Problem von Jule - 19 Jahre

Plötzlich Schwanger

Hallo Paul,

mal wieder eine Nachricht von mir. Bis heute war ich davon überzeugt das Kind abzutreiben. Auf Wunsch meiner Familie und meiner Ausbildungsstelle natürlich. Heute war ich erneut beim Frauenarzt.
Ich bin in der 10. Woche. Habe also nur noch knapp 2 Wochen Zeit. Mein Vorgespräch in einer Klinik ist erst am Freitag. Ich habe ein Bild mitgenommen und die Herztöne gehört. Ich habe mich nicht getraut zu sagen, dass ich es abtreiben werde. Also liegen hier überall Tabletten und Schwangerschaftsvitamine rum. Morgen früh soll ich zur Blutabnahme. Aber wenn ich es Abtreibe, brauch ich das alles ja nicht, aber möchte ich das?

Das Bild und die Herztöne haben etwas mit mir gemacht. Irgendetwas in mir ausgelöst. Ich weiß nur nicht was. Komisch, nicht?

Abgesehen davon kann man mittlerweile auf den "Vater" auch nicht mehr zählen, der ist nicht mehr da. Ich bin also allein. Ohne Familie, ohne Partner, ohne alles. Möchte ich das riskieren? Möchte ich aus meinem Zuhause ausziehen müssen und ne Familienkrise beschwören, wegen des Babys? Möchte ich meine Ausbildung dafür sausen lassen? Eigentlich nicht. Trotzdem hänge ich dran und ich glaube, dass ich mir Vorwürfe machen werde und das lange Zeit, wenn nicht immer ein sensibles Thema sein wird.
Ich habe mir auf Youtube Videos zu Mädchen/Frauen angesehen, die in einer ähnlichen Situation waren. Die meisten haben Abgetrieben. Jetzt sitzen sie weinend vor der Kamera und machen sich Vorwürfe. In den Kommentaren wird gehetzt. Es sei Mord, wer Verkehr haben kann, kann auch ein Kind bekommen, usw.

Aber bei einer jungen Frau war es anders. Sie hat sich für's Kind entschieden, weil der Großteil ihrer Kriterien stimmte. Ich zähle sie mal auf:

Ausbildung?
Job?
Wohnsituation?
Emotionale Reife?

Mindestens 3 von 4 Dingen treffen nicht auf mich zu. Beim 4. bin ich sehr unsicher, ich könnte es mir vorstellen, aber bin ich wirklich bereit dafür? Ich bin gewohnt in meinem "Job" viel Verantwortung zu übernehmen für andere Menschen, habe auch des Öfteren Baby gesittet. Aber ein eigenes Kind ist ja ganz was anderes. Das gibt man nicht mal wieder ab. Ich habe Zeit bis Freitag um hinter meiner Entscheidung zu stehen, die ich hoffentlich bis dahin getroffen habe.
Für den Abbruch über die Tabletteinnahme ist es bereits zu spät. Bleibt die Ausscharbung. Meine größte Horrorvorstellung!

Also, Danke für deinen Beistand.

Liebe Grüße

Jule

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Jule,

das Vertrauen, das du in mich setzt, ist wirklich sehr groß. Ich fühle mich dadurch sehr geehrt und hoffe, dass ich geeignete Worte für dich finden werde.

Die nächsten Tage werden wohl zu den aufreibendsten deines Lebens gehören - unabhängig davon, wie du dich entscheidest. Ich möchte hier wiederholen: Ich respektiere deine Entscheidung - du hast von mir keinen Vorwurf zu befürchten, solltest du dich zu einer Abtreibung entschließen. Das Wichtigste ist jetzt, dass du versuchst, dich so weit wie möglich zu entspannen, um die Wahl zu treffen, mit der du glaubst, dein Leben am besten fortsetzen zu können.

Wahrscheinlich gibt es keine zwei Geschichten, die sich völlig gleichen. Es ist gut, dass du dich mit den Erzählungen anderer betroffener Frauen auseinandergesetzt hast - aber jetzt solltest du besser einen Schnitt machen, das Internet außen vor lassen und nur auf dich selbst hören.

Wir wissen: Egal wie du dich entscheidest - dein Leben wird nicht mehr dasselbe sein. Mit dem Kind wirst du alles, wovon du bisher ausgegangen bist, ziemlich neu denken müssen. Entscheidest du dich gegen das Kind, werden die Dinge vordergründig so bleiben, wie sie sind. Aber: Greift diese Annahme nicht zu kurz? Du weißt nicht, wie es in deiner Familie in einem Jahr aussehen wird - ob deine Eltern da ein Enkelkind haben werden, oder nicht. Deine Schwangerschaft ist nicht das Einzige, was die Zukunft deiner Familie beeinflusst, Jule. Speziell deine Eltern sind zunächst einmal erwachsene Menschen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen. Hast du einen Einfluss darauf, wie ihre Beziehung sich entwickelt? Ob sie einander in einem Jahr noch lieben? Ob sie sich an Weihnachten noch etwas zu sagen haben? Das alles hängt von vielen Faktoren ab, von sehr vielen. Und den größten Teil davon haben sie ganz allein selbst in der Hand. Du bist dafür nicht verantwortlich, und niemand soll dich dafür verantwortlich machen. Und schon gar nicht kann eine Abtreibung die Bedingung dafür sein, dass deine Familie dich weiterhin achtet.

Um es auf den Punkt zu bringen: Hör auf, dich dafür verantwortlich zu machen, was mit deiner Familie wird. Betrachte deine Schwangerschaft nicht als den Faden, an dem alles hängt, und der auf keinen Fall durchtrennt werden darf. Das Gegenteil ist der Fall. Was der morgige Tag bringt, wer weiß das schon? Die Zukunft hängt an vielen Fäden. Das Kind in dir ist nur einer davon. Wenn du dich entscheidest, Mutter zu werden, und die bisherige Planung dadurch abschneidest, dann bist du deswegen nicht verantwortlich für Streitigkeiten, die du mit deinen Eltern oder deine Eltern miteinander in der Zukunft haben werden.

Ich glaube zu verstehen, worum es dir geht. Es ehrt dich, dass du es den Menschen, die du liebst, leicht machen willst. Aber wenn du Mama wirst, wem entsteht dadurch die größte Herausforderung? Dir. Du darfst dir nicht einreden, dass du verantwortungslos, egoistisch oder leichtsinnig wärst, wenn du dich für das Kind entscheidest. Diese Dinge befürchtest du, du fragst dich, ob du sie "beschwören" willst. Aber du beschwörst nichts, Jule, egal welchen Weg du wählst. Du hast dir die Situation, in der du jetzt bist, nicht ausgesucht. Niemand steckt in deiner Haut. Niemand außer dir selbst darf der Maßstab sein für die Wahl, die du zu treffen hast. Hör auf, nach anderen zu fragen, denn sie erleben nicht, was du erlebst. Frage nach dir - und du wirst mit deiner Entscheidung besser leben können, welche es auch sei.

Du bist nicht allein, Jule. Dir wird Hilfe werden, wenn das Kind da ist. Und - ich sage es lieber noch einmal: Das Kind zur Welt zu bringen, muss nicht heißen, dass es bei dir aufwächst. Du handelst vernünftig, wenn du in allem an die Zukunft denkst, dich absichern willst. Aber manchmal kann es auch gefährlich sein. Was hier geschieht, findet auf einer emotionalen Ebene statt. Das merkst du selbst. Man kann das, was jetzt bevorsteht, nicht in Geld berechnen. Dein Leben wird ganz anders sein, das ist klar. Bei deinem Frauenarzttermin heute ist dir aufgegangen, dass du Gefühle für dein Kind hast. Gleichzeitig sind deine Sorgen wegen der Zukunft unverändert, spürst du den Druck deiner Familie und deiner Ausbildungsstelle. Beide Seiten sind stark, beide machen Angst, das ist nur verständlich. Ich werde es sowieso nie ganz nachempfinden können, da ich ein Mann bin. Deutlicher denn je ist heute eines geworden: Es lässt sich nicht sagen, welcher Weg der leichtere ist. Du solltest den Weg gehen, der dir erlaubt, am aufrechtesten durchs Leben zu gehen und mit dir selbst den größeren Frieden zu haben. Das schließt nicht aus, dass es Schwierigkeiten geben wird. Aber ich bin überzeugt, dass du sie meistern kannst und wirst.

Dass du die emotionale Reife besitzt, die es brauchen würde, steht für mich fest. Du hast die ganze Zeit über deine Gedanken sehr klar formuliert, und bist, soweit ich es erkennen konnte, ohne Aggression gegen die Menschen geblieben, die dir eine Abtreibung nahelegen. Du hast ja vollkommen Recht: Mama-sein ist ein Vierundzwanzig-Stunden-Job. Aber womöglich beschert dein eigenes Kind dir auch Gefühle, die du jetzt noch nicht in dir ahnst, und die dich mit dieser Kraft ausstatten? Ich werde aus naheliegenden Gründen nie durchleben können, was du durchlebst. Und trotzdem sage ich dir das, kraft meiner Überzeugung, da ich in dir eine verantwortungsvolle und überlegte Person sehe, die sehr erwachsen denkt und handelt. Mehr, als man für unser Alter erwarten kann. Für alle materiellen Engpässe, die ins Haus stehen, gibt es Hilfe. Und wie deine Eltern oder dein Exfreund sich zu dem Ganzen stellen, wenn es einmal so weit ist, das weiß jetzt noch keiner. Ich will die Risiken und Belastungen keineswegs kleinreden. Natürlich: Ein Kind zu haben, verlangt einen enormen Aufwand an geistigen und körperlichen Kräften, der in gewisser Weise nie aufhört. Doch es bringt dir auch nichts, wenn ich das hier so altklug daher schwätze - denn du weißt all das bereits. Ich denke, du verfügst über die persönlichen Ressourcen, wenigstens aber über die Möglichkeit, dass sie dir zuwachsen. Und allein darauf kommt es an.

Schon nach deiner letzten Zuschrift kam ich ins Grübeln, nachdem ich meine Antwort abgeschickt hatte, weil ich nicht ganz sicher war, was du dir von mir wünschst. Und damit meine ich eher das Unausgesprochene. Im Klartext: Ich habe ein Stück weit das Gefühl, dass aus deiner Nachricht an mich eher der Teil deiner selbst spricht, der dem Kind gewogen ist. Und er wünscht sich Bestätigung. Wie siehst du das? Mir war es wichtig, dich in deiner Entscheidungsfindung etwas freier zu machen. Jedoch habe ich heute den Eindruck, den ich schon bei deinem ersten Text einmal hatte: Im Grunde deines Herzens fühlst du für das Kind und nicht gegen es. Was dagegen spricht, das sind die äußeren Dinge. Ja, ich glaube wirklich, dass dein Kind eine Chance hat, Jule. Denn das Wichtigste, was es haben kann, bist du selbst, seine Mama. Wenn du das Gefühl hast, dass du deinem Kind Liebe geben kannst, auch wenn es für euch beide nicht leicht wird - dann gehört euch die Welt. Hab keine Angst, Jule. Das Leben geht nicht von hier abwärts. Es beginnt gerade erst.

Wenn wir das nächste Mal schreiben - worauf ich sehr hoffe - dann wird die Welt wahrscheinlich verändert sein. Ich bewundere die Klarheit, mit der du deine Situation betrachtest, deinen Ernst und deine Stärke. Und sie sind es, die mich sicher machen, dass du den Halt nicht verlieren wirst, so oder so. Du kannst sehr stolz auf dich sein!

Was soll ich noch sagen? Ich habe lange überlegt, ob ich das Nächste schreiben soll. Ich tue es. Bitte, Jule: Gib deinem Kind diese Chance. Du darfst mir gerne dein Leben lang die Knochen verfluchen, wenn du es bereust. Das nehme ich auf mich. Aber am Ende kann und will ich es nicht verleugnen: Ich hoffe, dass du dich für dein Kind entscheidest. Aber nicht, was ich mir wünsche, sondern das, was du für richtig hältst, ist entscheidend.

Ich würde mich freuen, wieder von dir zu hören.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul