Problem von Lucia - 20 Jahre

Alleine / ich bin ein Versager

Liebes Kummerkasten-Team,

ich habe eure Seite im Internet gefunden - und weil ich es sonst niemandem erzählen kann, schreibe ich euch.

Ich bin 20, habe vor einem Jahr meine Lehre abgeschlossen und stehe gut im Berufsleben. Ich gehe gerne Feiern habe Hobbies und viele Freunde, allerdings fühle ich mich immer alleine.

Meine beste Freundin ist die liebste Person auf der Welt und sie würde mir immer helfen bzw. mir zuhören, aber ich sage nie etwas. Genau so wie zu meiner Familie.

Ich bin als die bekannt, die immer gut drauf ist, verrückt ist, immer lacht und mit der man am meisten Spaß haben kann. Allerdings sieht keiner, dass ich abends fast immer weine oder mich selbst fertig mache. Ich habe wahnsinnige Angst vor der Zukunft, da ich viel erleben möchte aber nichts auf die Reihe bekomme. Ich bin seit 2 Jahren dabei meinen Führerschein zu machen, weil ich mich einfach nicht aufraffen kann zum Lernen. Meine Lehre habe ich nur mit wahnsinnigem Glück bestanden (es war wirklich ein Wunder für mich - ich habe nichts dafür gelernt). Ich tue immer voll selbstbewusst als würde ich genau wissen, was ich will und das auch erreichen, doch in mir habe ich furchtbar Angst dass ich es nicht schaffe und es nur Träume sind...

Ich wurde früher in der Schule schwer gemobbt und habe später auch damit angefangen andere zu verarschen etc. um cool und selbstbewusst rüber zukommen - ich bereue es wirklich, alles was ich den anderen angetan habe - auch wenn es nur dumme Sprüche waren, ich hasse mich dafür!!!

In meiner Familie bin ich die Versagerin, alle studieren oder sind GANZ tolle Menschen - irgendwie gehöre ich nirgendwo dazu.

Ich wohne alleine seit ich 17 bin und bezahle seit dem auch alles selbst - darauf bin ich stolz obwohl ich jeden beneide, der eine große Familie hat (meine Eltern haben sich getrennt als ich 3 war...).

Aber das allerschlimmste im Moment ist, dass ich mir so sehr einen Freund wünsche. Allerdings kann ich mich auf niemanden einlassen - ich bin wahnsinnig empfindlich und wenn mir ein Mann mal näher kommt, mache ich sofort einen Rückzug und rede mir ein, dass etwas nicht passt und wir sowieso nicht zusammenpassen. Wenn ich mal ein Date habe, muss ich mich zwingen dahin zu gehen - ich habe panische Angst, übergebe mich davor und und und.

Ich hatte noch nie einen Freund und das ist mir so peinlich, dass ich es nie zugeben möchte.

Jetzt habe ich jemanden kennengelernt, der mir wahnsinnig gefällt und wir haben uns auch super unterhalten (allerdings waren wir beide ziemlich betrunken, - betrunken und beim Feiern bin ich immer sehr offen, schäme mich dafür aber am nächsten Tag in Grund und Boden)...

Wir sind auf Facebook befreundet und er hat sich wirklich 3 Tage später gemeldet, seit dem schreiben wir dort. Allerdings hat er mir auf meine letzte Nachricht (es war eine Frage von ihm) 3 Tage nicht zurückgeschrieben - ich bin fast durchgedreht (war den ganzen Tag schlecht drauf und habe dauernd geweint). Nun habe ich heute die Nachricht von ihm bekommen, er schrieb: "oh jetzt habe ich aber lange nicht zurückgeschrieben sorry" - und wie es mir geht...

Was soll ich denn davon halten - das sagt doch nur dass er mich nicht besonders mag - das mache ich doch dann nicht, dass ich 3 tage nicht zurückschreibe, wenn mir jemand wichtig ist.??
Er fragt mich immer, wann ich mal in seine Stadt komme und so - also muss es ihn doch auch interessieren, oder will er nur Sex?

Ich fühle mich dabei so furchtbar, ausgenutzt und verarscht...

Liebes Kummerkasten-Team, DANKE dass ihr das macht und ich mich mal auskotzten kann - ich glaube alleine all das aufzuschreiben und zu wissen, dass jemand es liest dem es nicht egal ist, hilft mir schon etwas.

DANKE DANKE DANKE

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Lucia:

Sie ist die eine, die immer lacht.
Nur Sie weiß: Es ist nicht wie es scheint,
oh Sie weint, oh Sie weint, Sie weint,
aber nur, wenn Sie alleine ist,
wenn Sie ist, wie Sie ist und was Sie ist.
Es ist nicht wie es scheint.

(Stereoact, Die immer lacht)

Wahrscheinlich findest du dich darin gerade wieder, oder?

"Ich bin eine Versagerin" - so beginnst du deine Nachricht an uns. Wer hat das festgestellt? Du selbst? Woran machst du das fest? Oder meinst du in Wahrheit, du bist eine junge Frau, die nach den Maßstäben, die ANDERE gemacht haben, nicht das richtige Leben führt - in Wirklichkeit aber viel erreicht hat?

Auch du bist ein ganz toller Mensch. Wenn andere Leute diese Meinung nicht teilen - sei es nun die Familie, Bekannte, oder sonst jemand - dann erheben sie in diesem Moment das, was SIE sind oder schätzen, zum Maßstab für alles. Aber haben sie sich je gefragt, dass sie nicht das Maß aller Dinge sein könnten? Vermutlich nicht. Sieh mal: Du hast deine Ausbildung geschafft, stehst auf eigenen Beinen, du hast dein Leben im Griff. Jetzt kannst du dich im Nachhinein grämen, weil du dich nicht so super auf die Prüfung vorbereitet hattest - oder du kannst dir mal bewundernd auf die Schulter klopfen, und dir sagen: "Wow. Ich habe es trotzdem gepackt!" Das ist nämlich wirklich bewundernswert. Und beweist, dass du gar nicht so dumm und unfähig bist, wie du dich selbst siehst. Was zählt, ist: Du hast etwas in der Hand. Du stehst mitten im Leben. Andere in deinem Alter haben ihr angesehenes Studium - schön. Sind sie deswegen glücklicher? Nein. Sie sind allenfalls stolzer, selbstzufriedener. Und auf diese Menschen kann man verzichten. Du aber hast durch deine Leistung nicht nur bewiesen, dass du klug bist und flexibel, sondern du zeigst dich auch tapfer, aufopfernd und belastbar. Alles Eigenschaften, die dich zu einer guten Freundin und auch Partnerin machen. Man muss nur aufpassen, dass sie nicht dazu führen, dass du dir selbst zuviel abverlangst. Und das scheint im Augenblick der Fall zu sein.

Bist du ganz ehrlich, wenn du sagst, deine Freundin würde dir helfen? Versteh mich nicht falsch - ich möchte es nicht in Frage stellen. Aber warum tust du dir dann so schwer, dich ihr zu öffnen? Warum darf sie deine Tränen nicht sehen? Könnte es sein, dass du in deinem Inneren zweifelst, eine so gute Freundin verdient zu haben? Dass du sie mit deinem Schmerz nicht belasten möchtest? Das ist edel, aber es führt nur dazu, dass du eure gemeinsame Zeit nicht genießen kannst, und sie in dir einen Menschen schätzen lernen, der du nicht bist. Du sprichst dir das Recht ab, schwach zu sein - allein daran merkt man schon, wie sehr du die Ablehnung, die dir ungerechterweise entgegen gebracht wurde, schon für dich akzeptiert hast. Das ist schlimm, denn: Früher oder später wirst du die Fassade nicht mehr halten können. Was machst du, wenn alles auf einmal aus dir heraus bricht? Wenn du krank wirst vor innerer Zerrüttung, und auf einmal alle furchtbar schockiert sind, weil du nichts nach außen tragen wolltest? Mach den Versuch, Lucia. Es wird dir gut tun, auch mal schwach zu sein. Denn du bist nicht der Schwächling von Geburt her, als der du dich siehst, sondern in Wirklichkeit sehr stark und edel. Andernfalls würdest du nicht tun und schaffen können, was du beschrieben hast. Doch es lässt sich nicht ewig aufrecht erhalten. Ich glaube, es könnte dir helfen, es einmal zu erzählen - auch wenn du nicht alles auf einmal loslässt. In dem Moment, in dem du Verständnis erfährst, beginnst du dich auch von dem inneren Anspruch zu lösen, perfekt zu sein. So "perfekt", wie dir deine Geschwister oder Cousins, Kusinen und weitere erscheinen. Dabei sind sie es gar nicht. Sie alle haben auf die eine oder andere Art eine Larve aufgebaut, und vielleicht hat ihnen das Leben mehr die Möglichkeit gegeben, sich damit abzufinden. Aber auch diejenigen, die vor aller Augen stolz und unnahbar tun, sind schwach. Ihre Schwäche wandelt sich oft in Hochnäsigkeit gegen die, die, wie du, mit 20 "nur" eine fertige Ausbildung, ein eigenes Einkommen und eine Wohnung vorweisen können. (Im Gegensatz zu ihnen, die vielleicht in zehn Jahren noch nicht berufstätig sind. Nebenbei, ich studiere selbst, man muss das so sagen.) Warum willst du dich an denen messen, die nur ihre eigenen Maßstäbe gelten lassen? Sie sind möglicherweise für SIE gut, doch wenn alle so leben wollten, würde die Welt zum Stillstand kommen. Oder wie soll alles funktionieren, wenn es nur Leute in prestigeträchtigen Studiengängen gibt - "ganz tolle Menschen" - aber niemanden, der diese Welt für uns gestaltet? So wie Menschen mit "nur" einer Ausbildung. Wie du. In unserer Gesellschaft herrscht die Überzeugung (und leider wird sie von denen, die für die Gesellschaft am wichtigsten sind, Leuten wie dir, gerne klaglos übernommen), dass nur derjenige etwas "wert" ist, der möglichst schnell möglichst viele Gleichungen lösen, gewagte Theorien begreifen, eine Rakete bauen kann. Doch wie sollen die, die das können, ohne die Anderen überleben? Intelligenz bedeutet nicht, besonders leistungsfähig zu sein. Intelligenz bedeutet vor allem, im richtigen Moment das Richtige zu tun und auf der richtigen Seite zu stehen. Das kann dir kein noch so tolles Studium vermitteln, sondern nur das Leben. Und mitten da bist du bereits angekommen. Sei also stolz auf dich!

Mal angenommen, die Sache mit dem Mann, in den du dich verliebt hast, würde nichts weiter ergeben, oder im Sande verlaufen: Würdest du dich dann wiederum als Versagerin fühlen? So ist mein Eindruck. Aber was ist das für eine Gerechtigkeit, wenn du, die doch das persönliche Glück besonders verdient hätte, sich auf dem Weg dahin keinen Misserfolg erlauben darf? Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nur, dass du weniger erfahren wirst, wenn du nachdenkst, statt es einfach zu versuchen. Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist, dass er sich als Ekel entpuppt und du einen Nachmittag vergeudest. Im besten Fall wird daraus vielleicht die große Liebe! Und wäre es dir das nicht wert? Es ist immer gut, abzuwägen, wie ernst es jemand seinem Verhalten nach meinen könnte. Aber trotzdem, die Menschen sind verschieden. Es muss noch nicht unbedingt etwas über seinen Wert als Partner aussagen, dass er sich so spät gemeldet hat. Wer kann schon wissen, warum das so war? Ein komplettes Psychogramm deines Schwarms zu versuchen, wird dich hier nicht weiterbringen. Triff dich doch lieber mit ihm, klopf ihm tadelnd auf den Arm und sag: "Ja, fast hätte ich die Hoffnung aufgegeben, dass du dich nochmal meldest!", und lächle ihm zwinkernd zu. Mach dich interessant! Du kannst nur gewinnen. Und täusch dich auch nicht: Dass du getrunken hattest, schmälert den Eindruck nicht, den du auf ihn gemacht hast, wenn er dich gern hat. Eher wird er sich dann fragen, ob er vielleicht in dieser Situation nicht ganz optimal reagiert hat. So kurz erst kennt ihr euch - und schon gäbe es so viele Kleinigkeiten, die mit ein paar offenen Worten zu klären wären. Versuche es doch - denn auch wenn nichts daraus wird, ist es eine gute Übung. Findest du nicht? Es würde deinem Selbstbewusstsein, denke ich, schaden, wenn du nicht den Versuch wagst, ihm näher zu kommen. Das, was du verlieren kannst, ist gemessen an dieser Chance minimal.

Ängste haben wir alle. Aber ich komme auf das zurück, was ich oben geschrieben habe: Wenn jemand Grund hat, seine Träume für realistisch zu halten, bist du es. Dein bisheriges Leben weist es auf. Du bist keine Versagerin, die nur mal Glück hatte; du bist eine junge Frau, die keineswegs auf den Kopf gefallen ist, aber von Zukunftsängsten geplagt ist. Wirf dir nicht auch noch vor, dass es so ist, sonst kommst du in Teufels Küche - es hört nie auf, wenn du dir vorwirfst, was menschlich ist. Manche Menschen übergehen ihre eigenen Schwächen lieber, indem sie jeden wütend zurückweisen, der sie kritisiert - oder ihren Frust an Anderen auslassen; du dagegen setzt dich damit auseinander, dass du Schwächen hast. Das ist nichts, was dich zu einem schlechten Menschen macht, sondern es gehört zu uns allen. Ich kann aber verstehen, wenn du in deinem Leben viel durchgemacht hast und Stärke zeigen musstest, die Erkenntnis niederschmetternd ist, dass nicht alles nur mit "Augen zu, Tränen wegdrücken!" zu meistern ist. Manches holt einen ein, verweist einen darauf, dass man Hilfe braucht, dass man nicht perfekt ist. Aber das ist noch kein Grund, vor denen, die sich selbst für perfekt halten den Kopf einzuziehen. Und ich wünsche dir, dass du das sehen kannst. Denn wenn du dich als Menschen akzeptiert hast - also, niemanden, die perfekt sein muss - kannst du dich auch mit deinen Schwächen besser auseinandersetzen. Und das andere Problem - andere Leute grundsätzlich für schwächer, schlechter zu halten - das hast du gerade nicht. Wäre es so, wäre das richtig schlimm - aber in dieser Gefahr bist du nicht. Atme einmal tief durch: Du bist viel perfekter, als so manche, die du für perfekt hältst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul