Problem von Anonym - 27 Jahre

Missbrauch in der Familie

Hallo.
Vor wenigen Tagen ist jemand aus meiner Familie verstorben. Ich hatte zuletzt nicht mehr wirklich viel Kontakt mit der Person, aber eine Menge Kindheitserinnerungen und die meisten sind auch ziemlich gut. Auf der Beerdigung hab ich ziemlich viel geweint und war traurig darüber wie wenig Zeit wir eigentlich miteinander hatten. Kurz nach der Trauerfeier, habe ich dann etwas erfahren, was mich jetzt total aus der Bahn wirft. Er soll seine eigene Tochter mehrfach missbraucht haben, so das sie als Teenager auch Selbstmord begehen wollte und später in Therapie ging. Letzteres weiß ich von meiner Mutter, allerdings weiß sie bis heute nicht warum sie ein psychisches Problem hat. Ich bin neben einem anderen Familienmitglied die einzige Person die davon weiß. Ich weiß nun einfach nicht wie ich damit umgehen soll... ich schäme mich geweint zu haben um so einen Menschen und das vor den Augen seiner Tochter. Wie soll ich in den nächsten Jahren an seinem Grab trauern, mit dem Wissen? Wie soll ich dem Rest meiner Familie "vorspielen" wie traurig sein Verlust ist. Ich weiß einfach gar nicht wo mir der Kopf steht und welches Gefühl ich haben "soll". Ich kann ja niemanden davon erzählen und ich will sie nicht weiter mit dem Thema belasten. Hinzu kommt das meine Kindheitserinnerungen nun auch in ganz anderem Licht dastehen. Seine Tochter hat immer auf mich aufgepasst wenn ich zu Besuch war und er soll mir oft unter den Rock geschaut haben. Ich zweifel nicht ein Stück an dem was sie mir gesagt hat, weil ich als Kind schon manches wahrgenommen habe, aber das einfach nicht so gesehen habe. Wahrscheinlich gibt es dafür nicht mal eine Lösung ._.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

du hast natürlich Recht: Das von ihm zu wissen, lässt alles in einem anderen Licht erscheinen. Es ist nichts, was man als "Fehler" oder "Ausrutscher" abtun könnte; es ist keine Jugendsünde, sondern ein Verbrechen. Trotzdem ist es schwierig, um "so einen Menschen" nicht trauern zu dürfen.

Dass du ihn als netten Menschen kennst, während er gleichzeitig seiner Tochter das angetan hat, kann zwar nichts entschuldigen. Allerdings bilden diese zwei Seiten keinen unbedingten Widerspruch. Wäre seine Freundlichkeit nicht ebenso in seinem Wesen angelegt gewesen, wie das Andere, hätte er sie dir nicht erweisen können. Dass er sich an seiner Tochter vergangen hat, war natürlich nicht von Anfang an bestimmt. Er hat es selbst entschieden. Doch wenn er dich und andere Leute gut behandelt hat, war das trotzdem einer seiner Züge; gespielt war es nicht.

Wieviele Triebtäter werden, genau aus diesem Grund, erst nach Jahren überführt? "Das kann doch nicht sein!", hört man dann, "Der nette alte Herr!" Ja! Aber er war eben nicht nur das. Daraus können wir aber nicht schließen, dass er ein durch und durch verdorbener Mensch war. Wenn du jetzt manches an ihm anders wahrnimmst, und das Gefühl hast, auch du hättest vielleicht Opfer werden können - dann will ich diesen Prozess gar nicht hemmen. Dann ist mein Rat, gib dir etwas Zeit. Deine Trauer wird vermutlich Ekel oder Wut weichen. Damit ist zwar dein jetziges Problem gelöst, aber ein neues taucht auf: Gibt es das absolut Böse, und das absolut Gute?

Manche Verbrechen können durch nichts entschuldigt werden. Ohne dass ich einen Vergleich anstellen, oder dich erschrecken will, nehme ich mal gängigste Beispiel, das sich aufdrängt: Wie ist das mit den Tätern des Holocaust und den Tätern von Srebenica, mit Kriegsverbrechern, die sich in noch viel entsetzlicherem Ausmaß, Mord, Vergewaltigung und Folter schuldig gemacht haben? Weil Hunderte, Tausende, ja Millionen von Menschen betroffen waren? Ich glaube, wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir Verbrecher als ganz und gar böse darstellen. Damit erschaffen wir zum einen eine billige Entschuldigung für uns, die wir Verbrechen zugesehen haben - oder nicht sehen wollten: "Es hätte kaum anders kommen können. Der war schon immer so seltsam." Nein, war er nicht! Auch die größten Verbrecher sind einmal klein und unschuldig gewesen. Auch sie sind auf dieselbe Weise zur Welt gekommen wie wir - sind Mensch und nicht Teufel. Auch sie haben in der Nacht Angst gehabt, auch sie haben im Sand gespielt, auch sie haben Mädchen hinterher geschaut. Irgendwo war ein Bruch in ihrem Wesen, ab irgendeinem Punkt veränderte sich etwas radikal. Das heißt nicht, dass das eine ausweglose Straße gewesen wäre. Und auch nicht, dass damit irgendetwas gerechtfertigt, oder entschuldigt werden könnte. Es gibt unzählige Faktoren, die zusammen wirken, solch einen Menschen heran zu bilden. Manche sind zufällig, sind unglücklich; manche entstehen aus bewusster Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit Anderer; manche sind Leid, das den Tätern selbst zugefügt wurde. Niemand kann wirklich sagen: "Ich konnte nicht anders, meine Kindheit war schon so schlimm...!" Klischee, ich weiß. Dennoch müssen wir uns klar machen, dass auch in uns diese Möglichkeit gegeben ist. Wieviele von uns, wären wir in anderen Zeiten unter anderen Umständen aufgewachsen, hätten ganz andere Wege eingeschlagen? Da schließe ich mich selbst nicht aus. Bei der Beurteilung von Verbrechern müssen wir stets überlegen: Wo hört jede Entschuldbarkeit auf? Wo hat er keinem Zwang mehr gefolgt, sondern eine Tat begangen, neben der jede Begründung sich wie nichts ausnimmt? Wo befindet sich der "niedere Beweggrund", das bewusste, nicht zu rechtfertigende Verbrechen? Psychische Störungen und schlimme Kindheiten können nicht alles entschuldigen. Sie sind kein Schlagwort, das wirklich dazu dienen soll, verdiente Strafe abzuwenden. Sie sollen uns vielmehr dazu bewegen, auch die hauchdünnen Faktoren zu sehen, die bei uns anders waren - und wegen denen wir nicht auf der Anklagebank sitzen.

Hast du das Gefühl, deiner Familie etwas vorspielen zu müssen? Das Einfachste wäre vielleicht, ihnen ganz konkret zu sagen: "Das ist schrecklich, das er nicht mehr da ist... nach dem ersten Schock fühle ich mich leer. Ich kann nicht mehr weinen, ich brauche einfach Zeit." Und das ist ja auch so - dann würde sich zumindest niemand mehr wundern. Ich fände es wichtiger, dass du dich selbst schützt. Wie wird es dir gehen, wenn in deinem Beisein um ihn geklagt wird, während du auch die andere Seite kennst? Was ich mit dem langen Absatz habe ausdrücken wollen, ist das: Man kann und darf um ihn trauern. Denn wenn wir jemanden betrauern, meinen wir damit seine Taten und Gesten, die er jetzt nicht mehr austeilen kann. Deine Familie kennt nur oder überwiegend die guten - dass es auch schlimme gab, heißt noch nicht, dass alles sonst gespielt war. Gib ihnen die Zeit, über den Tod dieses Mannes hinweg zu kommen - irgendwann wird er nicht mehr oft Thema sein. Aber denke auch an dich, ziehe dich soweit zurück, wie du musst, um keinen Wutausbruch zu riskieren. Wenn du ihn hassen kannst und möchtest, dann tue es! Nimm dir sein Foto, zerreiß es - wirf ihm Falschheit vor und Scheinheiligkeit, nenn ihn Lügner, Vergewaltiger: Das alles darfst du. Wenn es dir nützlich ist, dir hilft, ist es okay. Es gibt keine völlig schlechten Menschen - aber trotzdem hat er Dinge getan, die sich nicht entschuldigen lassen, und die nicht rückgängig zu machen sind. Ich kann es gut verstehen, wenn du dich schämst - aber das musst du nicht. Denn es ist nicht schlimm, ihn nicht "so" gekannt zu haben. Genauso wie man von dir nicht verlangen kann, ihn zu betrauern, ist es auch nicht ratsam, ihn abgrundtief zu hassen. Das ist verständlich, aber nicht sinnvoll. Denn er ist auch ein Mensch gewesen, der jetzt allerdings nicht mehr da ist. Was wichtig ist, ist, seine Tochter bei der Bewältigung ihrer schrecklichen Erlebnisse zu unterstützen, und ansonsten nicht zu hadern. Er ist nicht mehr da, seine Rolle wird klein und kleiner werden; das Vernünftigste was man tun kann, ist, die Wirkung seiner Taten zu schmälern. Aber wenn du ihn hasst, ziehst du damit tatsächlich deine eigene Erinnerung in Zweifel, wirfst dir indirekt Leichtgläubigkeit vor, entwickelst vielleicht selbst Ängste. Ist es das wert? Und hat es nicht sein Gutes, dass es nur wenige gibt, die es wissen? Vielleicht kommt einmal der Zeitpunkt, wo man es sagen möchte oder muss. Im Augenblick würde ich es nicht tun, sofern es geht. Die Toten sind tot, aber das Leben geht weiter. Wer ein gutes Leben geführt hat, den kann man sich zum Vorbild nehmen, zur Ideenquelle, und sein Andenken pflegen. Wer Schlimmes getan hat, der soll auch nicht vergessen werden - noch, dass er ein Mensch war. Doch das Beste ist, alles zu tun, um seinen "Erfolg" so weit als möglich zu begrenzen.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul