Problem von Anonym - 20 Jahre

An Paul: Schon wieder...

Hallo Paul,

schon wieder muss ich mich bei Dir melden. Falls Du Dich noch an mich erinnerst, müsstest Du ja mittlerweile schon ein ganz gutes Bild von mir haben…

Ich hatte Dir vor ein paar Monaten erzählt, dass ich glaube, dass ich mich in einen Arbeitskollegen verliebe, der 30 Jahre älter ist als ich.
Was soll ich sagen? Ich bin noch nicht viel schlauer aus meinen Gedanken geworden. Ich weiß nicht, ob man das, was ich empfinde „verliebt/verknallt/verschossen“ nennen kann.

Wir haben uns mittlerweile noch etwas besser kennen gelernt. Man kann nicht sagen, dass wir uns besonders gut kennen, aber das ein oder andere haben wir übereinander gelernt.
Auf der Arbeit reden wir immer viel, albern herum, veräppeln uns gegenseitig, aber sprechen auch schon mal über ernstere Dinge. Zuletzt erst hat er mir erzählt, wie er einmal einen Unfall mit seiner Hand hatte. Ich finde es schön, mehr über ihn und sein Leben zu erfahren.

Und manchmal, da hab ich das Gefühl, er mag mich auch (sehr). Dann überlege ich auf der Heimfahrt, ob manche Zeichen wirklich was zu sagen haben oder ob das alles doch nur Einbildung ist und „ich mir als Frau nur alles so zusammen lege, wie ich es mir passt“.
Wenn er mit seinem Chef redet und er einen Witz macht, zwinkert er MIR zu (Hilfe, das ist so sexy). Er nennt mich „Herzallerliebste …“ und „Sonnenschein“ (wenn auch etwas ironisch gemeint, da ich manchmal gespielt motzig zu ihm bin).
Unsere Blicke treffen sich sehr, sehr oft. Ich gucke ihn an, bemerke, dass er mich auch ansieht, gucke schnell weg, nur um zwei Sekunden später wieder hinzusehen – und immer noch sieht er mich an. Auch hier stelle ich mir die Frage, ob ich es mir nur einbilde, dass er mich häufiger ansieht, als alle anderen Kollegen. Oder bin ich diejenige, die das Ganze nur „provoziert“, weil ICH es bin, die ihn so oft „beobachtet“ und er das nur bemerkt und mich daher ansieht?
Eine andere Situation war einmal, dass ich ganz nah vor ihm stand (30 cm Abstand vielleicht), er mit dem Ellbogen abgestützt auf der Anrichte, und wir uns einfach ewig lange nur in die Augen geschaut haben (ich habe darauf gewartet, dass er mir sagt, was er mir sagen wollte). Ich hab seinem Blick bewusst Stand gehalten. Er hat so unglaublich schöne blaue Augen. Warum hat er mich so direkt und lange angesehen?
Außerdem sagt er immer zu unserem Chef/anderen Kollegen „ich wäre ja so frech zu ihm“, wobei ich persönlich finde, dass „frech“ übertrieben ist. Ich bin einfach nur nicht mehr so still und brav wie früher. Dabei bin ich aber nicht beleidigend oder respektlos. Das, was er frech nennt, so ist er auch zu mir. Wir machen eben Witze und dann sagt er, dass ICH frech sei. Bedeutet so eine Aussage etwas? Mag er es, dass so ein junges Mädchen wie ich ihm Kontra gibt?
Er macht mir oft Komplimente, dass ich schönen Schmuck trage oder wenn ich geschminkt bin. Dann kommt er zu mir, mustert mich eine gefühlte Ewigkeit, um sich meinen Lidschatten aus der Nähe anzusehen und sagt schließlich ganz laut „Hast du dich geschminkt? – Schön! Schön siehst du aus.“ Sorry, aber wenn dir ein älterer Mann, den du magst, solche Komplimente macht, die man sonst auch nie bekommt, muss man sich doch zwangsweise irgendwie von dieser Person angezogen fühlen, oder?
Noch eine Sache, die mir aufgefallen ist: Er hat zuletzt zum Abschied besonders betont zu mir gesagt „Bis morgen! Ich freu mich!“ Freut er sich, mich als nette Arbeitskollegin/Freundin/Bekannte wiederzusehen? Freut er sich, weil auch er mich irgendwie mehr mag, als er vielleicht sollte (er hat eine Freundin, die aber auch 15 Jahre jünger ist)? Merkt er, dass ich ihn toll finde und sagt das deshalb? Oder bilde ich mir alles nur ein und verdrehe jeden Blick und jedes Wort, so wie ich es haben will? Verwechsle ich das alles nur mit einer wachsenden Freundschaft, grade weil ich sonst nicht behaupten kann, viele Freunde zu haben?

Ich arbeite (leider!) nur noch diesen Monat dort, denn diesen Sommer fange ich meine Ausbildung an. Ich bin tottraurig, kann nachts nicht einschlafen, vor „Kummer“ und Angst, ihn so schnell nicht mehr zu sehen und ihn vor allem nicht mehr SO OFT zu sehen. Jeden Tag an dem ich arbeiten muss, wache ich morgens auf und freue mich schon so sehr auf die Arbeit, dass ich bis nachmittags (ich arbeite ja in einer Küche) total hibbelig und nervös bin. Einfach nur, weil ich mich so sehr freue, ihn wieder zu sehen – auch wenn ich ihn noch am Abend zuvor das letzte Mal gesehen habe.
Und jedes Mal, wenn er sich verabschiedet und nach Hause fährt (als Koch ist er früher fertig als ich), fühle ich mich niedergeschlagen und fahre später bedrückt nach Hause, um dort angekommen, wie gesagt, nicht einschlafen zu können, weil ich an ihn denken muss… Ich fühle mich schon fast wieder wie eine 14-Jährige. Zu Hause bin ich launisch, wieder viel häufiger schlecht gelaunt, da es nur noch so wenige Tage sind, bis ich dort zum letzten Mal als seine Kollegin die Tür rausgehe…

Eine komplett andere Theorie, weshalb ich ihn vielleicht so sehr mag: Könnte er auch die lustige, lockere Vaterfigur für mich sein, die ich in den letzten Jahren vermisst habe, und mag ich ihn daher so sehr? Denn mein Vater und ich stehen uns nicht besonders nahe. Es gibt keine Umarmungen (nicht, dass mein Kollege und ich uns ständig umarmen oder anfassen würden, ganz im Gegenteil, das tun wir nicht), keine normalen Gespräche, in denen über Probleme gesprochen wird, da man mit ihm nicht gut reden kann. Er blockt schnell ab, ist ungeduldig, sobald es um Probleme geht, kann nicht ruhig und sachlich bleiben. Mit meinem Kollegen könnte ich, glaube ich, über alles reden. Und ganz im Gegenteil zu meinem Vater, versprüht er eigentlich immer gute Laune. Was meinst Du dazu?

Letztes Mal habe ich ja von dem Bild erzählt, dass mein Kollege mich an eine Wand drückt und leidenschaftlich küsst. Über deine Bemerkung, dass ich das alles in Realität als Nötigung sehen könnte, habe ich lange nachdenken müssen und bin zu dem Schluss gekommen, dass da womöglich wirklich etwas dran ist. Es ist eben meine Fantasie, aber sollte es dazu jemals kommen, würde ich es vor Schreck wohl kaum wollen oder genießen können. Dieses Bild hatte ich seitdem auch nicht mehr… Trotzdem wünsche ich mir manchmal, zu erfahren, wie es wäre ihn zu küssen. Auch wenn ich weiß, dass es dazu niemals kommen wird: Vielleicht würde ich ja dann denken „Oh Gott, nein, das hier ist total falsch“ und wüsste endlich, dass wir nur dabei sind Freunde zu werden.

Ich bin einfach total zwiegespalten. Ich habe, wie Du vielleicht noch weißt, einen Freund und begehre einen anderen. Ich arbeite bald nicht mehr mit ihm zusammen und weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich bin total glücklich, wenn ich um ihn herum bin und tottraurig, wenn ich es nicht sein kann. Ich werde sogar eifersüchtig, wenn er eine andere Kollegin ärgert und nicht mich… Wenn er jemand anderes mehr beachtet als mich, auch wenn es nur für einen Moment ist. Dann würde ich ihn am liebsten für den Rest des Abends ignorieren und dafür büßen lassen, dass er mich einmal nicht mehr als „seine Nummer 1“ behandelt hat. Du merkst, ich bin schon richtig kindisch und muss aufpassen, dass mir keine blöde Bemerkung über die Lippen kommt, die verraten würde, dass ich eifersüchtig bin.

Mal wieder möchte ich das alles einfach nur bei Dir loswerden und eine Meinung von Dir hören. Dass das alles keine Chance hat, ist mir klar. Ich glaube, ich werde dort aus der Tür gehen und ihm mit Sicherheit nichts davon gebeichtet haben. Und später, wenn ich ihn nochmal wiedersehe, werde ich mir dafür dankbar sein, da bin ich mir sicher.
Ich weiß überhaupt nicht, was ich mir erhoffe. Was ich will. Und was nicht. Ich weiß nur, dass ich meinen Freund nicht verlieren will und das sollte mir doch eigentlich sagen, dass ich das mit meinem Kollegen einfach schnell verdrängen und vergessen sollte… es ist nur nicht so einfach, wenn man so leicht beeinflussbar ist wie ich.

Liebe Grüße

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich komme leider erst vor dem Wochenende dazu, dir zu antworten. Falls sich neue Dinge ergeben haben, würde ich mich freuen, darüber zu hören.

Mein Eindruck von dir ist, dass du noch immer zwischen der Frage schwankst, ob du ihn in erster Linie attraktiv findest, oder tatsächlich in ihn verliebt bist. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Gleichzeitig fragst du dich, ob und in welcher Weise er Interesse an dir haben könnte - und zu allem Überfluss steht immer noch das schlechte Gewissen gegenüber deinem Freund im Raum. Das ist alles wirklich nicht einfach.

Ich möchte zunächst einmal auf die Frage eingehen, ob von seiner Seite vielleicht echtes Interesse besteht. Du fragst dich zu Recht, ob dein Gefühl, da sei etwas, eher ein Wunschdenken darstellt, oder tatsächlich begründet ist. Wir müssen hier eines berücksichtigen: Es kann gut sein, dass er in Bezug auf dich ähnlich verwirrt ist wie du. Auch er ist vielleicht hin- und her gerissen zwischen einer Anziehung, die du auf ihn ausübst, und der Frage, ob das in Ordnung ist; beziehungsweise, ob du es überhaupt erwiderst, und was ER da überhaupt in sich spürt: Liebe? Freundschaft? Verlangen? Koketterie? Oder alles ein bisschen? Wir können nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass es in ihm klarer und eindeutiger aussieht, als in dir. Trotzdem ist es sicher nicht verkehrt, wenn wir uns darüber Gedanken machen, wie wahrscheinlich denn die einzelnen Überlegungen sind. Vor allem auf der Grundlage seines Verhaltens, wie du es schilderst.

Und ich denke tatsächlich, du solltest diese Dinge nicht überbewerten. Natürlich kenne ich ihn nicht, und kann mit meiner Ansicht total daneben liegen. Andererseits: Ich komme selbst aus einer Handwerkerfamilie, und meine Erfahrung ist, gerade in eher "bodenständigen" Berufen, in denen gewisse Verhältnisse am Arbeitsplatz sich verfestigen, finden sich Persönlichkeiten wie er häufig. Männer, die freundlich und entspannt sind, zu Scherzen aufgelegt, aber auch mit einer tieferen Persönlichkeit, als man vermuten könnte. Manchmal sind sie derb, gelegentlich auch verärgert, aber alles meist mit einem kräftigen Augenzwinkern. Er wirkt auf mich wie jemand, der eigentlich sehr zufrieden mit seinem Leben ist, sehr nachdenklich, keineswegs schüchtern, mit dem man Probleme besprechen kann, jemand, mit dem sich gut verschwörerisch kichern und "gossipen" lässt, aber nie bösartig.

Ich habe an einer früheren Arbeitsstelle zusammen mit einem Mann, der etwa in seinem Alter war, und einer Frau in meinem Alter ein Team gebildet: Er hat auch bei ihr immer große Herzlichkeit bewiesen, war für einen guten Witz immer zu haben, hat immer hinter einem gestanden, wenn es Konflikte mit anderen Kollegen gab, und hat kein Blatt vor den Mund genommen. Manches, was er sagt - oder was solche Menschen sagen - kann wie eine Avance daherkommen, wenn man eine darin sehen will; in Wirklichkeit ist es oft eher humorvoll zu verstehen. Ich schätze, wenn er weiter an dir interessiert wäre, sich auch entschließen könnte, etwa mit dir etwas Festes zu beginnen, wenn du das wolltest - dann hätte er sicher deutlichere Zeichen gesetzt. Nichts von dem, was du beschreibst, klingt für mich so, als wolle er über das Kollegiale hinausgehen. Oft hängt ein Verhalten ja auch stark von der Situation ab, und ergibt sich spontan. Ich würde ihn eher als jemanden sehen, der durch seinen eigenen Humor manchmal provoziert, spielerisch Kräfte misst, aber auch Taktgefühl besitzt - und von dem auch durchaus mal ein ernstes Kompliment kommt. So sollte es ja unter Kollegen, die teilweise eher schon wie Freunde sind, auch sein. Solch ein Verhältnis kann sich natürlich auswachsen - bei einem so großen Altersunterschied würde ich aber sagen, ist das weit unwahrscheinlicher, als wenn ihr etwa gleich alt wärt. Es ist im Grunde klar, dass es für euch nur schwer eine gemeinsame Zukunft geben könnte. Wäre dein Kollege nur wenig älter als du, glaube ich, würdest du auch anders fühlen; dann könntest du eher sagen, ob es schon Liebe ist. So aber bleibt es beim einem ständigen Gedankenspiel, denn - selbst wenn er etwas für dich empfindet, was wäre damit gewonnen?

Aber ja, was ist es nun? Ich kann dir leider auch keine klarere Antwort darüber geben, als du selbst es kannst. Ich kann dir nur sagen, was mein Gefühl ist nach dem, was du schreibst. Und ich muss dir sagen: Mir scheint mehr denn je, dass er dich vor allem auf einer körperlichen Ebene anzieht. Damit will ich die persönliche Nähe zwischen euch nicht bestreiten. Ich deute das, was dich beschäftigt, aber eher als eine Art "Faszination" an den Dingen, die ihn ausmachen; und bemerkenswert fand ich, dass du zum ersten Mal selbst eingestanden hast, dass du ihn begehrst. Das ist okay. Hindere dich nicht daran. Die besondere Situation bei dir ist die, dass du diese Begierde besonders auf eine bestimmte Person hin empfindest. Andere gehen in ihrer Fantasie mal auf diese, mal auf jene Person in ihrem Kollegium, Bekanntenkreis usw. ein, ohne sich intensiv auf jemanden "zu werfen". Da du aber sehr stark auf deinen Kollegen fixiert bist, fühlt sich diese Dauerhaftigkeit wie eine Art "Fremdgehen" für dich an und führt dazu, dass deine Fantasien wesentlich konkreter werden und wesentlich enger an eure gemeinsamen Abläufe (bei der Arbeit) geknüpft werden, als es bei anderen Menschen der Fall ist.

Lange Zeit schien es mir, dass dein Problem vor allem aus deiner Bewertung erwächst, dass diese Dinge "nicht sein dürften". Heute ist meine Deutung etwas anders: Ich glaube, was dich ausmacht, ist, dass deine Fantasie sich sehr intensiv an einzelnen Personen in deinem Umfeld abarbeitet. Für dich persönlich trägt sich das schwieriger, als wenn du an jedem zweiten Abend über jemand anders nachdenken würdest, der süß ist - am nächsten Morgen erwacht man dann doch wieder mit dem Gedanken an den Partner / die Partnerin. Aber sieh es doch mal so: Welches ist der größere Treuebeweis - ständig lauter andere Leute im Kopf zu haben (und wir alle, alle haben Fantasien außerhalb der Beziehung!), oder sich auf jemand Bestimmtes einzuschließen? Das hängt von der Bewertung ab. Wüsste dein Freund davon, würde es sich für ihn wahrscheinlich bedrohlicher anfühlen, denn es entsteht der Eindruck, dass es dir ernst mit deinem Kollegen ist. Doch letztlich ist es eine Form von einer körperlichen Anziehung, die grundsätzlich menschlich ist und die auch niemandem, der in einer glücklichen Beziehung lebt, gänzlich fremd ist. Vielleicht wirst du eine erhebliche Scheu davor haben, dir selbst zu sagen, dass du deinen Kollegen sexuell attraktiv findest (ja, schlicht und einfach - und da ist auch gar nix dabei!). Deswegen auch finde ich es so wichtig, dass du es dir selbst in deinem Text eingestanden hast.

Möglicherweise wird dieses Gefühl nach dem Ende deiner Tätigkeit an deinem jetzigen Arbeitsplatz sehr schnell abebben. Vielleicht begleitet es dich auch noch eine Weile. Vielleicht gilt es demnächst jemand Anderem. Schließlich war davor ja auch der Platz in deinen Gedanken, den jetzt dein Kollege einnimmt, für einen anderen Mann reserviert - und trotzdem war auch dein Freund die ganze Zeit eine feste Größe für dich. Wäre es jetzt ein Zeichen von Schwäche oder Inkonsequenz, wenn du demnächst einen anderen Mann faszinierend findest, mit dem das Leben dich zusammentreffen lässt? Oder könnte es dich nicht eher beruhigen, dass das Ganze in einem Teil deiner Persönlichkeit wurzelt, der sich eben nicht binden will, von dem also auch keine große Gefahr ausgeht? Denn du bist bisher deinem Freund nicht untreu geworden, warum solltest du es also in der Zukunft tun? Halte dich nicht für schwächer, als du bist, und (ich habe das schon öfters gesagt) erlaube dir grundsätzlich, deine Fantasien zu haben und auch andere Männer attraktiv zu finden. Wärst du wirklich glücklicher, wenn es heute dieser Filmschauspieler, morgen dieser Typ aus der Bahn, übermorgen ein alter Klassenkamerad wären, an die du denkst, statt halt eine konkrete Person, die sich durch deine Tage zieht? Das kannst du nur selbst entscheiden. Das Erste wäre halt irgendwie "das Normale" was aber eine gesellschaftliche Bewertung ist; wirklich positiver steht man als Person damit auch nicht da.

Du schreibst von deiner Angst, ihn nicht mehr zu sehen, weil er - das merken wir ja - zu einer Größe in deinem Leben geworden ist. Nur frage ich mich: Ist es allein die Angst, ihn zu "verlieren", die dich umtreibt - obwohl du ja in Wirklichkeit nie etwas Verbindliches mit ihm hattest, von der Arbeit abgesehen -, oder ist es auch die Angst, dass deine Sinne dann wieder frei werden könnten für die nächste Person, auf die sich deine Gedanken richten, und die dich wieder von Neuem in Unsicherheit stürzt? Mit deinem Kollegen folgst du zumindest einem groben Rhythmus, den euer Job vorgibt; es gibt viele Rituale, an die man sich halten kann, und sehr viele unverfängliche Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. Wenn die nächste Person, auf die deine Fantasien sich richten, vielleicht unnahbarer ist, hättest du noch weniger Anhaltspunkte, ihn einzuschätzen. Und da du dich, wann immer du dich fragst "Was empfindet er für mich?", eigentlich fragst "Wie stehe ich zu ihm, wie kann das alles sein?", wird diese Frage für dich noch stärker, noch schmerzlicher anwachsen können. Dem gilt es entgegenzuwirken. Du wirst dich nie wirklich bremsen können, Gedanken über Männer zu haben, mit denen du nicht zusammen bist. Da wir nicht ergründen können, woher es kommt, aber sicher wissen, dass du standhaft genug bist, um deine Beziehung nicht zu gefährden, stellt sich die Frage, ob wir überhaupt wissen müssen, ob und wie sich das Ganze "abstellen" oder "verringern" ließe. Es wird dir vielleicht für kurze Zeit gelingen, aber es steckt zu tief im Menschen, die Umwelt zu scannen, die Gedanken tasten zu lassen in Richtung von "Was wäre, wenn...?", als dass man ohne das glücklich werden könnte.

Es wäre jetzt also der Punkt, an dem du einen Entschluss für die Zukunft fassen könntest: Nämlich, deine Begierden (ja, ich nenne es mal beim Namen) zu akzeptieren, und nicht mehr dem Idealzustand völliger Unaufgeregtheit nachzustreben, den du nie erreichen wirst, auch wenn du in einer Beziehung bist. Andere Männer werden dich immer wieder mal nervös machen, so wie von Zeit zu Zeit auch andere Frauen mich nervös machen, obwohl ich mit meiner Freundin sehr glücklich bin. Versuche dich abzulenken, denke auch daran, dass sich ab Sommer bestimmt viele neue und spannende Kontakte knüpfen lassen - du kannst mit deinem Kollegen ja Kontakt halten? Hier wäre viel eher ein Punkt, an dem du dich fragen solltest: Mache ich das Richtige?, wenn ihr keine gemeinsame Tätigkeit mehr habt, euch also nur noch die Vergangenheit verbindet, und du trotzdem noch Hoffnungen in Bezug auf ihn entwickelst. Damit verschleppst du nicht nur die Vergangenheit in die Gegenwart, sondern bringst auch ihn in Schwierigkeiten, sich, was dich betrifft, zu positionieren. Schließlich hat er auch noch sein eigenes Leben, das weitergehen soll.

Es mag sein, dass du jemand bist, der es schwerfällt, die eigenen Sehnsüchte und Gedanken einzuhegen. Aber wenn das so ist, ist deine Selbstdisziplin gefragt, dich zur Ordnung zu rufen und zu erinnern, dass du eine Beziehung hast und Pläne für die nächsten Jahre. Oder? Ich habe Ähnliches, als was du beschreibst, auch schon von wesentlich älteren Leuten gehört: Auf einmal war man auf einem Seminar, auf einer Fortbildung, und da war diese Person... Oder es traf sich, dass man eine Zeit lang immer die Mittagspause mit dieser so faszinierenden Kollegin verbrachte... "Da war es wirklich schwer, aber auch wichtig, sich zu erinnern: Du hast eine Beziehung, und du wirst dein Leben nicht umstürzen, nur weil gerade etwas schön und verlockend ist!" Diesen Satz hat mir ein Mann gesagt, der ungefähr das Alter deines Kollegen hat, und dem ich freundschaftlich zugetan bin. Du siehst also, es ist ein Problem, mit dem du nicht völlig allein stehst. Andererseits: Damit umzugehen, dich selbst zu fordern, wenn deine Fantasie oder dein Verlangen die Wirklichkeit hinter sich lassen - dazu brauchst du mich nicht. Das, davon bin ich überzeugt, kannst du sehr gut selbst. Und ich könnte dir dazu auch gar nicht helfen.

Ich wünsche dir noch angenehme letzte Arbeitstage / -wochen (!) - genieße die verbleibende Zeit, alles Andere wäre auch irgendwie idiotisch. Denn warum solltest du nicht Freude an dem haben, was dir Freude machen will? Der Frage, wie du es verarbeitest, kannst du dich später immer noch widmen. Der Bruch mit dieser Zeit, der Start in einen neuen Lebensabschnitt, die die bevorstehen, sind die größere Herausforderung. Und du hilfst dir nicht, wenn du dich schon jetzt darauf einschwörst und dir das Schöne verleidest. Es kommt ohnehin anders, als du es jetzt denkst. Ich hoffe, du kannst entspannt und um viele Erfahrungen reicher in deine Ausbildung starten kannst - und, was immer die Liebe für dich bereit hält, dass es schön sein möge.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul