Problem von Anonym - 22 Jahre

Selbstmordgefährdeter Freund

Hallo,

Mein Name ist Selina und ich bin 22 Jahre alt. Ich bin seit ca. 2 Jahren mit meinem Freund zusammen, der mit den Jahren sehr depressiv geworden ist. Es war schon immer etwas schwierig aber so schlimm wie jetzt war es noch nie.
Vorab erstmal:
Mein Freund hat schwere Familienprobleme. Eine alkoholsüchtige Mutter, durch die Jahre viele diverse Probleme mit seinem Vater, da schon oft die Scheidung der Eltern im Raum lag. Die Beziehung zu seiner Schwester ist auch nichtmehr so wie damals. Wie es sich für mich anhört fühlt er sich alleine gelassen. Er ist sehr anfällig auf Streit und verliert schnell die Kontrolle, wird sehr aggressiv (nie gegenüber Personen, er wirft Sachen durch die Gegend schlägt gegen Türen etc.) und schreit. Er kommt mir sehr überfordert vor und umso öfter höre ich das er von Selbstmord spricht.
Er konsumiert regelmäßig Pep.
Umso mehr fühle ich mich verantwortlich ihm beizustehen. Therapie kommt für ihn nicht in Frage da lässt er sich auch nichtschon erzählen. Er glaubt einfach nicht daran das ihm weder irgendwelche Tabletten oder Gespräche mit jemandem helfen könnten. Er will oft für sich alleine sein und ich weiß einfach nichtmehr was ich tun soll.
Ich schaue zu wie es von Tag zu Tag schlimmer wird und ich kann nichts tun. Ich kann nunmal keinen Therapeuten ersetzen aber es bricht mir das Herz ihn so leiden zu sehen und ihn von Selbstmord reden zu hören. Ich habe Angst das es eines Tages so weit ist.

Mit freundlichen Grüßen

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

nun ist schon wieder einige Zeit verstrichen, seit du uns geschrieben hast. Ich hoffe sehr, dass dein Freund in dieser Zeit nicht etwa Hand an sich gelegt hat!

Es ehrt dich, dass du dich so um deinen Freund sorgst. Angesichts seiner schweren Vergangenheit, seines Verhaltens und auch seines Drogenkonsums ist das auch mehr als verständlich; wäre es auch, wenn er nicht so häufig von Selbstmord sprechen würde. Andererseits solltest du auch nicht vergessen: Du hast dir selbst den - richtigen! - Zuspruch erteilt, dass du einen Therapeuten nicht ersetzen kannst, und dass, mit ihm zu leiden, dich auch Kraft kostet. Es ist weder dir noch ihm gedient, wenn du dich davon aufzehren lässt. Und vielleicht wäre es für ihn eine Hilfe - auch wenn er es nicht gleich als solche empfindet -, wenn du ihm das kommunizierst.

Was für eine Vorstellung von der Zukunft hast du, liebe Anonyme? Ich nehme an, dass er darin vorkommt. Ihr werdet beide vermutlich eine Ausbildung machen oder studieren. Was sind deine Ziele? Was sind seine? Und stimmen sie überein, wenigstens annähernd? Denn wenn dein Freund von Selbstmord spricht, ist das zwar zunächst mal ein Zeichen für seine seelische Zerrüttung. Es ist aber auch ein Zeichen von fehlender Kraft oder fehlender Bereitschaft, mit dir gemeinsam etwas zu erarbeiten: Eure Beziehung, eure Wohnung, euer Einkommen, eure Familie, falls ihr über sowas nachdenkt. Ihr liebt einander - jedenfalls weiß ich von dir, dass du ihn liebst. Dieses Wissen bedeutet eine Verantwortung. Es ist edel und gerecht, wenn es dir wichtig ist, dass sich sein Zustand bessert. Verliere dabei aber nicht aus den Augen, dass es nicht nur um das gehen kann, was sich für ihn gut anfühlt, wovon er glaubt, dass es ihm helfen würde. Zwar sagtest du, dass für ihn eine Therapie nicht in Frage kommt - andererseits: Auf diese Weise kommuniziert er dir deutlich, was er will, nämlich keine Therapie. Warum? Misstraut er prinzipiell allen Menschen (außer dir - und wenn er dir vertraut, warum glaubt er dann nicht, dass deine Einschätzung, eine Therapie würde ihm gut tun, Hand und Fuß hat?) Triffst du ihn in hinreichend nüchternen Momenten an, um überhaupt mit ihm sprechen zu können - oder ist seine Konzentrationsspanne sehr gering? Wenn du ihm wirklich helfen willst, musst du bereit sein, auch Dinge von ihm zu fordern, die für ihn nicht angenehm sind, die er dir vielleicht sogar vorwirft. Wenn der Preis dafür, ihn auf den richtigen Weg zu stoßen, sein Misstrauen ist, dann musst du das vielleicht in Kauf nehmen. Wenigstens eine Weile.

Es ist für dich und für euch besser und leichter, wenn du einen Streit riskierst (oder etliche), als ihn in seinem Zustand zu lassen, in dem er sich vor der Welt verschließt. Und versuchst, ihm deutlich zu machen, dass es hier um euch beide geht. Bist du es ihm wert, über seinen Schatten zu springen, die Auseinandersetzung mit seinen Gespenstern zu suchen? Oder möchte er sich weiterhin zurückziehen? Eine Depression, oder eine Psychose, anzufassen und zu überwinden, braucht Zeit - vielleicht gelingt es nie vollständig. Wichtig ist aber, dass ein Anfang gemacht wird. Das wirst du nicht erreichen, wenn du darauf hoffst, dass er von selbst die Schritte ergreift, die ihm weh tun (was verständlich ist!). Dir, liebe Anonyme, liegt etwas an eurer gemeinsamen Zukunft; sie wird aber in immer weitere Ferne rücken, wenn du dich weiterentwickelst, er jedoch in seinem Zustand verharrt. Wenn er an sich arbeitet, mit Höhen und Tiefen, wenn die Bereitschaft, sich mit dir etwas aufzubauen, gelegentlich erschüttert wird - dann ist das schwer, schmerzhaft, aber wesentlich besser als das, was ihr jetzt habt. Im Moment seid ihr noch jung genug, dass er sich den Luxus gönnen kann, seine Probleme auszuleben und sich keine Hilfe zu suchen. Wenn das aber noch und noch nicht geschieht, wird euch die Realität irgendwann einholen - spätestens, Selina, wenn du selbst die Grenzen deiner Belastbarkeit erreichst.

Es ist nur menschlich und begreiflich, wenn du dem Mann, den du liebst, ersparen willst, für ihn schmerzvolle Erfahrungen zu machen - wozu gehören kann, sich in eine Therapie zu begeben. Doch ist dir und ihm nicht geholfen, wenn du dich aufzehrst vor Angst und Sorge, ohne dass er realisiert, wie sehr er zwar nicht durch seine Probleme, aber durch seinen Unwillen, sie zu lösen zu versuchen, auch dir weh tut. Wenn der Punkt erreicht ist, an dem du nicht mehr zu ihm durchdringst, solltest du ihn ernstlich fragen: "N. N., liebst du mich? Weißt du, dass ich dich so sehr liebe, dass ich mir etwas Anderes nicht vorstellen will, und dass ich mit dir zusammen leben will? Du weißt, dass ich weiß, dass du dir deine Probleme nicht aussuchst. Aber wie, glaubst du, fühle ich mich, wenn du Nein sagst zu deinem Leben - und damit auch zu mir?"

Denn Depressionen, liebe Anonyme, sind zwar etwas Furchtbares. Es kann allerdings auch sehr bequem sein, sich ihnen hinzugeben. Nur allzu leicht vergisst derjenige, der eine Begründung und einen Namen für seine Probleme hat (wie es bei deinem Freund der Fall ist), dass das Ganze kein Grund ist, es hinzunehmen - sondern vielmehr der Grund sein sollte, sich umso eifriger damit auseinanderzusetzen. Du kannst deinem Freund seine verlorene Kindheit nicht wiedergeben, aber du kannst ihn dazu bewegen, aus seinem Erwachsenenleben etwas zu machen. Es kann sein, dass dein Freund die Einsicht und Stärke nicht hat, das so bald und so sehr zu tun - selbst wenn du ihm Jahre dafür Zeit gibst -, dass dieses Leben eines mit dir sein kann. Doch allein die Chance, dass es sein könnte, sollte es dir wert sein, deinem Freund hier auch Druck zu machen: Denn wo es um ihn geht, geht es auch um dich und um euch. Und niemand kann von dir verlangen, deinen eigenen Schmerz bis zur Unfassbarkeit zu nähren. Solange dein Freund dir nicht wenigstens zusagt, dass er über eine professionelle Hilfe nachdenkt, wird dich immer dieser Schmerz begleiten - und damit das Gefühl, dass er, wenn er davon spricht, sein Leben wegzuwerfen, auch eure Liebe wegwirft. Das tut weh, liebe Anonyme, und diesen Schmerz bei dir selbst zuzulassen und nicht als unanständig zu bewerten (weil er ja das Problem hat), ist eine wichtige Aufgabe. Ebenso, zu wollen, dass dieser Schmerz aufhöre. Mit anderen Worten: Etwas von ihm zu wollen! Erlaube dir das!

Du bist nicht egoistisch, wenn du deinem Freund, wenn du bei ihm durch gutes Zureden nichts erreichst, sagst, dass er sich seiner Wirkung auf dich bewusst werden soll. Es ist weder unmoralisch noch vermessen, wenn du erwartest, dass er in eurem Interesse etwas verändern will; sondern das ist ja gerade die Grundvoraussetzung, dass du ihm weiter deine Liebe und Fürsorge widmen kannst: Das Wissen, dass du von ihm etwas zurückbekommst, und wenn es nur seine Anstrengung ist, an einen Punkt zu kommen, an dem er dir etwas geben kann. Denn Beziehung beruht auf Gegenseitigkeit; du kannst nur Liebe spenden, wenn er nicht einerseits deine Liebe annimmt, aber andererseits davon spricht, dich dem größten aller Schmerzen auszusetzen. Das ist grausam, auch wenn er es vielleicht nicht realisiert. Und das auch zu benennen, kann, so schwer es dir fällt, die einzige Möglichkeit sein, eure Liebe zu retten.

Es ist toll, dass du deinen Freund unterstützen willst - er kann sich glücklich schätzen! Aber zur Unterstützung sollte auch gehören, deine eigene Fähigkeit, ihm zu helfen, zu erhalten. Das heißt: Dich nicht heldenmütig aufzuopfern, bis du irgendwann nicht mehr weißt, wofür du das machst, sondern deinem Freund zu vermitteln, dass es um ein größeres Ganzes geht. Nämlich nicht nur um das "dich" und auch nicht nur um das "er", sondern um das "uns". Und dieses "euch", wenn es das Endziel eurer gemeinsamen Anstrengungen ist, kann euch beiden die dazu notwendige Kraft verleihen. Das wird aber nicht der Fall sein, wenn du in dem Anspruch, ihn abzuschirmen, übergehst, dass du Träume hast - Träume, die von dir und von euch handeln. Wenn du ihn liebst, teilst du ihm die Bereitschaft mit, ihn in deine Träume aufzunehmen. Es ist nichts Anstößiges dabei, dir von ihm zu wünschen, dass er das auch tun möge. Solange er vor dir davon spricht, deine Träume zu zerstören (und wenn wir beide tausendmal wissen, dass all das natürlich eine Geschichte hat), ist das nicht wirklich der Fall. Wenn du ihn aber darauf stößt, dass du ihm ein unfassbar wundervolles Angebot gemacht hast, dann kann er von sich aus die Kraft entwickeln, sich aus seinem dunklen Loch zu befreien. Es geht manchmal durch Streicheln und Anlehnen, aber eben auch nicht immer. Und du solltest keine Scheu haben, deutlich zu ihm zu sein. Es ist in seinem Interesse. In eurem Interesse.

Ich wünsche dir viel Kraft und die richtigen Worte, deinem Freund zu sagen, dass es um mehr geht! Um euch. Und dass du ihm ein Geschenk gemacht hast. Es ist an ihm, es anzunehmen. Du bist bereit, ihm dabei jede Hilfe zu geben - nur muss er sie auch akzeptieren. Daran führt kein Weg vorbei.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul