Problem von Lonely - 26 Jahre

PaulG bitte hilf mir noch einmal...

Liebes Kuka Team aber vor allem lieber Paul G.,

Ich hoffe Du erinnerst Dich noch an mich, wenn nicht, ist es auch nicht schlimm, aber ich habe mich wirklich gern mit Dir unterhalten bzw. über mein Problem diskutiert...

Ich hoffe daher inständig, dass wieder Du mein Ansprechpartner bist... Was keine Wertung über das Team aussagen soll, ich mag es nur, mich immer mit der gleichen Person zu unterhalten....

Diesmal geht es über etwas, was mich schon seit Jahren beschäftigt, aber jetzt nicht länger auf die lange Liste verschoben werden sollte..

Es geht um meine schwerbehinderte jüngere Schwester Ö. Sie ist von Geburt an Spastikerin und sitzt im Rollstuhl. Ich erzähle Dir erst einmal ein paar Sachen, bevor ich zum eigentlichen Problem komme, in Ordnung?

Ö. war bis sie 14 Jahre alt war immer bei uns zu Hause, Da wir im 3 Stock ohne Aufzug wohnen wurde sie damals immer mit dem Schulbus und ihren Fahrern abgeholt und wieder heimgebracht. Sie ist ein sehr fröhliches und liebes Mädchen gewesen immer hungrig und laut aber lebhaft.

Allerdings kam irgendwann der Zeitpunkt an dem wir entscheiden mussten, ob wir in eine andere Wohnung umziehen (eine behindertengerechte am besten im Erdgeschoss) oder ob Ö. in ein Pflegeheim kommt. Natürlich wollten wir um jeden Preis, dass wir die Wohnung bekommen, allerdings waren diese allesamt unerschwinglich...

Also blieb uns schweren herzens nur zweitere Möglichkeit übrig.

Ö. kam in eine super Einrichtung, in der sie nicht nur toll betreut und sogar richtig schick gemacht und gesundheitlich immer nur nach besten Ärtzen geschaut wurde, sondern auch immer gemeinsam größere Reisen unternommen wurden, also wirklich alles, was uns alleine nie möglich gewesen wäre... Sie war sogar regelmäßig beim Friseur, es war traumhaft. Und Ö. war glücklicher, als wir es uns je erträumt hätten. Und das war die Hauptsache.

Der Haken, da sie selbst entscheiden sollte, in welche Einrichtung sie möchte, war sie letzten Endes Kilometer weit weg von uns...
In den regulären Schulferien wurde sie immer heimgebracht, oder wir haben sie mit dem Auto besucht, als wir noch eins hatten...

Allerdings gab es dort noch zwei Sachen, die ich bis heute nicht gut finde.

Erstens, dass diese Einrichtung nur bis zum "Abschluss der Ausbildung" von den Betreuten zur Verfügung steht. Klar wussten wir das von Anfang an, dennoch.

Zweitens und dieser Punkt ist überaus erheblicher, da Ö. durch ihre Behinderung ständig krampft hat ihre Bezugsbetreuerin, die damals übrigens das volle Sorgerecht für Ö. hatte, da es Entfernungsmäßig und bei Notfällen zu umständlich gewesen wäre, wenn meine Eltern entscheiden sollten... Sie hat meiner Schwester eine Baclofenpumpe unter die Bauchdecke einsetzen lassen. Diese sollte dazu dienen, dass Ö. weniger Tabletten einnehmen müsse.

Aber der gewünschte Effekt blieb leider aus, die Baclofenpumpe hat überhaupt nichts gemacht, außer eine dicke Narbe auf Ös. Bauch hinterlassen und die Pumpe ist auch eindeutig sichtbar.

Seit Ende 2011 Anfang 2012 ist sie wieder in unserer Nähe natürlich, hat sie auch das selbst entschieden es gab 3 weitere Einrichtungen zur Auswahl aber sie hat diese ausgesucht.

Anfangs war es super, da man jederzeit zu ihr hin gehen kann und sie auch mit nach draußen nehmen kann, aber mit der Zeit verlor sie immer mehr an Gewicht, hatte ungepflegte Haare, Pickel und Mundgeruch, sie schien auch nicht mehr wirklich glücklich zu sein und ständig gehen Sachen von ihr verloren.

Als wir das hinterfragt haben, stießen wir auf Unverständnis und Rechtfertigung, dass sie zu wenig Personal hätten, aber Fakt ist sie kümmern sich mehr um "laufende und selbstroller" als um sie!

Heute war mein Vater bei ihr, da ich durch einen blöden Bruch und jetzt auch noch Magen Darm Grippe schon länger nicht mehr bei ihr war hab ich sie im Januar das letzte Mal gesehen gehabt und da war sie schon abgemagert aber als er mir heute die Bilder gezeigt hat hab ich vor Wut geweint...

Ich weiß nicht, was wir tun können, Ö. will dort nicht weg und es kümmert sich keiner wirklich um sie....

Ich bin echt verzweifelt, ich hab auch schon recherchiert, aber irgendwie weiß ich trotzdem nicht, an wen ich mich da wenden kann... Ich hoffe wirklich, dass Du mir helfen kannst..

Liebe Grüße Deine

Lonely

PS Frohes neues Jahr (ich weiß ziemlich verspätete aber besser als nie :D) und die F. Sache hat sich erledigt...

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Lonely,

gerne antworte ich dir wieder, nur bin ich in den vergangenen Tagen nicht gleich dazu gekommen. Ich muss gestehen, dass ich leider auf dem Gebiet nicht sehr bewandert bin; auch deswegen hast du eine Weile warten müssen. Wenn sich neue Dinge ergeben haben oder in der kommenden Zeit etwas passiert, wäre es auch für mich interessant, davon zu hören. Zunächst mal hoffe ich, dass es dir persönlich - den Umständen entsprechend - gut geht, und dass auch du gut in 2017 gestartet bist. Dass die Geschichte mit F. vorbei ist, ist überraschend zu hören - ich dachte zuletzt noch, dass du recht stark an ihm hängen würdest. Aber ich möchte diesen Ausgang hier gar nicht bewerten, sondern freue mich nur grundsätzlich, dass sich in deinem Leben etwas bewegt hat. Nun hoffe ich, dass ich dir auch für die Problematik mit deiner Schwester eine Hilfestellung geben kann.

Deine Wut und dein Frust sind mehr als nachvollziehbar! Was ich im Folgenden sage, bitte ich dich zu korrigieren, wenn ich von falschen Tatsachen ausgehe. Wenn ich deinen Text richtig verstehe, dann ist deine Schwester durch ihre Symptomatik "nur" körperlich massiv beschwert, aber geistig vollständig "auf der Höhe", sodass sie selbst Entscheidungen treffen kann - wie zum Beispiel, in welcher Einrichtung sie leben möchte?

Ich habe wirklich die letzten Tage gegrübelt, was jetzt das Beste für euch wäre. Ich habe schon einige Leute kennen gelernt, die in der Pflege beschäftigt sind oder mit behinderten Menschen arbeiten; das Fehlen von Personal ist fast überall ein großes Problem. Andererseits ist das keine Rechtfertigung, deine Schwester dem Elend zu überlassen, das daraus entsteht. Hier müsst ihr aktiv werden: Entweder gilt es, alles dranzusetzen, damit sie sich für den Wechsel in eine andere Einrichtung entscheidet - dass es euch unangenehm ist, kann ich verstehen, und es kann und soll natürlich auch nichts über ihren Kopf hinweg entschieden werden. Oder aber, ihr versucht erstmal herauszufinden, wo genau das Problem begründet ist. So wie ich dich verstehe, habt ihr den Eindruck, dass sich nicht oder nur wenig um Hygiene und Aussehen gekümmert wird, sodass deine Schwester langsam, aber sicher verwahrlost. Mal abgesehen davon, dass so etwas von geistig gesunden Menschen sicher sehr erniedrigend empfunden wird, ist es auch eine Gefahr für ihre Gesundheit. Was bedeutet - da gebe ich dir Recht - dass es gilt, schnell zu handeln.

Bei alledem stellte ich mir dennoch die Frage: Was bewegt sie, die Einrichtung nicht wechseln zu wollen? Fühlt sie sich sehr wohl mit anderen Patienten? Gibt es bestimmte Betreuungspersonen, die sie gerne mag? Oder ist sie von den Räumen sehr angetan? Hat sich im Hinblick auf ihre Therapie etwas getan? Wenn es dir möglich ist, solltest du dich bei der nächsten Gelegenheit mit deiner Schwester zusammensetzen, um zu ergründen (falls das machbar ist), was prinzipiell ihre Wünsche und Sorgen sind. Man kann, denke ich, bei behinderten Menschen nicht alles unter dem Gesichtspunkt ihrer Diagnose betrachten: Sie sind auch Leute, die eine Entwicklung durchmachen und ihre Persönlichkeit wandeln können. Allzu oft werden sie nur über ihre Diagnose definiert. Im Fall deiner Schwester wäre es wohl wichtig, überblicken zu können, ob und warum sie die Probleme nicht so stark empfindet, wie ihr als ihre nächsten Verwandten - oder, wenn doch, was dann dagegen spricht, den Standort zu ändern. Wie viel Wert legt sie persönlich auf Ordnung, Hygiene, Kontakt? Denn genauso, wie ein nicht behinderter Mensch zeitweise vereinsamen und sich stark gehen lassen kann, kann das natürlich auch bei jemandem passieren, der eingeschränkt ist. Es wäre dann etwas in ihrer Persönlichkeit vorgegangen, das entdeckt werden müsste. Und hier sind wir wieder bei der Frage: Ist die Ursache oder die Wirkung der Art, wie mit ihr umgegangen wird, und wie sie dazu steht? Welchen Stand hat sie gerade als Person, was fühlt sie, was vernachlässigt sie bei sich selbst, woran sind ihre Gedanken gerichtet?

Wenn das zentrale Problem darin besteht, dass es nicht möglich ist, sich so intensiv um sie zu kümmern, wie es nötig wäre, dann müsst ihr primär nach Möglichkeiten Ausschau halten, wo sie sonst unterkommen könnte. Wenn ihr aber in eurer Mobilität eingeschränkt seid, kann die Antwort auf diese Frage sehr schmerzhaft sein. Was bei dir anklang, war aber noch etwas Anderes: Die Betreuer kümmern sich nicht so um deine Schwester, wie es durchaus machbar wäre. Ich könnte mir mehrere Gründe vorstellen: Entweder sind sie einfach als Personen nicht einfühlsam genug, oder es fehlt ihnen der Blick dafür, überhaupt zu "sehen", was jemand braucht, wo etwas fehlt, was nötig wäre. Oder aber, aus Bequemlichkeit kommt es zu einer Fixierung auf diejenigen Patienten, die leichter zu handeln sind. Was es auch sein mag: Kann man das im Dialog lösen? Bisher hat es nicht geklappt. Wenn du noch eine Möglichkeit dazu siehst, tu es. Aber was wäre deiner Meinung nach das Wichtigste: Dass sich mehr um die Hygiene gesorgt wird? Dass deine Schwester als Person mehr Aufmerksamkeit erfährt? Oder dass ihre Therapie optimiert wird? Wenn du spontan sagen möchtest "Alles zusammen!" (völlig klar!), dann frage dich: Was wäre deiner Meinung nach das Wichtigste, das Dringendste? Es ist nicht schön und auch nicht leicht, sich diese Frage für einen geliebten Menschen zu stellen. Aber aus meiner Sicht sieht es so aus: Die hygienischen Verhältnisse, Schmutz und Krankheit und Unordnung und Unsauberkeit, sind ein sehr ernstes Problem, dadurch entsteht nicht nur eine große Gefahr für Ö., sondern wenn irgendetwas geschieht, kann das auch für die Einrichtung unangenehme Folgen haben. Das muss denen eigentlich klar sein. Wie könnte hier geholfen werden? Dadurch, dass die Einrichtung sich anders aufstellt? Oder bräuchte es für deine Schwester eine neue Bezugsperson? Mir sind ein Stück weit die Hände gebunden, da ich keine Rechtsberatung geben darf, und mir auch - ganz ehrlich gesagt - das Wissen fehlt, welche Ansprüche hier bestehen.

Am einfachsten wäre es wohl, wenn du zunächst versuchst, dir mit deiner Schwester einig zu werden: Was soll passieren? Wollt ihr anstreben, dass sie woanders untergebracht wird? Oder wollt ihr erreichen, dass sie eine besondere Betreuung bekommt? Wenn ja, worauf sollte die sich beziehen: Auf den persönlichen Umgang mit ihr, auf die Therapie der Spastik, oder auf das Leben das sie führen muss? Und wie soll das begründet werden? Ich bin hier auch sehr hilflos, da ich nicht im Bilde bin, was du theoretisch für sie anstreben könntest, und ich dir auch keine falschen Hoffnungen machen will.

Vielleicht ist es das Beste, wenn du erst einmal selbst eine Beratung in Anspruch nimmst, die sich mit genau diesen Dingen auskennt. Und hier stoße ich auf die härteste Nuss: Lonely, ich habe leider genauso wenig Ahnung wie du, an wen du dich jetzt genau wenden könntest oder musst. Was ich dir aber sagen kann, ist, dass es vermutlich sehr stark davon abhängt, welche Diagnose genau vorliegt, und welche Therapieangebote da die bevorzugten sind. Möglicherweise gibt es auch keine - auch das wäre aber, so gesehen, ein Ausgangspunkt. Ich habe selbst etwas recherchiert, und ich muss dir gestehen, dass ich eine Weile ziemlich verzweifelt war: Bin ich hier jetzt richtig, und was hilft das dir? Die Wahrheit ist, ich kann es nicht sagen. Vielleicht ist es so, dass dir nur der entscheidende Hinweis fehlt, welche Behörde das (theoretisch) in Angriff nehmen müsste; vielleicht kommt man auch erst drauf, wenn du dich mit anderen Menschen austauschen kannst, die in einer ähnlichen Situation bei Angehörigen Erfahrungen gemacht haben. Ich habe dir daher ein paar Links zusammengestellt:

https://www.dgm-forum.org/forum.php
https://www.dgm-forum.org/forumdisplay.php?30-Pflege-Beh%F6rden-und-Co
http://www.rehadat-adressen.de/de/index.html
https://www.dmsg.de/
https://www.der-querschnitt.de/archive/17724

Ich weiß wirklich nicht, ob diese Dinge dir überhaupt eine Hilfe sein können. Ich muss einfach gestehen, dass ich prinzipiell hier genauso wenig Experte bin wie du - obwohl ich selbst Inklusionsbetroffener bin und persönlich immer wieder mit Menschen zu tun hatte, die in diesem Sektor arbeiten, musste ich leider feststellen, dass ich dir die ultimative Information nicht geben kann. Ich bitte dich, wenn es dir irgend hilft, dich wieder an mich / uns zu wenden; sehr freuen würde es mich auch, wenn ich erfahren könnte, wie die Dinge sich entwickelt haben. Dazu kommt natürlich: Es ist recht wahrscheinlich, dass ich manches falsch aufgefasst habe, was du geschrieben hast - Menschen mit Spastik habe ich in Bekannten- und Freundeskreis nämlich keine. Vielleicht habe ich die Umstände deiner Schwester zu optimistisch eingesetzt, besonders was die Kommunikation angeht; vielleicht auch zu pessimistisch. Wie es auch ist - mir bleibt vorerst nur, dir zu wünschen, dass du schnell an die Stelle kommst, die dir effektiv helfen kann. Und ich würde auch dir wünschen, dass du dich selbst dabei nicht vergisst. Denn es ist wirklich ganz toll, wie du dich um all das sorgst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul