen Grund, dich zu strafen. Ich weiß, es fällt schwer. Doch auch wenn der Schmerz deine seelische Qual für den Moment betäubt, wird er dich doch hindern, deinem eigentlichen Ziel näher zu kommen: Dich schön zu fühlen. Jeder Schmerz, den du durch deine eigene Hand leidest, sagt dir stets nur: "Du hast es verdient!" Aber das stimmt nicht. Selbst wenn dein Schwarm dich abblitzen lassen würde, wäre es nicht so, egal, wie dein Aussehen beschaffen ist. Denn äußere Veränderungen können Liebe nicht herbeizaubern. Wenn du natürlich bist, DU bist, dann kann daraus der größte Zauber entstehen. Und du musst darauf vertrauen, dass du zaubern kannst. Misserfolge bleiben nicht aus, doch sie sind kein Urteil für die Ewigkeit, sondern betreffen jeweils nur einen einzigen Menschen. Deshalb, stehe zu dir! Man kann das gewisse Etwas nicht erwerben, indem man sich abmagert, sich mit Schminke eindeckt oder mit sich hadert. Man kann es zum Leben erwecken, wenn man die Dinge macht und auslebt, die einem gut tun. Und Hungern und Schmerzen gehören bestimmt nicht dazu, auch wenn sie dir vorgaukeln, zu helfen. Sie helfen nicht. Sie schaden nur. Und werden nie zufrieden gestellt sein, bis es zu spät ist.

Es wäre schön, wenn du das von mir annehmen könntest. Ich kann dir diese Dinge nur sagen, aber ich verstehe auch, wenn sie schwer zu glauben sind. Marie, es wäre wirklich sehr wichtig, dass du Menschen um dich herum von deinen Problemen berichtest, die dich schützen und dir helfen können. Vielleicht wäre auch professionelle Hilfe für dich gut. Das heißt dann nicht, dass du unheilbar krank bist oder "gestört"; es gibt viele junge Menschen, die unter ähnlichen Problemen wie du leiden. Und sich mit seinen Problemen auseinander zu setzen, auf dem Weg, den sie erfordern, ist keine Schande. Ich freue mich daher auch, dass du dich an uns gewandt hast. Aber der eigentlich wichtige Teil beginnt jetzt erst: Was machst du daraus? Kannst du dich selbst akzeptieren? Kannst du annehmen, dass die Schönheit schon in dir ist? Schön wäre es auch, wenn es dein Schwarm wäre, der dir das vermitteln kann. Vielleicht möchte er ja gern. Also - worauf wartest du noch?

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul