Problem von Anonym - 15 Jahre

Warum darf ich keinen Freund haben?

Hallo, ich stamme aus der Türkei und habe eine sehr religiöse und strenge Familie.Ich habe mich in einen Jungen verliebt der sich auch in mich verliebt hatte und mich daraufhin fragte ob ich mit ihm eine Beziehung eingehen würde, leider musste ich Nein sagen weil meine Familie das nicht erlauben würde und ich dann ärger bekommen würde.Weil ich keinen Kontakt zu diesen jungen haben darf bin ich sehr traurig, ihm habe ich das Problem geschildert woraufhin er auch sehr niedergeschlagen war.
Ich habe Eltern, einen Bruder und eine Schwester.
Mein Bruder darf jedoch eine Freundin haben die aus einem anderen Land herkommt (Deutschland).In meiner Familie muss man als Frau sehr aufpassen, man muss immer das machen was die Eltern sagen, Männer haben mehr recht und anziehen darf ich manchmal auch nicht was ich will.
Dieses Problem belastet mich sehr und macht mir auch sorgen um meine zukunft.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

tja, warum? Das ist eine sehr schwierige Frage. Es gibt tatsächlich keinen Grund, der allen Menschen einleuchten würde. Für streng religiöse Menschen ist es klar, dass sie sich nach dem richten, was in den Heiligen Schriften geschrieben steht. Religion ist grundsätzlich etwas Gutes: Sie gibt den Menschen Sicherheit. Durch eine Antwort auf die Frage, was nach dem Tod kommt, beispielsweise. Aber auch durch Regeln, an die man sich halten kann - oder soll.

Nicht alle diese Regeln empfinden wir heute noch als gerecht. Jesus hat laut der Bibel zum Beispiel erklärt, dass es eine Sünde ist, sich von seinem Ehepartner scheiden zu lassen. Eigentlich war das als Vorschrift gedacht, die den Frauen helfen sollte: Vorher konnten ihre Männer sie einfach verstoßen, und sie wären nicht nur ohne Mittel dagestanden, sondern man hätte sie vielleicht auch noch beschuldigt, ihren Mann betrogen zu haben. Die Scheidung wurde verboten, damit dem Mann die Pflicht verdeutlicht wird, sich um seine Frau zu kümmern. Nur: Was ist, wenn ein Mann seine Frau misshandelt? Was, wenn sie unter ihm zu leiden hat? Wenn das Versprechen, das die beiden sich bei ihrer Hochzeit gegeben haben - sich gegenseitig zu lieben und zu achten - gar nicht mehr eingehalten wird? Das ist eine Frage, die die Kirche nicht zu unserer Zufriedenheit beantworten kann. Meine Oma ist eine sehr gläubige Frau, aber eigentlich dürfte sie in der Kirche nicht am Abendmahl teilnehmen, da sie von meinem Opa geschieden wurde. In früherer Zeit hat man solche Probleme hingenommen - oder sie gar nicht als Probleme gesehen. Der Mann wurde als Vormund der Frau betrachtet, er durfte über sie verfügen. Ihm wurde auch geglaubt, wenn er seine Frau beschuldigte, ihn betrogen zu haben. Und es ist noch gar nicht so lange her, da war es für Frauen auch in Deutschland nicht möglich, ihren Mann anzuzeigen, weil er sie geschlagen oder vergewaltigt hatte. Sie konnte es nur ertragen, oder, wie man es nannte, "in Unehre geschieden werden". Kinder, die geboren wurden, ohne dass ihre Eltern verheiratet waren, galten als "Bastarde", ihre Mütter als "gefallene Frauen". Ist das gerecht? Nein, natürlich nicht. Was ist falsch daran, wenn zwei Menschen - Frau und Mann - ihrer Lust nachgehen, und dabei ein Kind entsteht, auch ohne Hochzeit? Hat nicht der Mann genauso Verantwortung dafür? Und was hat das Kind bitte falsch gemacht, das dabei entstanden ist?

So geht das weiter. Ich habe dir diese Beispiele genannt, um dir zu verdeutlichen, dass die Rechte von Frauen ein Thema sind, das nicht nur den Islam betrifft. Was dein Bruder darf, was du nicht darfst - nun, das ist nun mal eine religiöse Vorschrift. Ich möchte nicht sagen, ob sie gut oder schlecht ist - denn ich möchte deine Familie auch nicht kritisieren. Es ist ihnen nun einmal wichtig, und man kann nicht bestreiten, dass es einen großen Vorteil hat, religiös zu sein: Man hat für alle Lebenslagen Bestimmungen, an die man sich halten kann, für alle Dinge, die einem fremd oder bedrohlich erscheinen, eine Erklärung. Im Islam ist der Frau eine andere Rolle zugedacht als dem Mann, eine mit weniger Rechten. Das ist Tatsache. Es ist ungerecht, da stimme ich dir zu. Ich bin mir nur nicht so sicher, was du dagegen machen kannst.

Ich habe nicht die Absicht, deine Religion und Kultur in Frage zu stellen. Jede Religion hat ihre Vorschriften, von denen sie sagt, dass sie von Gott sind, die aber bei einer vernünftigen Überprüfung ihre Fehler haben. Ist ein Mann etwa mehr wert als eine Frau? Keineswegs! Die heiligen Schriften wollen wissen, dass die Frau im Paradies die verbotene Frucht pflückte, deshalb geht das Böse in der Welt auf sie zurück... Wir wissen es nicht. Wir waren nicht dabei. Aber, mal eine andere Frage: Wo wären all die Männer, die Frauen heute unterdrücken, wenn nicht eine Frau sie zur Welt gebracht und ernährt hätte? Es kann also nicht ganz stimmen. Du empfindest es zu Recht als ungerecht, wenn du eingeschränkt wirst. Wenn du das jedoch in Frage stellst, muss dir bewusst sein, dass du dich gegen deine Religion auflehnst. Oder zumindest teilweise.

Religion lebt davon, dass man sich nach ihr richtet. Die Bibel ist im Christentum das Wort Gottes, eine perfekte Anweisung für das Leben. Sie zu missachten, und sei es auch nur in Teilen, kommt manchen Menschen wie eine Kritik an Gott vor. Und wer wollte das schon wagen? Vielleicht ist es aber auch so: Gott konnte es den Menschen vor zweitausend Jahren eben noch nicht zumuten, dass sie von jetzt auf gleich alles akzeptieren würden, was heute möglich ist: Dass jeder so oft heiraten darf, wie er will (auch wenn das irgendwie wenig Sinn macht). Dass Homosexuelle ihre Bedürfnisse ausleben dürfen, für die sie nichts können, ohne bestraft zu werden. Dass die Frau dieselben Rechte hat wie der Mann. In vielen Ländern, und gerade auch in Familien wie deiner, ist man noch immer - oder immer mehr wieder - der Tradition zugewandt, die all das von sich weist. Das Leben ist einfacher so, das stimmt - aber gerecht geht es nicht immer zu. Diese Erfahrung machst du gerade. Im Augenblick diskutiert der Papst in Rom darüber, ob geschiedene Menschen am Abendmahl teilnehmen dürfen. Ob Scheidung erlaubt sein soll. Als Jesus sie vor zweitausend Jahren verbot, tat er etwas Gutes für die Frauen, denn zuvor konnte ihr Mann sie jederzeit in Schimpf und Schande verstoßen. Genauso hat der Koran, verglichen mit den Zuständen, die vor seiner Offenbarung herrschten, die Situation für die Frauen verbessert. Nur, das war vor etlichen Jahrhunderten. Damals war vieles noch undenkbar, was heute aufgrund der Vernunft normal ist. Vielleicht wollte Gott den Menschen das nicht direkt zumuten? Was auch immer der Grund ist: Es muss dir bewusst sein, dass du - sicherlich sehr zu Recht - das Weltbild deiner Familie hinterfragst. Ich zweifle nicht daran, dass sie dich lieben und für dich das Beste wollen. Wobei das vielleicht nicht immer das ist, was du dir auch wünschst?

Bitte versteh mich, wenn ich dir schreibe: Ich stehe dem Islam zwar sehr offen gegenüber. Auf der anderen Seite weiß ich auch, dass es viele junge Frauen wie dich gegeben hat, die ihr Aufbegehren gegen die Tradition teuer bezahlt haben. Ich möchte nicht eure Religion kritisieren, sondern nur Vorsorge treffen, wenn ich dir dieses sage: Ich habe etwas Angst um dich. Zwar empfinde ich dein Streben als richtig und gerecht, aber ich weiß nicht, was die Folgen sein würden, wenn du deine Familie damit konfrontierst, liebe Anonyme.

Es gibt in Deutschland Gesetze, die dir all das, was du dir wünscht, zusichern. Du bist nicht an deine Religion und ihre Vorschriften gebunden, wenn du das nicht möchtest. Jedoch bist du noch nicht volljährig und lebst zuhause, und es wird für dich nicht möglich sein, wesentlich anders zu leben, als deine Eltern es von dir verlangen. Ich darf als Mitglied des Kummerkasten-Teams keine Rechtsberatung leisten, daher halte ich mich hier zurück. Doch du sollst wissen, dass es zwar die Religionsfreiheit gibt, aber auch die Freiheit des Einzelnen. Du kannst sicher sein, dass du mit dem Jungen zusammen sein darfst, den du liebst, wenn du volljährig bist. Vorher wird es davon abhängen, was deine Familie dir erlaubt. Danach kann es bedeuten, dass es zum Bruch zwischen deiner Familie und dir kommt. Ich gestehe dir, dass ich mich sorge, in dir Gedanken anzuregen, die vielleicht zu groß sind, um sie jetzt ertragen zu können. Ich möchte dich zu nichts ermutigen, was dir vielleicht schaden könnte. Auch wenn ich dich sehr gut verstehen kann. Du musst selbst mit dir zu Rate gehen und entscheiden, wie du leben möchtest - und so leid es mir tut, aber vermutlich ist der Tag für die endgültige Entscheidung noch nicht gekommen.

Das Fazit ist: Es ist berechtigt, dass du dir Sorgen um deine Zukunft machst. Was die Konsequenz daraus ist, das kannst nur du wissen. Ich will und kann dir keinen eindeutigen Rat geben, doch ich kann dir viel Kraft wünschen, dass deine Gedanken in eine Richtung gehen, die für dich am besten ist. Welche auch immer das sein mag. Morgen ist nicht heute. Ich weiß nicht, wohin dein Weg dich führt. Tradition und Gleichheit haben beide etwas für sich. Aber ich habe Vertrauen in dich, dass du deinen Weg finden wirst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul