Problem von Anonym - 16 Jahre

Gefühlskälte

Hallo, wie man am Titel schon erkennt, habe ich Probleme Gefühle zu empfinden. Dieses Problem trat vor etwa einem Jahr auf und hat mich seit dem nicht mehr verlassen. Ich bin, wie viele in dem Alter, in der Pubertät in die "Depressionsphase" gefallen, hab mich selbst nicht gemocht und teilweise auch ziemlich vernachlässigt. Dies begann vor etwa 2 Jahren, endete aber vor etwas mehr als einem halben Jahr. Aber als diese Phase endete, ist bei mir nicht wieder alles normal geworden, sondern ich hab mich gefühlt, als wäre ich in Watte eingewickelt, alles kommt bei mir nur noch gedämpft an. Das ging sogar so weit, dass es mir total egal war, als mir mein Vater Anfang Dezember sagte, dass er sich von meiner Mutter trennen und gehen wird. Ich sehe meine Mutter öfters weinen, empfinde aber kaum richtiges Mitgefühl. Ich bin seit über 5 Monaten in einer glücklichen Beziehung, doch von starker Liebe spreche ich nicht. Ich kann schon sagen, dass ich ihn liebe, aber irgendwie ist das auf eine andere Art und Weise. Bei ihm fühle ich mich Zuhause und sicher, doch auch er hat mich schon darauf angesprochen, dass ich so starke Probleme habe positive Gefühle auszusprechen und zu zeigen. Ich bin nicht komplett Gefühlskalt, ich empfinde hin und wieder mal Freude, wenn ich mit Freunden irgendwohin gehe zum Beispiel, aber auch dann habe ich Probleme das so richtig zu zeigen. Das ist natürlich unangenehm für alle um mich rum, aber auch für mich. Ich habe die Vermutung, dass diese Kälte entstand, weil ich lange Zeit meine Gefühle unterdrückt habe. Mein Vater begegnet mir oft schnell gereizt und er lässt auch kein bisschen mit sich reden, stellt sich hin und sagt, dass er mehr Wert ist als ich, weil er älter ist. Natürlich weiß ich, dass das Quatsch ist, aber es tut trotzdem weh, dass von einer Person zu hören die man liebt. Deswegen habe ich irgendwann alles unterdrückt, so, dass er mich nicht mehr verletzen kann. Jetzt hat sich das so sehr ausgebreitet, dass ich schon fast denke, ich hab mich selber kaputt gemacht. Ich bin dankbar dafür, dass ich einen tollen Freund und auch gute Freunde habe, doch selbst bei denen kann ich meine Gefühle einfach nicht wirklich zeigen. Ich war mir zuerst auch unsicher, ob ich mich überhaupt auf eine Beziehung einlassen soll, da mir klar war, dass ich Probleme habe ihm dann Liebe zu zeigen. Ich bin im Grunde aber auch eine Person, der es nichts ausmacht alleine zu sein, da ich diese Zeit sehr schätze. Aber gibt es eine Möglichkeit, abgesehen von einem Therapeuten oder ähnlichem, wie ich wieder "zurück an meine Gefühle" komme? Denn zwar ist es schön, wenn einen nicht jedes Wort mal verletzt, doch fehlt mir die Freude im Leben. Ich bin nicht Suizidgefährdet, darin sehe ich keinen Sinn. Aber ich will einfach nur wieder Trauer und Freude empfinden wie jeder normale Mensch. Das letzte Mal wirklich traurig war ich mitte Februar, das war auch das letzte mal wo ich geweint habe weil ich mir Sorgen über meinen Freund gemacht habe. Davor war das letzte mal Weinen an Weihnachten weil mir aufgefallen ist, wie entfernt ich von allen bin und wie kaputt meine Familie ist. Ich hoffe sehr, dass mir jemand helfen kann, da dies hier nun meine letzte Hoffnung ist. Vielen Dank schon mal im Vorraus :)

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

das ist mal eine philosophische Frage, die du da aufgeworfen hast: Kann man seine Gefühle "verlieren"? Und ist "Kälte" der richtige Ausdruck für das, was du beschreibst? Ich glaube zu verstehen, was du meinst. Allerdings finde ich auch, dass diese Worte sehr harsch klingen - es ist sicherlich gerechtfertigt, weil es dich sehr beschäftigt. Andererseits fühlt es sich für mich so an, als ob du dich selbst auch damit abwertest. Denn du bist ja nicht gefühlskalt; deine Gefühle sind mehr in den Hintergrund getreten, arbeiten nach leiseren Melodien, was alles aber nicht bedeutet, dass sie verschwunden wären. Das alles soll dein Problem nicht verharmlosen - aber ich möchte dir auch gerne die Angst nehmen, du hättest irgendetwas für dein Leben kaputt gemacht. Das hast du sicher nicht. Es sind Prozesse, die da beginnen, wo du dir diese Frage stellst - wieder unbeschwerter, extrovertierter zu werden, deine Emotionen stärker auszutragen. Derzeit ist dein Maßstab für "Gefühl" das heftige, kraftvolle, leichte, das du bei deinen Freunden beobachtest. Aber ist es nicht so, dass jeder Mensch anders fühlt, anders erlebt? Gewiss gibt es Einiges für dich zurückzugewinnen. Aber mach dich nicht verrückt, wenn dir im Augenblick noch etwas fehlt, was Anderen eigen ist; du bist deshalb weder für dein Leben zugrunde gerichtet, noch bist du schlechter oder kälter als sie. Und ganz allgemein: Beweist nicht schon allein deine Nachricht an uns, dass da etwas zutiefst Emotionales in dir arbeitet? Möglicherweise erlebst du es nicht so, wie du es bei deinen Freunden sehen kannst. Möglicherweise drängt es sich dir nicht so auf. Doch mächtig ist es, es beschäftigt dich, es schmerzt dich - und allein von dieser Warte aus würde ich schon sagen, es gibt noch viel Hoffnung für dich. Das Problem ist schwer zu schultern, aber es beweist gleichzeitig auch, dass es kein endgültiges Los darstellt.

Für mich scheint es logisch, wie du es gedeutet hast: Gerade dein Vater, der dir gegenüber dominant und selbstgerecht auftritt, auch wenn du ihn liebst... So etwas zu erleben, kann gewiss dazu beitragen, dass man sich in seinem Empfinden weniger wertgeschätzt fühlt, und es lieber in sich vergräbt, statt es mitzuteilen. Vielleicht resultiert daraus auch eine Art Angst vor den eigenen Gefühlen: Wenn du in der Furcht lebst, solche Situationen wie mit deinem Vater erleben zu müssen, scheint dir das Gefühl selbst als das Bedrohliche, du wehrst dich dagegen; so ist die Sache nicht weniger schlimm, aber sie macht unmittelbar weniger mit dir. Ich würde sagen, genauso wie es eine Weile dauert, bis es soweit kommt, wird es vermutlich auch Zeit brauchen, bis es sich wieder "aufweicht". Da ist zum Beispiel dein Freund, den du liebst: Meinst du nicht, dass das Zusammensein mit ihm auch dein Vertrauen in die Menschen festigen kann, bis in dein Unterbewusstsein, und schließlich auch dein Bedürfnis vergrößern, deine Gefühle mitzuteilen? Dafür solltest du dir selbst etwas Zeit geben, aber auch mit deinem Freund darüber sprechen. Denn es ist möglich, dass deine Liebe ihm gegenüber eher unauffällig fließt, hintergründig, aber nicht weniger beständig. Nur weil du nicht dieses lodernde Feuer verspürst, heißt das nicht, dass deine Gefühle weniger stark und er dir wenig wichtig wäre. Damit er es nicht etwa denkt, wäre es gut, wenn ihr darüber im Gespräch bleiben könntet. Denn täusche dich nicht: Es gibt durchaus Menschen, die selbst nach Jahren des Zusammenseins noch Probleme haben, einfach nur mal "Ich liebe dich!" zu ihrem Partner zu sagen. Einfach, weil nicht jeder für Romantik und inszenierten Herzschmerz ist, sondern weil mancher einfach eine festere Seele hat, ein Mensch der Tat ist, und seine Gefühle eher über Handlungen als über innige Sätze bekennt. Vielleicht gehörst du dazu, und mit dir zusammen zu sein, wäre dann die Kunst, deine Zeichen zu lesen - die deine ganz eigenen sind. Oder gibt es keine Dinge, die du für deinen Freund getan hast, einfach, weil er er ist und du ihn gern hast? Dinge, von denen du dir wünschst, er möge sehen, dass du sie nicht gemacht hättest, wenn er dir nicht so wichtig wäre? Du kannst sie zwar nicht in ein Liebesgeständnis mit roten Wangen einkleiden, aber sie sind doch da. Gemessen an dem, was du um dich herum siehst, eher zart, vorsichtig, aber deutlich, wenn man den Blick dafür hat. Denn seit wann ist denn gesagt, dass das, was Filme, Werbung, Serien und Musik uns vermitteln, unbedingt die Wirklichkeit für 99% aller Menschen abbilden muss?

Wenn du deine Gefühle wieder möchtest - oder sagen wir, das, was man dafür hält - dann gibt es einen Weg: Und der ist, genau die Situationen zu suchen, die Gefühle in dir wachrufen. Im Moment sieht es für mich aus, als ob du dir versagst, an den schönen Dingen in deinem Leben wirklich innerlich teilzuhaben, weil deine Reaktionen darauf noch nicht so sind, wie du sie dir wünschst. Aber vielleicht braucht es einfach noch eine Zeit der Auseinandersetzung damit, musst du noch einen Sommer mit schönen Erlebnissen füllen, noch viele Male mit deinem Freund zusammen sein, bis du dort bist, wo du hin möchtest? Es wird sich regen, aber nur allmählich. Es gibt, denke ich, keinen Trick - außer dem Leben selbst, das ja auch bewirkt hat, was jetzt ist. Wenn du dir Druck machst, so zu sein, wie du derzeit einfach noch nicht bist, wirst du dir den Weg dahin am ehesten verbauen - denn diese Dinge brauchen Weile. Und was wahrscheinlich noch wichtiger ist: Du wirst nicht finden, was du suchst. Du wirst nicht die Gefühle Anderer finden, sondern deine eigenen, inneren Zustände, ganz besondere, die sich nicht so anfühlen, wie du es nach den lachenden oder weinenden Gesichtern Anderer vermutest. Und sie werden auch nicht in den Momenten auftauchen, in denen du es am ehesten vermutest, sondern eben dann, wenn starke Gefühle so aufzutauchen pflegen: Wenn man es nicht hofft - oder wenn man es nicht gebrauchen kann. Du musst damit rechnen, dass es dich irgendwann selbst überrascht, vielleicht schockiert. Doch dass es nicht geschieht, darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Emotionslosigkeit im engsten Sinne des Wortes kann es kaum geben, aber was es geben kann, ist Zurückgezogenheit, erlerntes Misstrauen, unbedingter Wille, der zur Zwanghaftigkeit wird und mit dem man sich selbst im Weg steht. Ich rate dir daher dringend: Entspanne dich. Besser als dich unter Druck zu setzen, ist, du wappnest dich, wenn es dich überwältigt.

Dafür kann es auch von Vorteil sein, wenn du deine eigenen Handlungsweisen hinterfragst: Kannst du deinem Vater ins Gesicht sagen, dass du ihn überheblich findest? Kannst du deiner Familie zeigen, dass sie dich belasten? Kannst du streiten? Kannst du deine Gefühle auch vertreten? Wenn du dich selbst als emotionslos siehst, sollte es dir leicht fallen. Wenn du zögerst - nun, da ist schon ein Gefühl. Oder wie nennst du es, wenn man zögert, die Reaktionen fürchtet? Oftmals ist es auch so, dass das ganze Leben quasi auf eine Art des Fühlens beschränkt bleibt, der gegenüber man abstumpft, weil man der Abwechslung ausweicht, die Freude nicht zu verdienen glaubt, vor dem Ärger Angst hat, die schon so normal geworden ist, dass man sie gar nicht mehr als solche wahrnimmt. Um dahin zu gelangen, wo du hinkommen möchtest, musst du also auch die Gewohnheiten aufbrechen, die deiner inneren Abschottung ihren äußeren Rahmen geben - und deine Gefühle selbst herausfordern, dich heimzusuchen. In dem Moment, in dem du dabei Schwierigkeiten erlebst, hast du eigentlich schon eine riesige Bandbreite: Ein wildes Gemisch aus Unsicherheit, Sehnsucht nach Ordnung, Verwirrung, Wut, Furcht und Zweifel. All das ist erstmal gar nicht schön. Aber sobald du dich frei fühlst, Profil gewinnst, dich nicht mehr zurückhältst, bist du auch freier für die schöneren Gefühle. Du musst die Freiheit in deinem Handeln und die Überzeugung von dir selbst und deinem Wert zurückgewinnen, musst wieder lernen, für dich einzustehen - wissen, dass Andere einen nicht fair behandeln, ist das Eine, aber auf Verbesserung zu dringen, zu wollen, dass es aufhört, das ist etwas Anderes. Manche antworten darauf mit Verzweiflung, Depression, Zerrissenheit; andere Leute münzen es in Wut und Gereiztheit um; und einige, so wie du, reagieren mit Zurückziehen und Verschließen. All das sind Gewohnheiten, die zu ändern Kraft erfordert - denn man kennt sich selbst ja nur so, wie man eben ist, was nicht heißt, dass man perfekt ist, so wie man sein will. Du hast zum Beispiel eine ganze Reihe von Ausdrücken gebraucht, Zustände beschrieben, die, so scheint mir, fast zwangsläufig mit Emotion verbunden sein müssten. Vielleicht ist aber dieser undefinierte Zustand, den du Kälte nennst, der aber in Wirklichkeit Hilflosigkeit, Resignation, unterdrückten Ärger, zur Gewohnheit gewordene Trauer bedeutet, für dich so zur Normalität geworden, dass du es nicht mehr anders kennst. All diese Versatzstücke sind auf den Grund des Gewässers gesunken, ineinander gefallen, und keines traut sich mehr so richtig an die Oberfläche. Deshalb musst du auch das Wasser aufwühlen. Es kann eine Weile dauern, bis du erfolgreich bist, bis du auf das stößt, was du suchst, und es schaffst, damit oben zu bleiben. Aber es kann klappen, wenn du darauf vertraust. Da bin ich sicher. Nur wichtig ist nach wie vor: Erwarte nicht, etwas zu finden, das du kennst, etwas, das deinem Wunsch entspricht. Vieles wird schön sein, vieles aber auch nicht. Du suchst nach dir selbst, nach Zügen, die verschüttet sind - und es ist spannend. Aber auch anstrengend, vielleicht schockierend, beängstigend, wenn man bedenkt, dass du es so noch nicht kennst. Darum wünsche ich dir bei deiner Suche nicht nur Glück, sondern auch die Beharrlichkeit, dabei zu bleiben. Denn die wirst du brauchen können.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul