Problem von Anonym - 19 Jahre

Niemand kann mich leiden?

Hallo Hallo liebe/r Unbekannte/r (oder Hallo Julia),
Es ist jetzt schon über ein Jahr her, dass ich euch geschrieben habe. (Artikel: Selbsthass vom 7.9.2015). viel hat sich seitdem in meinem Leben geändert, jedoch ist einiges immer noch gleich geblieben. Den Führerschein habe ich kurz nach meinem ersten Artikel geschafft und war verdammt stolz darauf. Jetzt kann ich seit einem Jahr endlich Auto fahren. Ich habe ja geschrieben. Dass ich ein Gespräch mit meinen Eltern hatte und ein Termin bei einem Psychologen hatte. Ich hatte bei einem Neurologen verschiedene Tests, wo meine Gehirnaktivitäten gemessen wurden. Zum Glück war da alles in Ordnung. Jedoch hatte der Neurologe mir Antidepressiva verschreiben, welche ich bis zum Sommer dieses Jahres genommen habe. Am Anfang haben sie mir geholfen meine Zitterattacken zu unterdrücken und ruhiger zu werden. Je länger ich sie aber genommen habe, desto langsamer und müde wurde ich weshalb ich die Tabletten nicht mehr nehmen wollte. Der Termin beim Psychologen ist sehr gut verlaufen und ich ging bis Juni alle jede Wochen zu ihm. Ich kann dort gut über meinen Selbsthass mit ihm reden und ihm meine Situation erklären. Jedoch lief die Kurzzeittherapie aus, weil unsere Krankenkasse nur zu solch einer Therapie zugestimmt hat. Jetzt komm ich auch ganz gut alleine klar bis jetzt. Mit meinem Psychologen konnte ich schon viel aufarbeiten, jedoch frage ich mich in letzter Zeit immer was mit mir eigentlich nicht stimmt. Ich muss mir immer selber laut sagen, dass ich leise oder still sein soll um meine eigenen Gedanken zu unterdrücken. Ich stelle mir dort immer irgendwelche peinlichen Situationen in denen ich mal war vor und geh sie immer wieder durch. Ich kann das irgendwie nicht abschalten und muss immer mit mir selber reden. So etwas wirkt natürlich sehr merkwürdig in der Öffentlichkeit. Zudem lebe ich auch jetzt wo es kälter draußen wird immer mehr zurückgezogen. Vielleicht kann das daran liegen, dass ich nächstes Jahr Abitur mache oder einfach an der Jahreszeit aber ich bin sehr oft sehr lange alleine. Ich habe das Gefühl meine Freunde ziehen sich immer mehr von mir zurück und niemand will etwas mit mir zu tun haben. Auch macht es mich persönlich sehr fertig, dass ich immer noch starke Probleme habe Frauen anzusprechen oder irgendwie ins Gespräch zu kommen. Obwohl ich fast 1.90 bin, fehlt mir jedes Selbstbewusstsein. Ich denke immer noch jeder lacht mich heimlich aus und ich bin nur eine Witzfigur. Besonders zu schaffen macht mir der Fakt, dass mein jüngerer Bruder (17) genau das Gegenteil von mir ist. Er hat extrem viel Selbstbewusstsein und kommt überall gut an. Und irgendwie denke ich, dass meine Eltern das auch merken. Ich fühle mich in der Familie wie das kaputte Modell das durch mein Bruder ausgetauscht werden kann. Besonders die Situationen mit Frauen sind schlimmer geworden. Ich schaff es einfach nicht auf mit einer Frau auf beispielweise einer Party zu flirten oder irgendwie zu reden. Ich will das aber und ich habe schon gesagt bekommen, dass ich gut bei Frauen ankomme. Jedoch bin ich immer in solchen Situationen komplett abgeschottet und will immer schnell weg. Das merkt natürlich auch das gegenüber. Jeder in meinem Freundeskreis hatte schon mal eine Beziehung. Ich aber laufe seit 19 Jahren alleine durch mein Leben. Und wenn ich über so etwas nachdenke fang ich wieder an mich selber zu hassen und ich zittere. Vor einem halben Jahr konnte ich solch Dinge immer noch gut überspielen aber mittlerweile geht das nur noch sehr schlecht. Ich will doch einfach auch nur ein normaler junger Erwachsener sein. Ich versteh einfach nicht was ich immer falsch mache.
Vielen Dank das du dir mein Text durchgelesen hast.
Die Antwort vor einem Jahr hat mich persönlich sehr aufgebaut und mir geholfen.
M.

JuliaG Anwort von JuliaG

Hallo lieber Ratsuchende,

es ist schön, wieder von dir zu hören! Leider war ich in letzter Zeit verhindert und hatte viel zu tun, weshalb ich leider nur sporadisch aktiv war. Herzlichen Glückwunsch zu deiner bestandenen Führerscheinprüfung. :) Ich freue mich sehr für dich, dass es gleich mit dem nächsten Versuch geklappt an! Daran hast du bestimmt gemerkt, dass du sehr wohl in der Lage bist, nach einem Rückschlag wieder aufzustehen. Und stolz auf dich sein - das kannst du wirklich!

Ich freue mich auch sehr, dass dir der Psychologe gut weiterhelfen konnte und dir in eurer gemeinsamen Zeit einige Ansätze mit auf den Weg gegeben hat. Es ist wichtig, dass du da jetzt dran bleibst. Fehlschläge wird es immer wieder im Leben geben - das ist leider die ernüchternde Nachricht, die ich dir sagen muss. Wer wünscht es sich nicht: Ein lineares Leben, das ohne entmutigende Zwischen-Stopps einfach und unbekümmert in seinen Bahnen läuft? Ich glaube, dass jeder von uns manchmal von diesem leichten aber unrealistischen Leben träumt. Auch ich tue das - besonders in schwierigen Lebenslagen. Aber wir müssen auch ehrlich zu uns sein: Wir können nicht immer etwas für einen Misserfolg, der uns ereilt. Aber wir haben es in der Hand, ob wir uns so vom Schicksal gängeln lassen oder ob wir danach (zwar gebrochen) wieder aufstehen und entschlossen nach vorne schauen, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Siehe z.B. deine Führerscheinprüfung: Du hast es zwar nicht beim ersten Mal geschafft, dafür aber mit dem nächsten Versuch. Und bist du deswegen ein Versager, weil du die Prüfung wie viele andere junge Menschen nicht beim ersten Mal bestanden hast? - Nein. :) Verständlich bist du enttäuscht, weil der Flirt mit einer Frau wieder nicht funktioniert hat. Natürlich bezieht man das erst mal auf sich und fühlt sich unbeholfen. Aber warum solltest ausgerechnet du immer Schuld daran sein, wenn eine Situation negativer verläuft, als du es dir gewünscht hättest? Gerade wenn man mit Menschen interagiert (sei es um Hilfe bitten, fragen, beurteilen oder flirten), weiß man nie, wie dieses Gespräch verläuft. Jeder Mensch reagiert in verschiedenen Situationen einfach anders. Darauf kann man sich nie komplett einstellen. Und wenn ein Flirt mit einer Frau nicht so läuft, kann es daran liegen, dass man nicht so gut miteinander harmoniert oder dass die Location nicht ganz optimal zum Kennenlernen ist (Partys sind ja ziemlich laut und anonym). Lass dich bitte nicht entmutigen, weil du mehrere Versuche benötigst. Wer dich deswegen belächelt oder dich lächerlich machen will und sich dabei über dich erhaben fühlt, ist definitiv kein besserer Mensch. Ich halte es für natürlich, dass man bei einem Flirt nicht sofort "die eine" trifft. Vielleicht hat das bei deinen Freunden so funktioniert. Aber du gehst die Sache in deinem ganz eigenen Tempo an. Deine Freunde können dir Hinweise/Tipps beim Flirten geben. Vielleicht kannst du auch die festen Freundinnen deiner Freunde befragen, was sie bei einem Date besonders schön finden und wo ein Mann bei ihnen eher in ein Fettnäpfchen treten würde. All diese Sachen können dir dabei helfen, eine eigene gewisse "Strategie" zu entwickeln, wenn du eine Frau kennen lernen möchtest. Mach quasi dein eigenes Ding draus. Denn wenn du "du selbst" bleibst, wirkst authentisch/echt. Damit kommen die meisten Frauen am besten zurecht. :)

Weißt du, ich stelle in manchen Lebensbereichen ebenfalls sehr hohe Erwartungen an mich. Die kann ich meistens nicht 100%ig ohne einen Rückschlag erfüllen. In Situationen, in denen ich sehr von mir enttäuscht bin, muss ich mir immer wieder (manchmal auch laut) das Zitat von John Lennon ins Gedächtnis rufen: "Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen". Und ich muss immer wieder feststellen, dass er Recht damit hatte. Man geht bei der Erfüllung seiner Wünsche und Träume immer ein gewisses Risiko ein, zu scheitern. Und warum sollte dann nicht auch der Weg zur Erfüllung das Ziel sein? So hast die Chance, auch das kleine Glück auf dem kurvenreichen Weg des Lebens mitzunehmen!

Überlege, wer du auf diesem Weg sein möchtest. Wer warst du früher? Wie hast du dich entwickelt, dass du mit Stolz sagen kannst, wer du heute bist? Wie hast du dich dorthin entwickelt? Und wer möchtest du in Zukunft sein? Ich fände es nicht schlecht, wenn du dazu ein persönliches Tagebuch führst, in dem all deine bisherigen Entwicklungen (und besonders auch Erfolge) festhältst. :) So kannst du dir vor Augen führen, was du bisher schon alles geschafft hast und kannst dort anknüpfen, wo du vielleicht schon mit dem Psychologen daran gearbeitet hast.

In deinem Text schreibst du, dass dein Bruder komplett anders ist. Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass das nicht selten ist. Jedoch gibt es kein "besser" oder "schlechter". Geschwister kann und sollte man vor allem nicht vergleichen - nicht einmal Zwillinge! Mein Bruder und ich sind ebenfalls wie Tag und Nacht, aber trotzdem ist es unmöglich herauszufinden, wer generell besser ist. Es gibt Dinge, die kann der eine besser. Dafür ist der andere in anderen Bereichen talentiert. Du solltest dich mit deiner ganzen Persönlichkeit und deinen Fähigkeiten nicht mit deinem Bruder vergleichen, denn das würde zu nichts führen. Nimm dir bitte zu Herzen, dass du nicht auf der Welt bist, um anderen zu gefallen, wie sie es sich vielleicht wünschen! Das gilt auch für deine Eltern. Selbst, wenn sie dich einmal kritisieren sollten, dann sage ihnen: "Danke, dass ihr mir das sagt. Ich nehme euren Rat/Sorgen etc. zu Herzen. Aber ich bin nicht auf der Welt um so zu sein, wie ihr es gerne hättet". Im Grunde denke ich, dass dich deine Eltern nie im Leben austauschen würden. Nicht einmal dann, wenn dein jüngerer Bruder alles vermeintlich besser macht. Nicht nur deinen Bruder, sondern auch dich haben sie unter größten Anstrengungen großgezogen und lieb gehabt. Und wenn einem ein Mensch erst einmal so sehr ans Herz gewachsen ist (vor allem das eigene Kind!), dann gibt man ihn auch nicht mehr so schnell her. ;)


Lieber Ratsuchende, ich hoffe, dass ich dich dieses Mal wieder etwas aufbauen konnte. Ich freue mich wirklich über deine Fortschritte, die du bisher gemacht hast und bin optimistisch, dass du im Laufe der Zeit mehr Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Selbstvertrauen aufbauen kannst. Vielen Dank für dein positives Feedback! Das bestärkt mich natürlich auch in meiner Arbeit und darin, dass ich selbst nach Fehlschlägen nicht aufhören sollte, Menschen zu helfen. :)

Ich wünsche dir von Herzen das Vertrauen in deine eigene Kraft. Denn du hast das Können, dein Leben zu meistern!
Alles Gute und liebe Grüße,

JuliaG