Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

es hat sich gezogen, bis du eine Antwort erhältst. Ich muss gestehen, dass ich schon zweimal mit meinem Text fertig war, und ihn schon zweimal gelöscht habe. Der Grund ist eigentlich ganz simpel: Es ist denkbar, dass du dich oft und leicht verliebst. Allerdings - was willst du dann machen? Du kannst ja nicht gegen dich selbst an. Du kannst nur lernen, damit umzugehen. Ich merke, dass du dir von mir eine Bewertung wünschst - ist das gut oder schlecht? -, ich dir diese Bewertung aber nicht geben kann und möchte, weil du es dir nicht ausgesucht hast; auch erklären lässt es sich nur unzureichend. Was ich dir viel lieber mitgeben möchte, ist etwas, was dir helfen kann, einen sinnvollen Umgang damit zu finden. Weil die Versuchung aber groß ist, trotzdem zu mutmaßen und zu bewerten, bin ich zweimal an dieser Aufgabe gescheitert.

Ich finde, man kann nicht wirklich sagen, dass diese Dinge etwas mit dem Alter und der Erfahrung zu tun haben. Dasselbe kann einem auch noch mit vierzig passieren, nach drei Scheidungen. Ich möchte mal einen Satz aus deinem Text aufgreifen, über den ich nachgegrübelt habe:

"Ist das normal, dass ich so oft andere Männer attraktiv finde? Gefühlt, alle paar Monate jemand anderes? Dass ich mir manchmal wünsche, sie würden "genauso fühlen" und mich in einem unbeobachteten Moment in eine Ecke drängen und küssen? (Ich komme mir so unglaublich blöd vor.)"

Mir fiel auf, dass du dieses Bild mit dem "in die Ecke drängen" schon einmal in deiner letzten Zuschrift verwendet hast. Es sieht aus, als wäre das tatsächlich eine konkrete Fantasie von dir? Ich finde bemerkenswert: Du hast nicht geschrieben "Ich wünsche mir, ihn zu mir einzuladen und ihm die Kleider vom Leib zu reißen", oder auch nicht "Ich würde mir wünschen, dass er mir Komplimente macht und mir seine Liebe gesteht". Das Bild, das du gewählt hast, sticht dadurch heraus, dass nicht du die Handelnde bist, dass du nicht mit irgendetwas "umgehen" musst - beispielsweise damit, dass dein Arbeitskollege sich in dich verliebt, oder dass du deinen Freund betrügst - nein, du wirst von jemand anders vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Würde dieses "in eine Ecke drängen" wirklich passieren, würden Außenstehende (darunter auch ich) es vermutlich als sexuelle Belästigung werten, vielleicht sogar schon als Nötigung. Und du: Würde es dir wirklich gefallen? Oder würde es sich in diesem Moment nicht falsch anfühlen? Die Spannung muss sich ja aufbauen. Völlig unvorhergesehen wäre es wahrscheinlich eher erschreckend, oder sogar eklig für dich. Sofern wir mal annehmen, dass du es nicht völlig entsetzlich fändest, so wie im Grunde jede, die das ohne ihre Zustimmung erlebt (!) Deine Fantasie gilt dem Ausgang einer Situation, aber sie nimmt keine Rücksicht darauf, dass dem etwas vorausgehen muss: Augenzwinkern, verschämte Blicke; streichelnde Finger, sich auf die Lippe beißen, lachen und flirten; und wenn das passiert, dann wüsstest du schon hundertmal, dass du im Begriff wärst, fremdzugehen. Aber genau diese Vorentwicklung, dieses Bewusstsein sind es ja, die bisweilen einen One-night-stand von einer Vergewaltigung und einen Kuss von einer Nötigung unterscheiden. Daher, seien wir ehrlich: Es wird nicht passieren. Es sei denn, du leistest selbst Vorarbeit und sendest Signale aus. Genau davon aber träumst du nicht. Mithin: Dein Kollege, so wie vorher dein Bekannter, ziehen dich an, auch körperlich - aber ist das tatsächlich Liebe? Ich kann es nicht entscheiden. Ich wüsste aber auch nicht, was prinzipiell an diesen Fantasien falsch sein sollte - außer deiner Bewertung, dass sie nicht sein dürften.

Ich kann dir nur raten: Lass es zu, dass du andere Männer attraktiv findest, habe Träume von ihnen und mit ihnen, und gerne auch von mehr als nur vom Küssen. Und höre stattdessen auf, dir vorzuwerfen, dass du etwas nur zu Menschliches erlebst. Ich würde anders schreiben, wenn du etwas geschildert hättest, das den Anschein erweckst, du würdest dir mit einem
anderen Mann tatsächlich das wünschen, was du mit deinem Freund hast. Aber davon merke ich bei dir nichts. Oder wünschst du dir, mit deinem Kollegen im Kino zu kuscheln? Mit ihm das Weihnachtsessen zu kochen? Mit ihm eine gemeinsame Wohnung einzurichten? Ihn deinen Freunden vorzustellen? Okay, ich baue diese Fragen jetzt auch auf einem Beziehungsbild auf, das vielleicht bisschen kitschig und romantisch ist, ich weiß halt nicht, wie du und dein Freund das lebt, ich bin selbst eher der romantische Typ. Was ich aber sagen will: Das, was du gegenüber anderen Männern fühlst, sehe ich als eher körperlich getragen. Natürlich ist die Fantasie, wenn du sie ständig um dich hast, präsenter, sodass sie fast schon zum "Wunsch" werden kann. Andererseits streitet dieser "Wunsch" ja mit dem Willen, deinem Freund treu zu bleiben. Und was könntest du statt seiner gewinnen? Wenn du diese Frage nicht beantworten kannst - das heißt, wenn nicht ganz klare Bilder in deinem Kopf aufploppen - dann, denke ich, solltest du diese Schwärmerei als etwas Gutes akzeptieren und dich nicht geißeln für etwas, was du doch nicht verhindern kannst. Ich glaube kaum, dass es ein Paar auf der Welt gibt, in dem kein Teil nicht wenigstens hin und wieder von einem anderen Mann / einer anderen Frau träumt. Warum auch nicht? Du liebst deinen Freund, aber er wäre durchaus nicht der einzige Mann auf der Welt, mit dem du glücklich sein könntest. Da ihr aber ein Paar seid, und glücklich seid (oder?), musst du dieser Tatsache nicht nachgehen, da jeder Versuch den schmerzhaften Verlust von Dingen nach sich zöge, die du lieb gewonnen hast.

Wenn du dich nämlich nicht entscheidest, diese Bilder zu akzeptieren, weil sie (solange es Bilder bleiben) ja nicht falsch sind, bleibt dir nur die Möglichkeit, immer wieder die Flucht zu ergreifen, damit der Mann, auf den deine Fantasien sich gerade richten, dich nicht mehr behelligt. Aber du willst doch nicht den Job aufgeben? Einmal, zweimal, zwanzigmal? Du kannst dich natürlich auch ständig selbst zur Ordnung rufen, dir zusprechen: "Ich habe einen Freund. Er ist sympathisch, aber er ist es nicht wert." - was auch eine dauernde emotionale Belastung bedeutet. Du kannst mit reiner Willenskraft erreichen, deinen Freund nicht zu betrügen - das tut jeder, der in einer Beziehung ist. Aber im Übrigen kommst du gegen dein eigenes Gehirn ja nicht an, oder wie stellst du dir das vor? Ich denke wirklich, dass es eine Frage der Bewertung ist. Und wenn daraus doch mehr wird, wenn die Sache konkret zu werden droht - dann kannst du immer noch die Reißleine ziehen. Dafür sind solche Fantasien, wie du sie hast, aber keine Voraussetzung - das kann auch Leuten passieren, die sich in ihrer Beziehung sehr gefestigt glauben. In keinem Fall ist es in Ordnung, ohne Billigung des Partners ihm untreu zu sein. Aber du solltest nicht denken, dass du etwa zur Untreue geboren wärst, und dich dafür verurteilen, nur weil du andere Männer attraktiv findest.

Wenn du mich fragst: "Ist das normal?" Von dem her, was du beschreibst, möchte ich spontan sagen: "Ja, es ist normal." Was mir dabei im Weg steht, ist die Bewertung, die du selbst gegeben hast, und dich mich dann auch wiederum nachdenken lässt - "Hm, ist das nicht doch ein bisschen sehr...?" Ich weiß es nicht! Es ist Bewertungssache. Ich kann dir nur von mir sagen, dass ich eine Freundin habe, die ich sehr liebe und mit der ich eine gemeinsame Zukunft möchte. Aber hey - natürlich gibt es andere Frauen, die ich attraktiv finde, und an denen sich von Zeit zu Zeit meine Gedanken abarbeiten. Trotzdem würde ich sie nie betrügen, da ich weiß, was ich an ihr habe, und alles Andere erstmal nur Träumereien sind. Ich halte nichts in der Hand als Fantasien. Sie dagegen sitzt neben mir, hält meine Hand und denkt laut über die Namen unserer gemeinsamen Kinder nach. Der Vergleich hinkt also ganz gewaltig. Das alles bewirkt aber nicht, dass die Fantasien aufhören. Und ich gehe davon aus, dass es meiner Freundin ganz genauso geht - es sei denn natürlich, sie lässt sich dabei von einer Konvention einengen. Dir geht es vielleicht auch so. Die Konvention sagt nämlich, dass es normal ist, wenn Männer Pornos gucken, Frauen hinterher pfeifen und flirten - bei Frauen ist die Bewertung eine ganz andere. Zumindest oft. Und könnte es nicht sein, dass du eben dieser Bewertung erlegen bist? Wie würde der Großteil der Gesellschaft es wohl finden, wenn dein Freund einräumte, dass er bisweilen von anderen Frauen träumt, vielleicht auch sexuell? Wahrscheinlich würde man lapidar sagen, "Ja, ist halt ein Mann." Du bist eine Frau - und die Verurteilung fängt schon bei dir selbst an. Das ist Käse. Du hast das Recht, zu träumen, und du hast auch das Recht, dass die Gesellschaft dich für integer genug hält, deinem Freund trotzdem treu zu bleiben. Deshalb, beginne bei dir, und bringe dir selbst dieses Vertrauen entgegen. Dann wirst du auch - was du wirklich solltest - deine Fantasien genießen können, und deutlicher merken, was eine wirkliche, gefundene, entwickelte, gewachsene Beziehung demgegenüber bedeutet.

Alles Gute, Liebe Grüße und ein glückliches 2017,

Paul