Problem von Anonym - 18 Jahre

Mein Freund will jetzt extrem keusch sein

Ich habe vor ein paar Monaten einen sehr netten jungen Mann kennengelernt. Er ist religiös und Jungfrau. Also wusste ich, dass Sex auf jeden Fall tabu ist. Das haben wir auch eingehalten :) Allerdings hatten wir viel Petting. Haben uns geküsst und beieinander übernachtet und gekuschelt.
Bis er mir eines Abends gesagt hat, dass er manchmal traurig ist, weil er so viele falsche Dinge tut.. Mir tat das dann sehr leid, weil ich gar nicht wusste, dass Petting auch tabu ist... Woraufhin ich ihm gesagt habe, dass wir auch versuchen können es richtig zu machen, und es sein lassen können, wenn es ihn traurig macht...
Also hat er nachgeforscht was genau denn keusch und unkeusch ist...
Jetzt will er nicht mehr, dass ich bei ihm übernachte, wir Petting machen, uns küssen oder kuscheln.,.
Ich fühle mich so dermaßen von ihm weggestoßen. Und es macht mich so traurig. Weil ich meine Gefühle offen zeigen möchte. Wenn ich jemanden aufrichtig liebe, möchte ich ihn auch küssen dürfen!
Es macht mich sauer und traurig und für mich ist es auch irgendwie eine Art von Vertrauensbruch. Ich habe das Gefühl, dass er gar nicht weiß, was er will. Weil wir trotzdem manchmal kuscheln und ich dann wieder Hoffnung bekommen, die mir dann wieder ganz schnell weggenommen wird..
Es macht mich auch sauer, dass er Freunde fragt, was genau keusch bedeutet, anstatt im Koran nachzulesen und es für sich zu interpretieren...
Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Beziehung weiterführen möchte, weil für mich zumindest küssen und kuscheln irgendwie zu einer Beziehung dazugehört...

Judith Anwort von Judith

Liebe Unbekannte,

Vielen Dank für Dein Vertrauen in uns. Ich werde mal versuchen, Dir hier zu helfen.
Weisst Du – es ist eine tolle Sache, dass Du so offen mit Deinem Freund redest, seine Bedürfnisse und Gefühle verstehen möchtest und auch anbietest, Dich anzupassen und ein stückweit zu ändern.

Aber mal der Reihe nach.
Dein Freund ist Moslem und offensichtlich während Eurer Beziehung ein stückweit frommer geworden. Das heisst, dass er sich strenger an die Gesetze im Koran halten möchte um seinem Bedürfnis nach Religiosität und „das richtige zu tun“ Rechnung zu tragen. Das ist an sich erst einmal völlig in Ordnung. Jeder Mensch kann für sich entscheiden, wie er seinen Glauben auslebt, und welche Spielregeln er befolgen möchte, um möglichst ein „guter Christ“, „guter Moslem“, „guter Jude“ etc. zu sein.

Schwierig ist es in dem Moment, wenn der Partner andere Bedürfnisse hat. Dein Freund vermisst die körperliche Nähe zu Dir sicher auch – da habe ich keine Zweifel. Er kommt sicher auch mal in Versuchung. Aber dieser Versuchung widersteht er, weil er weiss, dass er das Richtige im Sinne seines Glaubens zu tun: nämlich abstinent/ keusch zu bleiben. Das wiegt die Entbehrung auf. Er verliert schöne Stunden der Zweisamkeit mit Dir, aber ist seinem Glauben/ Gott näher.

Du hingegen stehst da ein wenig abseits. Du respektierst zwar das Bedürfnis Deines Freundes, aber gleichzeitig hast Du nicht ein solches „Gegenangebot“. Total keusch und abstinent zu sein ist für Dich eine Last, Du fühlst Dich ungeliebt und gewinnst im Gegenzug nichts (ausser Selbstzweifel). Du nennst es einen gefühlten Vertrauensbruch. Das Gefühl kann ich nachvollziehen. Aber halte Dir immer vor Augen, dass die Entscheidung, abstinent zu leben, nicht mit Dir zu tun hat, sondern in Deinem Freund gewachsen ist. Ich glaube nicht, dass er Dich zurückstösst, sondern seinem Bedürfnis nach Religiosität mehr Platz einräumt. Ihr zu verführen und immer wieder in Versuchung zu bringen, wär meiner Meinung nach keine gute Idee.

Die Fragen, die Ihr beide Euch stellen solltet sind folgende: Wie füllt ihr die entstandene Lücke in Eurer Beziehung? Bist Du am Islam und am Koran interessiert? Könnt ihr eine stärkere Bindung emotionaler und intellektueller Natur aufbauen, die Euch näher zusammenbringt? Wie sind seine Einstellungen sonst, zu Männern und Frauen, zur Gleichberechtigung, zu sexueller Selbstbestimmung? Kannst Du Dir überhaupt eine Beziehung interessiert, die Körperlichkeit vor der Ehe ablehnt? Kommt ihr bei diesen grossen Fragen auf einen gemeinsamen Nenner?

Wenn nicht, ist es in der Tat zu überlegen, ob ihr eine Beziehung aufrechthalten könnt, wenn die Grundbedürfnisse nicht übereinstimmen.

Ich wünsche Euch beiden alles Gute!

Herzlich,
Judith