Problem von sally - 17 Jahre

Ich hasse es schüchtern zu sein

Ich bin 17 Jahre alt und weiß nicht was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich bereue so viele Dinge, die ich gesagt bzw. getan habe, jedoch sage und tue ich sie immer wieder. Jedes Mal aufs Neue sitze ich weinend und kopfzerbrechend mit einer Tasse Tee in meinem Zimmer und denke über die Vergangenheit nach. Warum tue ich Dinge, die ich danach bereuen werde? Warum tue ich sie wiederholt, obwohl ich schon gefühlte tausend Mal danach darunter gelitten habe?
Es fühlt sich an wie eine Sucht, eine Sucht danach, verbotene Dinge zu tun.
Der Großteil der Menschen um mich bezeichnet mich als schüchtern und brav. Sagt jemand, dass ich so bin, verletzt mich das jedoch zutiefst. Ich weiß, viele Menschen sind schüchtern. Brav zu sein ist nicht unbedingt ein Nachteil. Beschreibt mich jedoch jemand mit diesen zwei Worten, bewegt mich das innerlich so negativ, dass ich jedes Mal, wenn dies der Fall ist, kurz davor bin, in Tränen auszubrechen.
Es gibt keine Party, auf der ich keinen Alkohol trinke. Bei 9 von 10 Partys muss ich mich am nächsten Tag wegen übermäßigem Alkoholkonsum übergeben und ich weiß bei ca. 7 von 10 Partys am darauffolgenden Tag nicht mehr was letzte Nacht geschah.
Ich hasse es zu rauchen. Mir wird nach jeder Zigarette so richtig übel. Ich rauche dennoch ziemlich viel. Es ist eine Sucht, die in mir ist. Es ist nicht die Sucht nach Tabak oder nach sonstigen Inhaltsstoffen der Zigarette, sondern eine Sucht danach, Dinge zu tun, die schüchterne und brave Menschen nicht tun. Ich hasse den Geschmack einer Zigarette, ich liebe jedoch das Gefühl, eine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger zu halten und einen Zug zu nehmen. Nur dass ich mich nicht brav fühle. Nur um zu bestätigen, dass die Leute nicht im Recht sind, was mich betrifft.
Ich hasse es, Menschen weh zu tun. Ich hasse es, Menschen meine Meinung zu sagen. Ich tue es jedoch, weil ich das Gefühl liebe, nicht brav zu sein. Es ist, als steckte ich in einem Teufelskreis. Ich trinke Alkohol, damit ich z. B. Leuten die Meinung sagen kann oder damit ich vor anderen Leuten rauchen kann. Würde ich jedoch keinen Alkohol trinken, hätte ich nicht den Mut dazu. Ich bin süchtig danach, Dinge zu tun, die brave Menschen nicht tun. Da ich mich dies ohne Alkohol jedoch nicht traue, bin ich süchtig nach Alkohol. Ebenfalls.
Ich weiß, dass all die Dinge, die ich tue um nicht brav zu sein – von Ladendiebstahl bis Drogennehmen - falsch sind. Ich habe sie auch schon gefühlte tausend Mal bereut – dennoch kann ich nicht damit aufhören. Das Problem, wenn ich mich vernünftig verhalte, so gut wie nichts rede, weil mir nichts einfällt, keine Zigarette rauche und auf einer Party statt Bier Cola trinke ist, dass ich als brav, schüchtern, langweilig und verschlossen bezeichnet werde - und dies ist für mich das Schlimmste.
Ich hatte jedoch schon oft ein dermaßen schlechtes Gewissen, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte, dass ich mich in der Schule/bei der Arbeit nicht konzentrieren konnte und dass ich tagelang nicht in der Lage war, aus meinem Zimmer zu kommen, weil ich mich so schämte. Die Sucht nach der Tat schlimmer Dinge verschwand dadurch jedoch nicht.
Viele verstehen mich vermutlich nicht im Geringsten, dennoch ist es das, was mich quält.

Christina B. Anwort von Christina B.

Hallo liebe Sally!
Danke, dass du dich mit deinem Problem an uns gewandt hast und dich uns anvertraut hast. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Verhalten dir sehr zu schaffen macht. Eigentlich willst du gar nicht so sein, doch du hast das starke Gefühl, dass du nicht anders kannst. Dass du das erkennen kannst ist die halbe Miete, liebe Sally! Damit hast du schon viel dazu gelernt. Das ist der erste Schritt und du scheinst mir ein bewusstes, junges Mädchen zu sein, das sich mit solchen Dingen auseinandersetzt und vor Veränderung nicht zurückschreckt. Hut ab!

Du hast mehrmals betont, dass sich dieses Verhalten wie eine Sucht für dich anfühlt, also du das Gefühl hast, süchtig danach zu sein, Dinge zu tun, die verboten sind, damit du anderen beweisen kannst, dass sie falsch liegen, wenn sie dich als schüchtern oder brav bezeichnen. Aus irgendeinem Grund scheint es dich wütend oder traurig zu machen, wenn du als schüchtern oder brav bezeichnet wirst. Kannst du dir denken, warum das so ist? Bist du in einer sehr strengen, konservativen Familie aufgewachsen? Hast du in deiner Kindheit jemals etwas getan, das schlimm war? Oder immer nur brav die Regeln befolgt? Oder bist du auch mal laut geworden in deinem Leben, warst nicht schüchtern und hast gesprochen wie ein Wasserfall? Wenn nein, dann kann es jetzt einfach ein ganz natürlicher Mechanismus in dir sein - dein Inneres will sich gegen das wehren und einmal genau das Gegenteil von dem machen, was von dir dein ganzes Leben lang erwartet worden ist - und somit tust du verbotene Dinge, weil du dich damit von dem Mädchen, das du mal warst, abhebst. In diesen Momenten erlaubst du es dir, jemand anders zu sein - und willst damit vielleicht auch deinen Eltern beweisen, dass du jetzt ein eigener Mensch geworden bist, der selbstständig denkt und handelt.
Ich kann das gut verstehen. Zur Jugend gehört es dazu, dass man sich Dinge sucht, mit welchen man sich von den anderen abheben kann, sich abgrenzen kann. Das tut man deshalb, damit man sich selbst findet und eine eigene Identität und Persönlichkeit entwickelt. Es könnte also zum Beispiel auch anders rum sein: wenn Eltern immer noch jugendlich sind, dieselbe Musik hören, in dieselben Läden einkaufen gehen und dieselben Ausdrücke benutzen, kann das dazu führen, dass Kinder von solchen Eltern immer weniger Möglichkeiten haben, sich deutlich von ihnen abzugrenzen - was aber für ihre Entwicklung wichtig wäre. Dann suchen sie sich auch so drastische Mittel wie Rauchen, Alkohol trinken etc. Wenn dies bei dir der Fall sein sollte, so kannst du versuchen, dich mit anderen Methoden abzugrenzen: Kleidungsstil, Musikgeschmack etc.

Ich finde es sehr gut, dass dir bewusst ist, dass so übermäßiger Alkohol und Tabak bzw Drogenkonsum dir und deinem Körper sehr schadet. Ich denke bei dir ebenfalls, dass das alles nur psychischer Natur ist. Du hast geschrieben, du traust dich nur unter Alkoholeinfluss anderen die Meinung sagen. Alkohol kann Mut machen, das ist fast jedem bekannt, aber das sollte nur "genutzt" werden um z.B.: auf einer Party als schüchterner Mensch ein wenig mehr aus sich herauszukommen, mit ein paar Tropfen, jedoch sollte es nicht missbraucht werden, sodass du Unmengen von Alkohol trinkst, um dann du selbst sein zu können und den Mut zu haben, anderen das zu sagen, was du denkst. Dafür gibt es andere Methoden. Wenn du dich nicht traust, anderen die Meinung zu sagen, könnte es mit allgemein mangelndem Selbstvertrauen zu tun haben. Dafür gibt es aber Wege, dieses aufzubauen - wenn dich das interessiert, würde es mich freuen, wenn du mir das schreibst, damit ich dir diesbezüglich noch bessere Tipps geben kann (jetzt im Vorfeld all das reinzuschreiben wäre zu viel auf einmal, denke ich). Jedoch geht es bei dir ja nicht nur allein darum, anderen die Meinung zu sagen. Du hast das Gefühl, dass du, wenn du all diese Dinge (Drogen, Alkohol, Ladendiebstahl, Rauchen) nicht tust, dass die Leute dich als langweilig, verschlossen, schüchtern und brav sehen. Welche Leute sind denn das? Gleichaltrige Jugendliche? Erwachsene? Lehrer? Bezeichnen dich diese Leute offen als das, oder hast du das Gefühl, dass sie dich so sehen? Ich könnte mir laut deiner Erzählung am ehesten vorstellen, dass andere junge Leute dich dann so bezeichnen und du dich deshalb schlecht fühlst, weil du genau das nicht sein willst. Ich kann das gut verstehen, niemand will so gesehen werden, langweilig und verschlossen sind negative Eigenschaften und auch brav und schüchtern will man als 17-jährige nicht unbedingt sein. Aber ich habe auch den Eindruck, dass es in deinem Freundeskreis oder unter den anderen Jugendlichen eine Art "Verhaltenscodex" gibt, den man einhalten muss, um dazu zu gehören, und dazu zählen diese Dinge wie Rauchen, Trinken etc. Könnte das bei dir der Fall sein? Wenn ja, dann könnte ich mir gut vorstellen, dass du unter dem Phänomen Gruppenzwang da einfach mitmachst, weil du nicht ausgestoßen werden willst. Das kann ich gut verstehen und nachempfinden - aber ein Zeichen von wahrer Größe und richtigem Selbstbewusstsein ist nicht, dort weiterhin mitzumachen, sondern auszusteigen - denn diese Freunde sind keine wahren Freunde, wenn sie dich nicht so nehmen, wie du bist (ohne trinken und rauchen). Hast du denn eine andere Freundin, der es vielleicht ähnlich geht? Die auch in diesem Kreis dabei ist und das eigentlich nicht tun möchte, was erwartet wird? Zu zweit wäre es nämlich viel leichter, sich von dieser Gruppe abzugrenzen.

Offenbar belastet dich die Situation sehr, wenn du nächtelang deswegen schon nicht schlafen konntest, da du dich so schämst. Du weißt ja eigentlich sehr gut, dass deine Verhaltensweisen nicht richtig sind. Damit hast du schon viel geschafft. Jetzt geht es nur noch darum, diese Verhaltensweisen loszuwerden und durch bessere, gesündere zu ersetzen. Du könntest dich ebenso von der grauen Masse abheben, indem du dich anders kleidest, einen ungewöhnlichen Haarschnitt trägst, andere Musik hörst etc. (Wenn bei dir der Fall denn so liegen sollte, dass es ums abgrenzen geht).

Da es so viele verschiedene Hypothesen in deiner Situation gibt, würde ich mich freuen, wenn du mich erneut kontaktieren würdest und mir genauer erklären würdest, wo du glaubst, welche Theorie am ehesten auf dich zutrifft. Vielleicht kannst du mir das noch genauer erläutern - dann kann ich dir auch bessere Tipps geben. Ich würde mich freuen, erneut von dir zu hören. Richte dazu einfach deinen Text am Anfang "An Christina B.", dann wird mich die Nachricht erreichen. Alles Liebe und viel Glück bis dahin wünsche ich dir!
Herzliche Grüße,
Christina B.