Problem von Anonym - 20 Jahre

Liebe in guten Zeiten, Ignoranz in Schlechten?

Hallo,
ich habe ein Problem. Ich bin mit meinem Freund jetzt schon 1 Jahr zusammen und ich liebe ihn wirklich sehr und er mich auch, wenn zwischen uns alles gut ist, ist es auch die schönste Zeit meines Lebens.
Aber wir haben manchmal wegen sehr unbedeutsamen Dingen Streit und aus einer Fliege wird ein Elefant. Dann ignoriert er mich sehr lange bis ich angekrochen komme. Und mit angekrochen meine ich angekrochen! Ich muss mich mehrere Male entschuldigen, selbst wenn es nicht mein Fehler war. Selbst wenn ich vor ihm losweine (was ich versuche zu vermeiden, aber die ein oder andere Träne läuft manchmal), bleibt er eiskalt und flüchtet meistens. Dann folgt wieder Tage langes Schweigen bis ich ihn 1000 mal angerufen habe. Ich habe auch noch nie! eine Entschuldigung bezüglich eines Streits bekommen. Er tut mir sehr weh aber er merkt es anscheinend nicht. Ich habe auch schon mit ihm darüber geredet aber es kommt nicht an.
Wir sind außerdem aus zwei unterschiedlichen Kulturen (er kommt aus einer muslimischen Familie) und ich habe Angst, dass das alles daher kommt.
Meine Freunde raten mir ihm nicht hinterher zu rennen, aber ich liebe ihn wirklich sehr und er ist auch ein sehr toller Mann wenn alles gut ist.
Nun überlege ich mir ernsthaft mit ihm Schluß zu machen. Ich zerbreche an diesem Ignorieren. Es tut alles verdammt weh.
Ich brauche eure Hilfe, was soll ich tun? Soll ich diese Charaktereigenschaft von ihm einfach akzeptieren und alles tun, damit es läuft? Ich kann nicht mehr alles einstecken.

Danke für eure Hilfe,
Mit lieben Grüßen-

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

ich denke, dass es erstmal nicht unbedingt relevant ist, woher das Problem kommt. Viel wichtiger ist: Gibt es Aussicht auf Lösung?

Ob sein Verhalten nun in seiner Person begründet liegt, oder in einer anderen Mentalität und Kultur, hat nicht zwingend eine Auswirkung darauf, ob er dieses Verhalten hinterfragen und ändern kann. Es hat möglicherweise einen Einfluss auf die Bewertung, die er trifft - je nach sozialem und kulturellem Umfeld kann es auch durchaus mal als Liebesbeweis gelten, jemandem eine Szene zu machen, wenn man ihn oder sie nur mit einer Person anderen Geschlechts gesehen hat. Ganz egal wie er es aber bewertet, es ändert nichts daran, dass es dich verletzt. Und wenn er dich liebt, sollte es möglich sein, ihm klar zu machen, dass du es anders siehst.

Wenn er sich danach nicht richten kann, dann musst du die Entscheidung treffen, ob du so weiterleben willst - oder in irgendeiner Weise etwas ändern. Das kann sein, dich im schlimmsten Fall von ihm zu trennen. Aber auch ohne das ist fraglich, ob du ihm auf Dauer die Möglichkeit geben willst, dich so zu behandeln. Oder ob du nicht einfach mal gegensteuern magst.

Für dich stimmt die Verhältnismäßigkeit zwischen dem, was er dir im Streitfall aufzwingt, und zwischen dem eigentlichen Anlass nicht annähernd. Streiten ist nie angenehm - wenn du aber weißt, dass er dich zwingen wird, dich zu erniedrigen, inwieweit kann es dann noch stimmen, dass du die streit-freie Zeit tatsächlich genießt? Das mag im Augenblick noch so sein. Es ist jedoch ein erheblicher Unterschied, ob du aus menschlichen Gründen Streit vermeiden möchtest - oder ob du in ständiger Angst davor lebst, dass es zum Streit kommen könnte.

Wir wissen nicht, wie sich das Ganze für ihn darstellt. Vielleicht erlebt er es auch so, dass er sich denkt: "Sie weiß ja, dass ich ihr am Ende schon vergeben werde." (Wenn das so ist.) Davor, mag er sich denken, braucht man (braucht er - denkt er, dass der Mensch braucht) halt dieses heftige Gewitter. Aber ein Streit ist nur dann produktiv, wenn auch ihr beide tatsächlich das Gefühl habt, dabei etwas erreicht zu haben. Wenn aus dem Streit jedesmal eine emotionale Erpressung wird, ist das unverhältnismäßig und destruktiv. Es ist durchaus richtig, dass das von Konventionen abhängig ist. Aber müssen wir eigentlich nach Kultur und Konventionen fragen? Wenn du es für unnötig und unsensibel (harmlos ausgedrückt) ansiehst, wie er sich beim Streiten benimmt und dir abverlangt, dann muss er sich genauso überlegen, ob er lieber sein Verhalten ändern oder dich verlieren will.

So wie du es schilderst, macht es nämlich den Eindruck, als würde im Endeffekt jedesmal ER Recht bekommen. Das ist schon schlimm, wenn er einen Vorwurf hegt, der unberechtigt ist. Wenn aber DU es wärst, die eine tränenreiche Entschuldigung verdient hätte, und es kommt absolut nichts von ihm... Liebe Anonyme: Müssen wir bewerten, woher das bei ihm kommt? Ob es seine Erziehung ist, oder seine Persönlichkeit? Ob es daran liegt, dass er nicht sieht oder nicht sehen will, wenn er im Unrecht ist? Ob er glaubt, du würdest es nicht so schmerzhaft empfinden, wie du es tust? Ob er dich "beschützen" will, sei es aus Eifersucht oder aufgrund der sogenannten "Ehre"? Wie auch immer er es nennt, was immer es für ihn heißen mag - es ist nicht wichtig. Die Frage ist: Traust DU dir zu, deinen Standpunkt zu behaupten? Denn bisher hast du das nicht getan. Oder es zumindest nicht geschafft. Wenn du aber ein Interesse hast, mit ihm zusammen zu bleiben, dann musst du auch die Stärke entwickeln, ihm seine eigenen Fehler klar zu machen. Das wäre sogar dann in seinem Interesse, wenn du dich von ihm trennen würdest. Mann muss wissen, dass er ein Arschloch sein kann. Ansonsten wird er nicht glücklich, du nicht, und niemand sonst mit ihm.

In irgendeiner Weise musst du also ein Mittel finden, ihm zu verdeutlichen, dass er eine Grenze überschreitet. Das kann sein, dass du ihn nach einem Streit - wenn du dich im Recht siehst - einfach mal eine Weile ignorierst, und ihm auf Nachfrage nur knapp erklärst: "Unsere Beziehung wird dann wieder aktiviert, wenn du raffst, dass du mich behandelt hast wie Dreck. Vorher nicht, und wenn du nicht willst, dann gar nicht." Natürlich ist es nicht optimal, das wörtlich so zu schreiben, und das ist auch keine Empfehlung von mir. Jedoch: Wenn ich dich richtig verstehe, dann wird die Erkenntnis bei ihm - wenn sie denn kommt - dramatisch sein. Muss es sein, damit du sicher sein kannst, wirklich richtig kommuniziert zu haben. Und letztlich, so weh es tut, musst du eine ausgesprochene Drohung auch durchziehen. Andernfalls sendest du ein noch verheerenderes Signal an ihn, nämlich, dass du nie zum Äußersten bereit wärst. Gerade das aber muss dein Partner immer von dir wissen, denn wenn das nicht gilt (oder schlimmer noch: das Gegenteil), dann kann Mann im Grunde alles mit seiner Partnerin machen. Du musst dir gründlich überlegen, ob du wirklich so weiterleben willst - oder ob du deine emotionale Unbeschwertheit vorziehst, selbst wenn er nicht mehr Teil deines Lebens ist. Im Moment fällt deine Entscheidung sofort auf das erste, da du seine "guten" Phasen sehr an ihm liebst. Was aber, wenn kompromisslose Härte das Einzige ist, was dir helfen könnte, ihn zum Verständnis für dich zu zwingen? Wir wissen nicht, woher es kommt. Müssen wir auch nicht. Wir wissen nur, dass es sich ändern muss. Denn wenn es auch so bleiben könnte, dann hättest du uns ja nicht geschrieben, oder?

Du hast nur diese eine Chance. Das ist traurig, aber wahr. Er mag ein noch so toller Mann sein - wenn seine Fehler (die jeder hat) es mit sich bringen, dass du wieder und wieder in eine totale Krisensituation katapultiert wirst, mit der du nicht umgehen kannst, dann musst du selbst entscheiden, was für dich höher im Wert steht. Dass das Ganze mentalitätsbedingt ist, ist immer möglich; jedoch, dann wäre der Weg GERADE, dass du einmal mit gleicher Münze zurückzahlst. Verstehst du? Wenn es seine Zuneigung zu dir unterstreichen soll, dass er dich so behandelt - nun, dann versage ihm den Beweis deiner Zuneigung auch nicht. Vielleicht trägt es sich für dich dann auch leichter, wenn ER das Maß verliert. Vielleicht ist es eine Möglichkeit, damit umzugehen. Vielleicht ergibt sich so aber auch endlich die Möglichkeit, die Dinge einmal zu bereden ("Jetzt weißt du, wie du mich fühlen lässt. Ich weiß nicht, ob du denkst, das müsste sein, oder ob du es nicht besser hinkriegst. Aber ich brauche es nicht und will es nicht und möchte, dass wir daran arbeiten.") Sagte ich in der Klammer: Wir? Ja, in der Tat. Denn so wie er daran arbeiten muss, dich nicht mehr weinen zu machen, und mit der emotionalen Erpressung aufhören muss, so solltest du dringend versuchen, nicht immer wieder darauf einzugehen. Es ist sicher verdammt schwer - aber jedes Mal, wenn du wieder einknickst, bestätigst du ihn damit in seinem Empfinden. Und wenn ein wirklich krasser, heftiger und lauter Streit, in dem DU mal nicht einen Millimeter nachgibst, die Alternative ist zu einer Szene, bei der du grausam erniedrigt wirst - nun, dann solltest du aus Liebe diesen Schritt wagen. Du wirst ihn nur "aufwecken", wenn du die Härte nicht scheust, die er dir auch angedeihen lässt.

Im Übrigen denke ich, dass es vielleicht helfen könnte, eine dritte Person hinzuzuziehen. Am Ende kannst du aber nur selbst am besten kommunizieren, worum es für dich geht. Selbst wenn du einen Freund von dir oder ihm dafür gewinnen kannst, mit ihm darüber zu reden, weißt du nie, wie effektiv das Ganze auf Dauer ist. Ich hoffe für euch beide, dass sich die ganze Sache lösen lässt. Falls aber nicht, denke daran - auch für ihn kann es eine wertvolle Lektion sein, zu sehen, was sein Umgang mit den Gefühlen Anderer für Folgen hat. Wenn du ihn als Menschen liebst, sollte er es dir wert sein, alles zu versuchen. Wenn aber die Mittel ausgeschöpft sind, ist es am Ende auch die Liebe, die der Vernunft die Hand reichen und sagen muss: "Ich komme hier nicht weiter. Ich nicht."

Ich wünsche dir viel Kraft, es mit deinem Freund auszutragen - und dass die Dinge sich in deinem Sinne regeln. Sei dir dabei aber immer bewusst: Niemand verlangt von dir, das Menschenmögliche zu übertreffen. Wann das ist, kannst nur du wissen. Vielleicht, wenn es nicht gelingt, brauchst du noch viel Zeit dafür. Das ist in Ordnung. Gib dich aber, auch wenn du erfolgreich sein solltest, nicht mit halben Lösungen zufrieden. Denn das Ganze wird nicht von jetzt auf gleich besser - es wird wahrscheinlich noch sehr lange Zeit dauern, bis es sich so eingespielt hat, wie ihr beide es akzeptieren könnt, und vielleicht bleibt es in eurer Beziehung in gewissem Umfang immer Thema. Das braucht dich nicht abzuschrecken. Wichtig ist aber, dass du auf dich selbst hörst und für dich formulierst, wo deine Schmerzgrenzen liegen. Du hast einer solchen Grenze Ausdruck verliehen, als du an uns geschrieben hast. Nun ist es an dir, sie auch in deiner Beziehung zu markieren.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul