Problem von Anonym - 15 Jahre

Meine geistig behinderte Schwester und meine Eltern

Hallo, ich möchte mich erst mal vorstellen.
Ich möchte meinen Namen nicht sagen, da ich Angst habe, man könnte mich zurück verfolgen. Ich bin 15 Jahre alt, habe eine Schwester und meine Eltern leben auch noch zusammen. Nun, meine Schwester... Sie ist 11 Jahre alt und geistig behindert. Sie hat einen Gendefekt, den auch nur 20 Menschen auf der Erde haben, es ist wissenschaftlich noch nicht erforscht und ja.. Man könnte es sich so vorstellen, als wenn ich eine dreijährige Schwester habe, denn ihr geistiges Alter beträgt ungefähr 3. Sie kann nur wenig sprechen, das Alphabet sowie bis 10 zählen kann sie nicht. Ich muss sagen, dass sie nicht die einzige in meiner Familie mit einer geistigen Behinderung ist. Mein Cousin (24) hat etwas ähnliches. Na ja, ich will hier keinen Roman schreiben, deswegen komme ich schnell zur Sache. Ich war schon immer etwas weiter als andere Kinder. Körperlich und Geistig. Und das ist auch ein Grund, warum ich nicht mehr klar komme. Meine Eltern wurden beide in ihrer Jugend geschlagen, oder waren geistiger Gewalt ausgesetzt. Meine Schwester hat Wutanfälle, außerdem sowas ähnliches wie das Tourette-Syndrom. Ungefähr 3 bis 4 mal täglich schreit sie herum und schlägt auch um sich herum. Auch ich werde von meiner Schwester geschlagen. Täglich. Ich nehme ihr das nicht übel, weil ich sie ja immerhin liebe, sie ist schließlich meine einzige Schwester. Die Wutanfälle werden immer stärker, gerade jetzt, wo die Pubertät beginnt. Ich halte das nicht mehr aus. Ich habe schon mehrmals während eines Wutanfalls gedacht, Suizid zu begehen, wegzulaufen oder meine Schwester in ein Behindertenheim zu bringen. Das ganze macht mich psychisch, sowie physisch fertig. Und ich meine, so kann das doch nicht mehr weitergehen, oder? Meine Eltern sind nicht besser. Wenn meine Schwester einen Wutanfall hat, werden sie sehr schnell, sehr laut. Ich bin dann meistens in meinem Zimmer und muss zusehen. Meine Mutter sowie mein Vater sind eigentlich sehr liebe Menschen. Jedoch wenn meine Schwester einen Wutanfall hat, dann ändern sie sich auch. Da bleiben sie auch nicht zurück sie zu schlagen. Ich werde angeschrien und so weiter. Das passiert einfach fast jeden Tag. Ich kann verstehen, dass sie überfordert mit der ganzen Situation sind. Ich habe nicht viele Freunde, und hatte auch nicht viele Freundinnen. Des Weiteren hab ich auch sehr wenig selbstbewusstsein deswegen. Ich war schon immer zurückhaltend und introvertiert. Außerdem habe ich leichte Paranoia und Persönlichkeitsstörungen (Durch den Opa geerbt.) Ich fühle mich manchmal einsam und habe das Gefühl, ich wäre der einzige auf dieser Welt, der so ein Leben wie ich führen muss. Meine Schwester ist dazu noch fettleibig, was mit ihrem Gendefekt zusammen hängt. Sie isst einfach immer weiter. Meine Eltern kaufen auch alles was sie will, weil sie sonst Wutanfälle bekommt. Das macht mich sehr zu schaffen. Für mich zählt nur noch eines, so schnell wie möglich einen Platz für sie im Behindertenheim zu suchen. Ich war auch schon in Psychischer Behandlung deswegen. Meine Mutter hat mich einmal geschlagen, danach aber nie wieder und mein Vater hat mich auch noch nie angerührt. Natürlich liebt man sein behindertes Geschwisterkind, aber ständig zurück stecken zu müssen, immer weniger Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen, weil man selbst ja gesund und leistungsfähig, die Schwester jedoch bedürftig und hilflos ist, das tut weh. Also frage ich euch. Was soll oder kann ich tun?

Frauke Anwort von Frauke

Hallo!

Das ist wirklich keine leichte Situation in der du steckst! Die Schwierigkeiten hast du ja selbst gut im Blick und gut erklärt - bevor ich dir dazu ein paar hoffentlich hilfreiche Tipps geben kann, möchte ich deinen Blick auf die positiven Seiten noch einmal zusammenfassen, denn die nennst du ja auch. Also:
Deine Familie ist noch zusammen, diese schwierige Situation hat euch nicht auseinandergerissen. Viele Eltern schaffen das nicht!
Du liebst deine Schwester trotz allem.
Du bist ziemlich klug und somit absolut in der Lage, das Beste aus der Situation zu machen und eine gute Lösung zu finden.

Übrigens, langfristig zeigt sich, dass Geschwister von geistig-behinderten Kindern folgende Stärken besser entwickeln als andere:


Sie besitzen oft ein ausgeprägtes Sozialverhalten, sowie Sensibilität für andere schwächere Kinder.
Sie wirken schon fortgeschrittener in ihrer Persönlichkeitsreifung.
Sie zeigen größere Sicherheit im Umgang mit Behinderung im sozialen Umfeld, sowie eine positive und offene Haltung behinderten Menschen gegenüber (prosoziale Einstellungen und Verhaltensweisen).
Dadurch gewinnen sie Selbstvertrauen und sind leichter fähig zu Selbstkritik.
Sie zeigen eine geringere Neigung zu aggressiver Selbstverteidigung bei Konflikten, sowie ein gutes Konfliktverhalten und eine höhere Frustrationstoleranz, die im Umgang mit dem behinderten Kind erworben wird.
Sie zeigen ebenfalls häufig ein höheres Verantwortungsbewusstsein als Gleichaltrige.


Du schreibst, dass du dein Selbstvertrauen eher nicht hoch einschätzt, aber du musst bedenken, dass die meisten Menschen in deinem Alter gerade einen Tiefpunkt haben und weniger Selbstvertrauen als vorher oder nach der Pubertät haben. Dein Selbstvertrauen kann durch ein erfolgreiches Meistern dieser Situation dafür später umso mehr wachsen. Sieh es als Chance.

Du schreibst, dass du Paranoia und leichte Persönlichkeitsstörungen hast, schreibst aber nichts Konkretes dazu. Bist du dir da eigentlich sicher? Ich meine, was ist schon normal? Aber dazu kann ich dir natürlich nicht viel sagen, ohne weitere Infos.

Ich habe die Auflistung oben von dieser Seite kopiert: http://www.intakt.info/informationen-und-recht/weitere-fragen/geschwister-behinderter-kinder/
Dort findest du noch viele weitere interessante Informationen!

Und damit bin ich bei einem wichtigen Punkt angekommen. Du schreibst: "Ich fühle mich manchmal einsam und habe das Gefühl, ich wäre der einzige auf dieser Welt, der so ein Leben wie ich führen muss."

Du weißt ja sicher, dass das natürlich nicht so ist, das sehe ich ja daran, dass du schreibst "ich habe das Gefühl". Es gibt eine Menge Seiten im Netz, in denen es gerade um die Geschwister behinderter Kinder geht. Und es gibt auch zum Teil Angebote in der realen Welt. Über die facebook-Seite http://berliner-geschwisterkinder.de/ kannst du vielleicht Kontakt aufnehmen mit Jugendlichen, die ähnliche Erfahrungen wie du machen. Vielleicht könnt ihr euch austauschen und gegenseitig Tipps geben.

Manchmal ist es einfach nur gut zu hören, dass es anderen auch so geht. Der oben genannte Verein hat seinen Sitz in Berlin und bietet da auch Veranstaltungen an. Vielleicht gibt es ähnliche Angebote auch bei dir in der Nähe? Gibt es eine "Lebenshilfe" in deiner Stadt? Google danach. Dort kannst du anfragen, ob bei euch in der Gegend auch eine solche Gruppe für Geschwister existiert.

Auf welche Schule geht deine Schwester? Haben die Kinder in ihrer Klasse nicht auch ältere Geschwister? Vielleicht kannst du auch an der Schule deiner Schwester einfach einen Aushang machen und sogar selbst eine Art "Selbsthilfegruppe" oder Erfahrungsaustauschgruppe gründen. Mache einfach einen Aushang auf dem steht: "Ich bin ... und ... Jahre alt. Meine Schwester geht in die ... Klasse und ich möchte Leute in meinem Alter kennen lernen, die auch Geschwister mit geistiger Behinderung haben. Bei Interesse meldet euch unter ... "

Oder frage die Lehrer deiner Schwester, die haben vielleicht einen Überblick und können dir sagen, welches Geschwisterkind in etwa in deinem Alter und/ oder einer ähnlichen Situation ist. Eventuell kannst du deine Eltern auch die Lehrer fragen lassen - wenn du etwas schüchterner bist ;)

Du hast ja schon gesagt, dass dir der Gedanke gekommen ist, dass deine Schwester vielleicht besser in einem Heim untergebracht wäre. Diese Möglichkeit besteht natürlich und wäre bestimmt eine große Entlastung für deine Eltern. Wenn sie so aggressiv ist und niemand weiß, wie man ihr Verhalten ändern kann, dann ist das auf jeden Fall ein Weg, den man nicht ausschließen sollte! Auch hier könnt ihr euch von der Lebenshilfe oder von der Schule deiner Schwester informieren lassen.

Du schreibst aber nicht, wie deine Eltern zu einer Heimunterbringung stehen. Ihr solltet natürlich darüber sprechen, bevor du auf eigene Faust weiterer Informationen einholst. Mache deinen Eltern klar, wie es dir geht und dass du Angst hast, dass die Familie diese Situation/ die Pubertät deiner Schwester womöglich nicht unbeschadet besteht. Diese Zeit ist jetzt wichtig für dich. Du brauchst zu Hause ja auch Ruhe zum Lernen für die Schule. Es geht um deine Zukunft!

Es gibt aber auch noch andere Dinge, die ihr zuvor ausprobieren könnt. Es gibt den FED, den familienentlastenden Dienst der Lebenshilfe in Deutschland. (Hier ein link: https://www.lebenshilfe.de/de/buecher-zeitschriften/lhz/ausgabe/2013-3/artikel/FuD.php?listLink=1)

Mitarbeiter des FED können z.B. mit dir etwas unternehmen oder mit deiner Schwester etwas unternehmen. Dann kannst du einmal mit jemandem reden, der dir konkrete Hilfe geben kann, wie du dich in schwierigen Situation verhalten kannst. Oder du hast einfach einmal Zeit, mit deinen Eltern alleine - ohne deine Schwester - etwas Schönes zu unternehmen und so wieder eine bessere Beziehung zu ihnen aufzubauen.

Die Mitarbeiter des FED haben dann auch einen objektiven Blick von außen auf eure Familie und können deine Eltern zum Beispiel beiseite nehmen und sie darauf hinweisen, dass sie oder du mit der Situation völlig überfordert sind. Manchmal, wenn man in einer solchen Situation drin steckt, läuft man sozusagen auf Autopilot und achtet gar nicht mehr auf Warnsignale von Psyche und Körper. Gerade Eltern verausgaben sich aus Liebe und Verantwortungsgefühl komplett und merken nicht, dass sie keinem ihrer Kinder mehr gerecht werden können, wenn sie sich selbst so verausgaben!

Alles ist natürlich einfacher, wenn du eher in einer Großstadt als auf dem Land wohnst, denn dort gibt es einfach mehr Angebote. Aber vielleicht haben die Mitarbeiter der nächstgelegenen Lebenshilfe auch weitere Kontaktadressen für dich. Hilfen könnt ihr auch über das Jugendamt bekommen. Auch hier gibt es eine Familienberatung. Du kannst dich dort auch erst ganz anonym beraten lassen. Keine Sorge, die Mitarbeiter haben dort Schweigepflicht! Sie können dir aber dann bestimmt erklären, welche Hilfsangebote es bei euch in der Gegend gibt. (Google: Familie, Beratung, Jugendamt, Jugendliche, "Name deiner Stadt")

Allein deine Schreibweise zeigt mir, das du in der Lage bist, ganz rational über alles nachzudenken. Du siehst die Situation klar und zeigst gleichermaßen Mitgefühl für deine Eltern und deine Schwester. Das sind die besten Vorraussetzungen für eine gute Lösung.

Ich wünsche dir alles Gute und viel Erfolg!
Frauke