Problem von Anonym - 22 Jahre

Transsexualität

Erstmal hallo an euch und ich hoffe das ihr mir weiter helfen könnt. Ich fühle mich schon von kleines kind auf immer wie ein junge. Ich kleide mich auch dementsprechend und auch meine haare sind kurz. Ich habe mich auch ein paar mal in frauen verliebt aber es niemandem erzählt. Ich weiß das ich nicht lesbisch bin, das ist anders. Meine familie weiß nichts weil sie es niemals akzeptieren würden. Mittlerweile halte ich es nicht mehr aus. Das bin einfach nicht ich. Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich hab sogar nach OP's rechachiert für eine Geschlechtsumwandlung, aber ich möchte meine familie auch nicht verlieren. Bitte helft mir weiter, denn ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich habe sogar an Selbstmord gedacht oder von zu hause weg zu laufen.

Judith Anwort von Judith

Liebe Unbekannte,

Vielen Dank für Deinen Mut und Deine Offenheit. Ich finde es ganz toll, dass Du Dich aufgerafft und uns geschrieben hast. Denn das Aussprechen von Problemen ist der erste Schritt um eine Lösung zu finden.

Ich bin zwar keine Psychologin und kann daher nur bedingt nach bestem Wissen und Gewissen meine Antwort geben, aber ich will es mal versuchen.

Ganz zu Anfang: Selbstmord ist keine Lösung. Wirklich! Ich verstehe, dass Du in einer wirklich schmerzhaften Situation bist - aber es gibt Lösungen. Und Dir das Leben zu nehmen ist keine.

Falls die Gedanken, Deine Verzweiflung ganz schlimm werden, dann bitte ruf die Seelsorge Hotline an. Glaub mir: Es gibt IMMER einen Ausweg. Hier die Nummer:
0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 (Anruf ist kostenfrei).

Das Problem, das Du beschreibst, hat für mich mehrere Ebenen, die ich mal an Deiner Stelle versuchen würde zu trennen:

1. Deine enge Beziehung zur Familie.
2. Dein Gefühl im falschen Körper zu sein
3. Deine Gefühle für Frauen

Fangen wir mal mit dem ersten an, Deiner engen familiären Bindung. Du bist 22, und damit erwachsen. Ich weiss nicht, ob Du noch daheim wohnst, aber selbst wenn: Du bist ein eigenständiger Mensch und hast ein Recht auf Deinen eigenen Lebensstil. Ob dieser nun transsexuell, homosexuell oder etwas anderes ist: Es ist ganz allein Deine Entscheidung. Es ist nicht einfach, sich von seiner Familie und deren Werten und Ansprüchen zu lösen. Ein stückweit bleibt man immer Kind und möchte gefallen, alles „richtig“ machen und so Anerkennung und Liebe von den Eltern oder anderen Bezugspersonen erfahren. Aber es gehört dazu, dass man seine eigenen Entscheidungen trifft, nicht die, die die Eltern gutheissen.

Das zu lernen und durchzuziehen setzt Abgrenzung und Selbstbewusstsein voraus, und das ist ein Prozess, der etwas Zeit braucht. Hier sind Links, wo Du zu dem Thema etwas findest:
https://angelikawende.blogspot.fr/2014/01/aus-der-praxis-die-ursachen-der.html
http://www.zartbesaitet.net/Liebevoll_abgrenzen.pdf
(letzterer ist eher auf hochsensible Personen, HSP, ausgerichtet, aber dennoch interessant).

Quintessenz: Lerne Dich zu lieben, ohne die Anerkennung anderer. Diese ist zwar wichtig und schön, aber zuerst musst Du Dich so lieben, wie Du bist. Selbst, wenn Du momentan auf der Suche nach Deiner Identität bist. Auch diese Suche ist Teil von Dir.

Zum zweiten. Das Gefühl, im falschen Körper zu sein.
Weisst Du, liebe Unbekannte, ich bin vorsichtig, Dich gleich in Deiner Annahme zu bestätigen, dass Du transsexuell bist. Dazu weiss ich zu wenig, und kann das nicht beurteilen. Viele Soziologen argumentieren auch, dass Geschlecht gar nicht so binär (männlich/weiblich, entweder/oder) ist, wie man lange angenommen hat. Es gibt Menschen, deren äusseres Geschlecht nicht mit dem Hormonspiegel übereinstimmt. Es gibt Intersexualität. Dies alles ist okay – es ist gesellschaftlich konstruiert, dass alle immer in die Norm des „entweder-oder“ passen müssen. Es gibt mehr Grauzonen als eindeutiges Schwarz-Weiss.

Um herauszufinden, was mit Deiner körperlichen Identität los ist, horch mal in Dich, und besprich das auch mal mit einem Psychologen oder mit Menschen aus transsexuellen Selbsthilfegruppen. Wie „fühlt“ man sich männlich und weiblich? Quälen Dich die weiblichen Geschlechtsmerkmale und die Weiblichkeit, mit allem, was dazugehört (Menstruation etc.)? Oder lehnst Du die Rolle der Frau ab? Es kann sein, dass Du im „falschen“ Körper steckst und mit Hormontherapie und Geschlechtsangleichung eine Lösung gefunden wird. Aber bis diese Entscheidung getroffen wird, rate ich Dir zu Gesprächen mit anderen und zu einer Analyse Deiner Gedanken und Gefühle.

Hier ein Link, der erste mit Tipps und Adressen, der zweite ein ZEIT Artikel zum Thema, der Dich vielleicht auch interessiert:
http://www.gendertreff.de/links/
http://www.zeit.de/2015/15/transgender-transsexualitaet-serie-transparent-queens

Und schliesslich zu Deinen Gefühlen für Frauen.
Sexuelles Begehren und Geschlechteridentität sind zwei verschiedene Dinge. Dass Du Gefühle für Frauen hast und heute selbst im Körper einer Frau steckst, macht Dich noch lange nicht „lesbisch“. Mein Tipp hier ist: Trenne mal das „Labeling“ und das Bedürfnis, alles in eine Schublade mit einer klaren Beschriftung stecken zu wollen von Deinen Wünschen und Deinen Gefühlen. Du magst eine Frau? Es fühlt sich schön an, auch körperlich? Dann geniess es. Unabhängig davon, ob Dich das von aussen betrachtet lesbisch macht, oder -solltest Du ein „Mann werden“- wieder hetero. Das ist doch im Endeffekt den Gefühlen egal, wie man sich benennt.

Mein Eindruck ist, dass Du Dich, wenn Du 1. & 2. geklärt hast, so annehmen kannst, wie Du bist. Und dann wirst Du auch 3. geniessen können ohne Vorbehalte und ohne das Gefühl zu haben, etwas „falsch“ zu machen oder „nicht richtig reinzupassen in die Gesellschaft“.

Ich hoffe, ich konnte Dir Mut machen! Geh auf Leute, die Ähnliches erleben wie Du, zu! Tausch Dich aus, ohne Scham. Stärke Dein soziales Netzwerk, baue einen Bekanntenkreis auf, der versteht, wie es Dir geht. Und dann wirst Du sicher selbstbewusst Deinen Weg gehen.

Ich wünsche Dir alles Gute.

Herzlich,
Judith