Problem von Anonym - 28 Jahre

Behinderte Geschwister

Hallo!
Erstmal ein großes Kompliment an Eure Seite! Ich hab mich sehr gefreut, als ich gesehen habe, daß hier auch "ältere Semester" posten.
Zu meinem Problem: ich bin die älteste von drei Schwestern. Meine Schwestern sind 5 bzw. 6 Jahre jünger als ich, die jüngste ist körperlich und geistig schwerstbehindert und das seit ihrem 7. Lebensmonat. Was genau ihre Behinderung verursacht hat, weiß man nicht. Meine Mutter behauptet immer, ich würde meine behinderte Schwester ablehnen und wäre deswegen ein schlechter Mensch. Ich persönlich glaube aber, daß ich es einfach satt habe, daß in meiner Familie nur "normal" ist, wer meine behinderte Schwester über alles stellt und sich selbst dabei völlig vergißt. Ich habe als Kind oft abends auf meine Schwestern aufpassen müssen. Bei dieser schweren Behinderung finde ich das heute völlig unverantwortlich, eine 10jährige mit sowas alleine zu lassen. Ich war ein ziemlich zurückhaltendes, stilles Kind, hatte wenig Freunde und bin auch als Teenager nie auf Parties oder so gegangen. Heute denke ich, daß das eine Form von Überanpassung war. Meine andere Schwester und ich waren auch immer sehr gut in der Schule, aber das wurde als selbstverständlich angesehen. Am problematischsten finde ich, daß meine Eltern nie Hilfe von außerhalb gesucht haben. Dafür war angeblich nie Geld da. Ich wäre wirklich gerne mal mit meiner Mutter abends ins Kino oder so, aber das war nie drin. Einmal habe ich den Vorschlag gemacht, meine behinderte Schwester könnte für ein, zwei Wochen in ein stationäres Pflegeheim, damit wir anderen endlich mal Urlaub machen können. Das gab einen riesigen Aufstand, weil ich mich "vergnügen wollte, während meine Schwester leidet". Zu Festen an ihrer Sonderschule mußten wir immer gehen und helfen, aber wenn ich meine Eltern bei einer meiner Theateraufführungen dabei haben wollte, dann ging das zeitlich/finanziell nie.
Meine Mutter pflegt meine Schwester fast rund um die Uhr, sie ist nur tagsüber für ein paar Stunden in einer Pflegeheim. Ich befürchte auch, daß das langsam über ihre Kräfte geht.
Als ich 16 war, meinte mein Vater, ich wäre jetzt alt genug, um meine Schwester auch mal für zwei Wochen zu pflegen, damit meine Eltern in Urlaub fahren können. Pflege bei meiner Schwester bedeutet: nachts drei- bis viermal aufstehen und sie drehen, damit sie sich nicht wundt liegt, fünfmal am Tag pürierte Nahrung mit dem Löffel füttern (was jedesmal eine Riesensauerei ist, weil sie nicht richtig schlucken kann), Einläufe geben etc. Ich hab mich immer so schlecht gefühlt, weil ich mich geweigert hab. Aber ich konnte (und kann) so was einfach nicht. Noch dazu haben meine Eltern jahrelang keine technischen Hilfsmittel in Anspruch genommen. Meine Mutter trägt meine (inzwischen über zwanzigjährige!) Schwester die Treppe hoch in den ersten bzw. zweiten Stock. Ein spezielles, höhenverstellbares Bett haben wir erst seit vier Jahren. Bis vor vier Jahren mußten entweder meine andere Schwester oder ich einmal die Woche mit meiner behinderten Schwester baden, d.h. wir mußten in die Wanne steigen und sie auf uns legen lassen, damit meine Mutter sie waschen kann.
Inzwischen wohne ich nicht mehr zu Hause und ich dachte, daß würde die Situation entschärfen. (Obwohl ich lange gebraucht habe, mich zum Auszug durchzuringen; ich hatte immer das Gefühl, ich lasse meine Familie im Stich.) Trotzdem halten meine Eltern mir vor, ich würde meine Schwester ablehen und wäre deshalb ein "Nazi" oder schlimmeres. Ich glaube, ich brauche einfach mal Abstand. Ich will nicht die ganze Zeit über die Behinderung meiner Schwester nachdenken. Meine ganze Kindheit drehte sich immer alles nur um sie, ich will jetzt einfach mal nur an mich denken. Ist das falsch?

Anwort von Sabine

Hallo!

Ich habe kein behindertes Familienmitglied und kann es nur schwer nachvollziehen, aber ich versuche mal, mich in Deine Situation zu versetzen.
Mein erster Gedanke (ich will ganz ehrlich sein) war: Nein, es ist nicht falsch.
Ich fand es bald schon erschreckend, wie früh Deine Eltern Dir Deine Schwester "aufs Auge gedrückt" haben und dann mit 16 Dir die Verantwortung übergeben haben, damit sie in den Urlaub fahren konnten. Wann bist Du denn in den Urlaub gefahren? Warum haben sie nicht auch auf den Urlaub verzichtet oder Dich gar mitgenommen. Das Ding fand ich, ehrlich gesagt, sehr heftig.
Du liebst Deine Schwester, ob mit oder ohne Behinderung, dass kann man Deiner Mail entnehmen, da Du sehr von Sorge und Gewissen schreibst und das war sogar für mich zu erkennen. Daher verstehe ich den Vorwurf Deiner Eltern nicht. Gut, dafür müßte ich mir auch ihre Meinung anhören um es beurteilen zu können, aber ich habe jetzt Deine Meinung hier vorliegen und ich denke, dass der Auszug in ein eigenes Leben gerechtfertigt war. Schließlich hast Du auch ein eigenes Leben. Du bist ja nicht weg, Du bist nur räumlich weg. Wenn sie Deine Hilfe brauchen, können sie Dich immer noch anrufen.
Ich würde nicht sagen, dass es falsch war auszuziehen um Dein Leben zu führen. Du hast auch Wünsche und Bedürfnisse. Auch wenn Deine Schwester behindert ist, solltest Du Dein Leben nicht nur auf sie einstellen. Deine Eltern und anderen Geschwister sind schließlich auch noch da und so kann jeder etwas für sie tun und da sein.
Nur an Dich denken, dass wirst Du vielleicht nicht einmal schaffen, da Dir Deine Schwester ans Herz gewachsen ist, aber mehr an Dich zu denken, ich meine, das Recht kannst Du Dir ruhig nehmen und das steht Dir auch zu.

Lieben Gruß.