Problem von Sia - 19 Jahre

An Paul, ich weiß einfach nicht was ich tun soll

Lieber Paul, ich hoffe du kannst mir auch diesmal antworten und das du dich wenn es geht, auch teilweise an meine früheren Fragen erinnern kannst.

Also ich bin jetzt hier in Deutschland und habe sehr viel rumgefragt... Was soll ich sagen? Ich weiß einfach immer noch nicht was ich tun, oder machen soll. Einen kleinen Überblick habe ich aber schon und zwar diese E-Mail einer Uni:

Für die Bewerbung zum Studienkolleg müssen Sie ihre Deutschkenntnisse mit Zertifikat B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens nachweisen. Je besser die Deutschkenntnisse sind, desto besser sind die Voraussetzungen aufgenommen zu werden. Erfahrungsgemäß muss man mindestens die Stufe B2 haben, um eine realistische Chance zu haben.
Die Bewerbungsfristen zum Studienkolleg sind der 15.04. für das Wintersemester (bei Zulassung erfolgt der Aufnahmetest im Juni) und der 15.10. für das Sommersemester (bei Zulassung erfolgt der Aufnahmetest im Januar)

Ich glaube ich MUSS einfach ein Studienkolleg besuchen und das zwei Semester lang. Ich habe auch schon mein Abitur anerkennen lassen, und jetzt der Schock, es wurde als Mittlerer Bildungsabschluss anerkannt! Nach zwölf Jahren Schule, Stress und jetzt das!
Ich bin mit meinen Nerven am Ende... ich weiß einfach nicht was ich machen soll, soll ich lieber studieren? Oder ist doch eine Ausbildung ein besserer Weg? Was würdest du zum Beispiel machen? Ich weiß einfach nicht was ich machen soll, ich will ja studieren nur dieses ewige hin und her macht mich total verrückt.

Ich werde am Anfang Januar einen Vertrag unterschreiben bei einem Arbeitgeber, bis dahin will ich wenigstens arbeiten und selbst etwas verdienen.

Das Problem ist jetzt wieder, du hast ja oben schon die Fristen gelesen für die jeweiligen Semester, und das ist schon am April! Was soll ich jetzt machen? Soll ich den Vertrag nicht unterschreiben, wenn ich nicht kündigen kann wann ich will?

Und dazu kommen noch meine Seelischen und Körperlichen Probleme (tut mir wirklich Leid ich höre mich bestimmt an wie eine Heuchlerin), ich habe starke Schlafstörungen. Ich glaube das kann sich keiner vorstellen.. Ich sitze um halb drei in der Früh auf meinem Bett und weine, weil ich vor Schlafmangel fast durchdrehe. Ich kriege kaum Schlaf, wenn ich mal vier Stunden schlafen würde, wäre das Glück. Abträume und ständiges aufwachen noch dazu. Ich bin die ganze Zeit deprimiert, hoffnungslos, schwach und einfach kalt, ich habe manchmal Panikattacken und denke an Selbstmord, wobei ich sogar für das zu feige wäre.

Ich stehe so unter Druck, von meinen Eltern, Familie und am aller schlimmsten bin ich selbst. Ich weiß nicht ob ich überhaupt seelisch bereit bin für irgendetwas. Meine Tante hat mich darauf angesprochen und vielleicht gehe ich zu einem Psychologen.

Wenn ich ein Studienkolleg besuchen würde, wann würdest du dich bewerben wenn du dich in meine Situation begibst? Hierzu kommt auch noch der B2 Test ich schaff es nicht bis zum April, oder? Was soll ich meiner Familie sagen? Sie wollen das ich so schnell wie möglich studiere, aber ich habe das Gefühl ich kann es seelisch einfach noch nicht, ich muss mich erst zusammenraufen, verstehen was mit mir los ist, nur sie halten nicht wirklich viel von Seelischen Erkrankungen...

Ach, ich will bitte nur deinen Rat und wie du dich entscheiden würdest in meiner Situation.
Ich will wirklich nicht so wirken als würde ich mich bemitleiden, glaub mir das tu ich nicht.

Vielen, vielen Dank Paul. Du bist wirklich (du deinem Pech haha) die Erste Person die mir einfällt meine Sorgen zu erklären bzw. zu schreiben.

Danke das es dich gibt und Alles Gute für 2017 :)

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Sia,

ich freue mich für dich, dass du inzwischen in Deutschland angekommen bist. Im Vergleich zu der Situation vor ein paar Monaten ist die jetzige viel klarer. Zwar nicht einfach - aber immerhin kennst du deine Optionen. Dass du meine Meinung einholen möchtest, ehrt mich. Leider konnte ich dir nicht so früh antworten, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hatte über Wochen starke Probleme mit meinem Internetzugang und war außerdem über den Jahreswechsel verreist, daher muss ich davon ausgehen, dass du mittlerweile die Stelle angenommen hast.

Jetzt weiß ich nicht, ob es sich hier um eine Arbeit mit einer Kündigungsfrist handelt. Ich hatte das Gefühl, das wolltest du andeuten? Vielleicht stehst du auch anderweitig unter Druck, die Stelle zu halten, wenn deine Familie es sich wünscht. Es kann also sein, dass ich deine Frage in der Art, wie du sie gestellt hast, nicht so einfach beantworten kann; vielleicht wird sich dein Studienbeginn noch einmal verzögern, wenn es dir arbeitsbedingt vorerst nicht möglich wäre, die Bewerbung für das Studienkolleg vorzunehmen. Aber, gut: Es kommen weitere Semester mit eigenen Fristen, das wäre nicht das Problem. Im Übrigen hat die Arbeit den Vorteil, dass du eigenes Geld verdienst und dich noch mehr in den Alltag in Deutschland einfindest. Im Augenblick ist es für dich wahrscheinlich besser, wenn du eine Aufgabe hast und dein Tag eine Struktur hast, als wenn du mit deinen Gedanken völlig allein wärst. Wenn du aber den Rückhalt deiner Familie hast, dann - wenn du es dir zutraust - gehe dieses Wagnis ein, versuche dich an dem Test und beginne dein Studium zum schnellstmöglichen Termin. Das wäre auch das, was ich persönlich dir wünschen würde, dass du es kannst. Jedoch sagst du zu Recht, dass zunächst einmal dein innerer Zustand die wichtigste Herausforderung ist, ehe du dich der Herausforderung des Studiums stellst. Beides hat Vorzüge und Nachteile. Ich persönlich würde, wenn ich die Wahl hätte, vielleicht eher zum Studium tendieren; weiter unten gehe ich nochmal näher darauf ein, was das fürs Leben heißt. Letztlich weißt du selbst es am besten - richte dich bitte nicht nach mir, sondern höre auf deine eigene innere Stimme und kenne die Grenzen deiner Belastbarkeit. Dass du diese erkannt hast, das beruhigt mich schon sehr.

Es tut mir wirklich sehr leid, wenn du durch meine verspätete Antwort ohne einen Ratschlag geblieben bist, und dich schon entscheiden musstest. Dann kannst du vielleicht meinen Text als Vorgriff auf die nächsten Jahre betrachten; vor ähnlichen Lebenslagen wirst du immer wieder stehen.

Die Frage, vor der du stehst, zielt ja eigentlich noch ein bisschen tiefer. Oder - was heißt ein bisschen. Je nachdem, wie die Lage sich entwickelt, kann es die Entscheidung zwischen deinem ursprünglichen Berufswunsch und einem sicheren Job sein. Das reicht sehr weit. Was den B2-Test betrifft, gehe ich davon aus, dass du ihn schaffen würdest. Schließlich hast du mir schon mehrfach deine Situation in einwandfreiem Deutsch geschildert. Ich kann mich bei meinem Urteil zwar nur auf deine bisherigen Texte hier im Kuka stützen. Aber Folgendes kann ich dir sagen: Deine Rechtschreibung ist nicht zu beanstanden, ganz im Gegenteil, du achtest darauf - anders als viele andere Problemschreiber hier, wobei ich diese damit nicht kritisieren möchte. Zudem stimmt auch deine Zeichensetzung ganz überwiegend, und wenn nicht, dann vermutlich nur, weil du nicht bewusst darauf geachtet hattest. Dein Ausdruck ist zwar etwas von Umgangssprache geprägt, jedoch gehe ich auch hier davon aus, dass du einfach andere Prioritäten hattest. Schließlich war es dein wichtigstes Anliegen, mir deine Gedanken zu schildern, wie sie dir durch den Kopf gehen, und nicht, einen vollkommen formschönen Text zu verfassen.

Hier die Definition des Sprachniveaus B2 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER):

"(Die Person) Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abstrakten Themen verstehen; versteht im eigenen Spezialgebiet auch Fachdiskussionen. Kann sich so spontan und fließend verständigen, dass ein normales Gespräch mit Muttersprachlern ohne grössere Anstrengung auf beiden Seiten gut möglich ist. Kann sich zu einem breiten Themenspektrum klar und detailliert ausdrücken, einen Standpunkt zu einer aktuellen Frage erläutern und die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten angeben."

Ich gehe davon aus, dass deine Fähigkeiten in Deutsch längst weit über dieses Niveau hinausgehen. Es macht dir nicht die geringsten Probleme, dich mir mitzuteilen, und ich hatte dich bereits während unsere bisherigen Kommunikation auf Seiten mit komplexen Inhalten verwiesen, die du stets erfassen konntest. Falls es hier und da Missverständnisse gab, führe ich das darauf zurück, dass du dich in einer emotionalen Situation befandest. Du schreibst ausführlich und kennst eine Vielzahl von Ausdrücken. Ich wüsste wirklich nicht, warum ich dich nicht mit einer Muttersprachlerin gleichsetzen sollte. (Was du auch bist - oder? Lediglich dein Aufenthalt in einem anderen Land über viele Jahre hat das Deutsche überlagert.)

Es ist denkbar, dass man diesen Test nicht beliebig oft machen kann; darüber solltest du dich informieren, für den Fall, dass du ihn doch nicht bestehen solltest (ich halte es für ganz ausgeschlossen, dass du ihn nicht bestehst!). Aber sicher ist sicher. Es spricht nichts dagegen, zunächst ein Jahr Arbeitserfahrung zu sammeln und dich mit der neuen Situation noch besser vertraut zu machen. Vielleicht ergibt es sich, dass du in eine andere Stadt ziehst, um dort zu studieren, oder dass es aus irgendwelchen Gründen sinnvoll ist, zuerst ein wenig Geld angespart zu haben. Zumal wenn du bereits eine Arbeit angetreten oder zumindest zugesagt hast, würde ich dir empfehlen, mit der Bewerbung noch bis zum Wintersemester zu warten. Es schafft emotionalen Druck für dich, einen Job, kaum angetreten, schon wieder kündigen zu müssen, und entsprechend auch den Test unbedingt bestehen zu wollen. Das alles müsstest du kommunizieren und erklären, und das ist vielleicht einfacher, wenn du in der Arbeit schon gefestigt bist. Hinzu kommt, dass es - wie gesagt - deinen Einstieg in den Alltag erleichtert und dir Aufgaben vorgibt, die dich fordern. Nach der Schulzeit kann es schwierig sein, wenn man gewohnt ist, immer eine Anweisung zu bekommen, sich über Tage und Wochen selbst zu strukturieren, selbst wenn eine so wichtige Prüfung bevorsteht. Ich traue dir auch das vollkommen zu. Doch du hast in den letzten Monaten schon so viel Belastung ausgehalten, weil du nicht wusstest, wie die Dinge innerhalb der nächsten Zeit stehen würden, dass es dir vielleicht angenehmer wäre, jetzt wenigstens für einige Monate genau zu wissen, was täglich anliegt, und keine Fristen vor der Tür stehen zu haben. Schließlich wäre dir zu wünschen, dass du es auch ein wenig genießen kannst, deinem Ziel näher gekommen und in Sicherheit zu sein. Du kannst sehr stolz auf dich sein, bis hierher durchgehalten zu haben! Ich hoffe auch sehr, dass du hier in Deutschland nicht etwa mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert wirst. Du hast dich bemüht, hast gekämpft, und bis zu einem bestimmten Punkt hast du dir den Weg bereits "freigeschlagen": Warum also sollte es nicht noch weiter gehen? Ich wünsche dir sehr, dass du in Sachen Zukunft optimistisch sein kannst.

Du bist noch jung und kannst dir auch deshalb noch etwas Zeit mit deiner Entscheidung lassen. Andererseits wäre es, wenn du familiären Druck hast, möglicherweise sinnvoller, wenn du zuerst etwas arbeitest und klare Verhältnisse vorweisen kannst. Das beruhigt die Gemüter der Anderen, die sich Sorgen machen, was aus dir wird oder Ansprüche an dich haben. Natürlich solltest du dir unbedingt auch die Gedanken machen, die du dir gerade machst: Möchte ich lieber einen Job haben, um Geld zu verdienen - vielleicht auch einen, der mir schon Freude macht, aber eben nicht mein Traumberuf? Oder möchte ich meinem Traum folgen, auf das Risiko hin, dass es viel Zeit kostet und ich noch eine Weile von Anderen abhängig bin? Nun ist es natürlich so: Da bei dir der Besuch des Studienkollegs dem vorgeschaltet ist, verlängert sich diese Zeit noch. Wenn du dich nicht direkt dort bewirbst, würdest du in anderthalb Jahren mit dem Studium beginnen. Ich bin jetzt bald 22, bin in meinem dritten Semester - ich habe in der Schulzeit ein Jahr durch Krankheit verloren, und nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht. In Deutschland gibt es durchaus nicht wenige wie dich, die aus verschiedenen Gründen noch andere Stationen vor dem Studium durchlaufen. Du weißt selbst am besten, wie viel du dir bei deinem Umfeld erlauben kannst, und wie deren Wünsche sind. Wenn ich es richtig erinnere, wolltest du ein Studium der Sozialpädagogik beginnen. Sinnvoll wäre es, wenn du dir schon jetzt Gedanken machst, was für eine Arbeit du einmal ganz konkret machen möchtest. Dann kannst du auch abschätzen, wie lange du studieren musst, um die nötige Qualifikation zu erreichen. Dass dein Schulabschluss nur als Mittlerer anerkannt werden würde, das wussten wir im Grunde schon lange. Bereits an deinem früheren Aufenthaltsort hat die E-Mail des Uni-Sekretariats dir ja genau das sagen wollen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass deine Noten zu schlecht oder du persönlich nicht recht gewesen wärst, sondern damit, dass lediglich der deutsche Staat den Abschluss, der im Irak zu einem Hochschulstudium berechtigt, in Deutschland für nicht ausreichend hält. Das betrifft nicht nur dich - es wäre also falsch, wenn du darin eine persönliche Niederlage sehen würdest. Du hast jetzt sogar die Gelegenheit, dich noch intensiver einzuarbeiten und allen zu zeigen, dass du es drauf hast. Und ich bin sicher, das wird dir gelingen.

Wahrscheinlich ist es wichtig, dass du auch deiner Familie ganz klar machst, was deine Ziele sind, und dich nicht verbiegen lässt. Es kann schon helfen, wenn du ihnen genau erklärst, wie der Weg ist und wo du enden möchtest, damit sie wenigstens eine Vorstellung davon haben. Ich hoffe sehr, dass du auf Verständnis stoßen wirst - schließlich hast du diesen langen Weg nicht zurückgelegt, um dich am Ende fremden Wünschen zu beugen. Es ist in der Tat so, dass es in Europa ein wichtiger Wert ist, sich selbst zu verwirklichen (wie du es ja mit deinem Studium tun möchtest). In anderen Ländern ist man da oft praktischer eingestellt und legt mehr Wert darauf, einen Brotberuf zu haben oder einen, der krisensicher ist. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Das Schlimmste wäre jetzt, wenn du dich selbst unter Erfolgsdruck setzt: Ich bin sicher, dass du das Zeug zu einem Studium und zum Bestehen des B2-Tests hast. Wenn du aber über Monate nichts als den Gedanken kennst, dass es katastrophal wäre, es nicht zu schaffen, wirst du am Ende vor lauter Nervosität vielleicht schlechter abschneiden. Daher: Mach dir einen Plan, und sage dir stets, dass du auf dem richtigen Weg bist. Ich vertraue darauf, dass du dich nicht unter Wert verkaufen wirst.

After all - wie würde ich persönlich mich entscheiden? Nun, das hinge wahrscheinlich sehr davon ab, um was es sich ganz konkret handelt. Wenn du eine Arbeit hast, die dich befriedigt, in der du dich nicht unter Wert verkauft fühlst und von der du leben kannst, dann kann es sein, dass man sich gegen ein Studium entscheidet - auch wenn man ursprünglich den Wunsch und auch die Fähigkeit dazu hat. Wenn man aber ständig unterfordert ist oder die eigenen Verdienste nicht so gewürdigt und vergütet werden, wie es einem angemessen scheint, dann ist es besser, sich darüber zu erheben. So kannst du auch gegenüber denjenigen argumentieren, die Kritik an dir haben: Ohne Ausbildung kann man arbeiten - immerhin hast du einen Schulabschluss, der sich sehen lassen kann. Jedoch wird man ohne (wenigstens) eine Ausbildung stets einen schweren Stand haben, daher sollte man wenigstens das machen. Eine Ausbildung kostet dich im Schnitt drei Jahre - vier, wenn du die ganzen Bewerbungszeiten vorher und nachher einrechnest. Ein Studium kostet dich fünf oder sechs Jahre, und du kannst damit noch deutlich mehr anfangen. Die Ausbildung hat natürlich den Vorteil, dass du dabei eigenes Geld verdienst; andererseits wirst du mit etwas, das nicht deinen Interessen und Fähigkeiten entspricht, vielleicht auch stets weniger gute Arbeit leisten können. All diese Dinge gilt es sorgfältig abzuwägen: Ich weiß nicht, ob ich die Kraft hätte, meine Wünsche gegen kritische Verwandte oder Freunde durchzusetzen - aber ich würde etwas machen wollen, von dem ich leben kann und womit ich das Gefühl habe, gebraucht zu werden und einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.

Zu deinen persönlichen Problemen: Sia, ich erwarte keinesfalls, dass du mir Details über deine letzten Jahre verrätst. Zumindest weiß ich sehr wohl, dass du längere Zeit in einem Land gelebt hast, in dem der Frieden brüchiger ist als hier, und in dem der Staat und seine Netze nicht so tief reichen. Ich befürchte zwar, dass wir auch in Deutschland einer Zeit näher kommen, in der der Einzelne immer weniger zählt, vielleicht sogar - überhaupt nicht registriert wird, wenn er untergeht. Was dich betrifft, so wäre es falsch, dir Vorwürfe zu machen, weil du psychische Probleme hast. Nicht genug damit, dass du den Stress um deinen Abschluss und deine Zukunft hast ausstehen müssen - du hast ja die alte Sia nicht am Abreiseflughafen zurückgelassen. Du bist derselbe Mensch, der du warst, woher du gekommen bist. Man kann vor Nachrichten, Gefühlen und Erinnerungen nicht fliehen, man nimmt sie mit. Solltest du von dir selbst erwartet haben, in Deutschland auf einmal die dreifache Energie und Lebensfreude zu entwickeln - gib diesen unrealistischen Anspruch lieber schnell auf. Was immer du erlebt hast, hast du nicht hinter dir gelassen, du trägst es weiter in dir, und es macht etwas mit dir. Hinzu kommt, dass man nicht einfach mal so einen Menschen um tausende Kilometer verpflanzt, ohne dass es etwas mit ihm macht. In deinem bisherigen Wohnland hattest du auch ein Umfeld, eine emotionale Beziehung zu den Dingen, die dich umgeben - selbst wenn Unruhen, Krieg und Angst das Heimatgefühl untergraben. Man kann nicht einfach vergessen, was einem passiert ist. In dir mischen sich Angst um deine Lieben, Schmerz über den Verlust dessen, was seit Jahren deine Welt war, mit der Furcht vor der Zukunft, dem Druck von außen und den ganz persönlichen, vielleicht ganz furchtbaren Erlebnissen, die dir widerfahren sind. Du solltest das keineswegs auf die leichte Schulter nehmen; es bleibt eine lebenslange Verwundung.

Natürlich gibt es auch hier in Deutschland genügend Menschen, die von den Vorzügen der privilegierten Gesellschaft kaum etwas mitbekommen; und ihre Zahl nimmt ständig zu. Die Folgen sind Frust, Ärger, Hoffnungslosigkeit, die Konsequenzen sind Gewalt, Krankheit und Schmerz. Und wenn jemand nicht früh genug das Glück hat, dass sich jemand seiner annimmt, dann können die Folgen dieser giftigen Mischung manchmal sehr bitter sein. Ich kann dir einen direkten Ansprechpartner nicht ersetzen, Sia - und falsch wäre es auch nicht, über eine Therapie nachzudenken, wenn der Druck in dir unerträglich wird. Am wichtigsten aber ist es, wenn du jeden Morgen aufstehen und dir sagen kannst: "Hier bin ich, das steht an... das sind meine Ziele... dafür lebe ich." Hier siehst du auch die Bedeutung, die deine Entscheidung für die Zukunft für dich hat. Solange du nicht weißt, woran du arbeitest, wohin du gehst, kann das Gefühl der Angst und der Wunsch nach Erlösung aus allem schnell erdrückend werden. Versuche daher, dich nicht einzuschließen, sondern nimm am Leben teil: Schaffe dir Beschäftigung, und einen Rhythmus, solange Arbeit oder Studium dir keinen vorgeben. Dein größter Feind ist ungenutzte Zeit - Zeit, in der du mit deinen Gedanken und Ängsten allein ist. Versuche, soweit es möglich ist, Menschen um dich zu haben und dir Aufgaben zu geben. Es gilt, sich den Alltag Stück für Stück zu erobern; das ist nicht leicht. Ich maße mir nicht an, verstehen zu können, was du gesehen und erlebt hast. Doch raten kann ich dir nur, was auch für einen Menschen wie mich, der in größerer Sicherheit und Stabilität aufgewachsen ist (obwohl auch mein Leben schon auf Messers Schneide stand), am besten wäre: Dich nicht zurückzuziehen, sondern am Leben teilzunehmen und - vor allem zu versuchen, an der Heiterkeit der Menschen teilzuhaben. Wann hast du zuletzt in einem Café gesessen oder wann bist du zuletzt im Kino gewesen? Wann hast du zuletzt in einen vorbeifließenden Fluss geblickt oder dein Zimmer neu dekoriert? Schon die kleinsten Dinge - vom Schälen eines Apfels bis hin zum Kauf einer CD - können meditativen Charakter haben. Wichtig ist, dass man sie sich vornimmt, plant und ausführt. Mit allem, was davor kommen muss und allem, was dazugehört. Tag für Tag. Solange man scheinbar unbegrenzt Zeit, es ist leicht, die Dinge immer und immer weiter aufzuschieben; doch je mehr man das tut, desto größer wird die Depression und mit ihr die Gefahr, für die schönen Dinge des Lebens blind zu werden.

Ich wünsche dir gute Gedanken und eine ruhige Umgebung in der nächsten Zeit, damit du tun kannst, was zu tun ist. Du kannst jederzeit wieder schreiben; übrigens ist es mir als Kuka- Mitglied möglich, die bisherigen Texte weiterhin einzusehen und noch schneller wiederzufinden, als die Äußeren das mit der Suche auf der Hauptseite können. Du musst also keine Angst haben, dass ich den Bezug zur Entwicklung deiner Situation verliere. Ich hoffe, du bist gut in das neue Jahr gestartet und wirst eine schöne Zeit in ihm haben.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul