Problem von Julie - 22 Jahre

Weiß nicht mehr weiter

Hallo liebes Team,
ich bin im Moment im fünften Semester meines Studiums und ich weiß nicht mehr weiter. Ich wohne 3 Stunden mit dem Zug von meinem Heimatort weg und fahre immer Sonntagabend mit meinen zwei Mitbewohnerinnen darunter auch meine beste Freundin in die Studienstadt und Mittwoch Abend wieder nach Hause. Das klingt alles absolut nicht dramatisch, wurde es für mich aber. Zuhause habe ich meinen Freund mit dem ich schon über zwei Jahre glücklich bin und einen Nebenjob als Bäckereiverkäuferin. Ich komm gerade mit meinem Leben nicht zurecht. Ich besuche keine Vorlesungen mehr weswegen ich ständig ein schlechtes Gewissen habe, kann mich aber auch nicht aufraffen. Das Studium steht wie ein riesen großer Berg vor mir und ich weiß dass es noch ewig dauern wird (2 Jahre). Wenn ich in der Stadt bin vermisse ich die Sicherheit die ich Zuhause habe so sehr. Ich habe das Gefühl anstatt mich weiterzuentwickeln, igele ich mich ein und kann gar nichts mehr anpacken. Die Vorstellung den ganzen Stoff zuhause zu lernen gefällt mir eher und dazu kann ich mich auch besser motivieren. Jedoch bleibt einfach dieses schlechte Gewissen nicht anwesend zu sein. Ein weiteres Problem ist, dass in meinem Privatleben durch das Studium nichts voran gehen kann. Wenn ich Zuhause bin bin ich die meiste Zeit bei meinem Freund. Er ist 23 und lebt noch bei seiner Mutter. Eigentlich habe ich ein gutes Verhältnis zu ihr was allerdings immer auf ihre Stimmung ankommt. Sie ist ein sehr unflexibler, kontrollsüchtiger und anstrengender Mensch, der keine Freunde und auch keinen Partner hat. Sie hat nur meinen Freund und mich. Ich empfinde es als anstrengend wenn sie zuhause ist, weil man nie weiß wie ihre Stimmung ist und weil sie meinen Freund ziemlich einschränkt und ziemlich oft bevormundet. Er darf zum beispiel keine Freunde zu sich einladen weil das zu stressig für den Hund ist. (Sie schiebt all ihre Probleme auf Ohren Hund) genauso dass immer alles top geputzt ist, weil der Hund sonst die Krümel auf dem Boden isst. Das stimmt alles nicht: sie hasst es wenn "fremde" Menschen ins Haus kommen und sie hatte schon in jungen Jahren einen Putzfimmel. Sie lässt meinem Freund ja nicht mal die Gelegenheit seine Zimmer selbst ordentlich zu halten, da sie es immer macht selbst wenn er sagt dass er es später macht. Ich fiebere so auf eine gemeinsame Wohnung hin aber dank des Studiums braucht das ja noch mindestens zwei Jahre, was mich sehr deprimiert. Er könnte sich schon eine eigene Wohnung leisten aber ich möchte ihm ja auch finanziell unterstützen und das geht eben erst wenn ich dann mal arbeite. Die Vorstellung einfach daß unsichere und überfordernde Studium abzubrechen und ganz nach Hause in Geborgenheit kommen und vielleicht Vollzeit bei dem Bäcker anfangen, ist sehr verlockend. Dann denke ich mir wieder dass ich nicht mein ganzes Leben in dieser Bäckerei arbeiten will aber der Gedanke an mein Studium mich gerade so anekelt. Mittlerweile bereue ich es nach der realschule die fos gemacht zu haben und dadurch überhaupt erst diese bescheuerte Möglichkeit aufkommen konnte zu studieren. Ich wünschte ich hätte eine Ausbildung gemacht. Damals hätte ich allerdings die falsche Ausbildung gewählt. Es ist jetzt auch nicht so, dass mich der Lernstoff im Studium überfordert. Viel mehr das organisatorische: keine Termine und Fristen verpassen, ansonsten muss man sich mit unfreundlichen Dozenten rumschlagen, Praxissemester eine Stelle finden, allgemein wissen, was noch alles kommt. Ich möchte einfach mein Studium fertig mache ohne groß mit den Dozenten in Kontakt kommen zu müssen weil das für mich immer eine gewisse Stresssituation ist obwohl das auch nur Menschen sind. Zusammengefasst: ich bekomme nichts mehr auf die Reihe weil ich mich vor allem nur noch drücke und das macht mich sowas von unzufrieden. Ich habe ständig angst einen Nervenzusammenbruch zu bekommen weil ich einfach so viel Angst in mir habe und so eine unglaubliche Sehnsucht nach Sicherheit. Das Studium ist für mich kleines Landei wohl doch ein zu großer Schuh. Ich komme einfach nicht zur Ruhe, habe ständig ein schlechtes Gewissen, Adrenalinstöße und Herzrasen. Nachts knirschen ich heftig mit meinen Zähnen. Ich weiß nicht was ich machen soll bin total verzweifelt.

Danke fürs Zuhören.

Anna Anwort von Anna

Liebe Julie,

vielen Dank für Deine lange Nachricht und für Dein Vertrauen uns gegenüber. Die Situation, in der Du steckst, kenne ich in ähnlicher Weise aus eigener Erfahrung und kann mir vorstellen, dass es für Dich zur Zeit nicht leicht ist, Ziele zu setzen, Entscheidungen zu treffen und "voranzukommen", egal, in welchem Bereich Deines Lebens.

Im Moment steckst Du zwischen zwei Welten und zwei Zeiten fest. Auf der einen Seite ist da die alte Welt, die, in der Du Dich geborgen fühlst, weil Du bei Deinem Freund, Deinen Eltern und in dem Umfeld sein kannst, das Du schon kennst. Dort hast Du Deine Gewohnheiten, die Menschen, um Dich rum, die Du einschätzen kannst, die Dir nahestehen und die Dir Schutz bieten. Du hast da Deinen Nebenjob, in dem Du zurecht kommst, wo Du klare Aufgaben hast, von denen Du weißt, wie Du sie erfüllen kannst und dafür auch belohnt wirst, z.B. mit Deinem Gehalt, mit einem guten Gefühl, die Arbeit für heute getan zu haben oder vielleicht auch mit Lob. Das Entscheidende ist - Du hast Deinen Platz in dieser alten Welt. Sehr wichtig ist auch, dass Du dort Deinen festen Freund hast, mit dem Du Dir, wie es klingt, eine gemeinsame Zukunft vorstellen kannst. Du arbeitest, bewusst, wie unbewusst, an eurer Beziehung, teilst seine Probleme und wohl oder übel auch seine Familie, was alles wichtige Faktoren sind, wenn man ein Leben gemeinsam verbringt.
Auf der anderen Seite ist da die neue Welt, das Studium und die Stadt, in Du regelmäßig fahren musst. Dort gibt es viele neue Eindrücke, viele neue Menschen, die man erst kennenlernen muss, die man lernen muss einzuschätzen. Es gibt viele neue Aufgaben und Erwartungen, die an eine Studentin herangetragen werden, die aber meist nicht ganz so klar sind, wie zum Beispiel in einem Nebenjob. Ein Studium ist ein sehr großes Projekt, das hauptsächlich von eigener Arbeit lebt, von Selbstverantwortung, Selbstdisziplin, Selbstvertrauen und Selbstkontrolle. Meist wird einem nicht klar gesagt, was zu tun ist und meistens muss man für diese unklaren Aufgaben auch selbst einen zeitlichen Rahmen festlegen. Ein Studium kann auch überfordernd sein, selbst wenn man noch zuhause wohnt und nicht nebenbei noch mit einer eigenen Wohnung und einem neuen sozialen Netz fertig werden muss. Nun ist es bei drei Stunden Zugfahrt nicht unbedingt möglich jeden Tag hin und her zu fahren, das heißt, Du bist darauf angewiesen, von zuhause auszuziehen und in einer eigenen Wohnung zu leben, was sehr einsam sein kann, wenn man noch nicht viele Menschen dort kennt oder sich aus welchen Gründen auch immer nicht mit der neuen Situation anfreunden kann. Dass sich diese neue Welt fremd, ungeborgen und kalt anfühlt, vielleicht leer und trist und vor allem viel zu groß ist also nicht verwunderlich und geht wahrscheinlich vielen Studenten so, die gerade ausgezogen sind und sich jetzt irgendwie "über Wasser halten" müssen.
In diesem Spiegel-Artikel geht es genau darum: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/studium-erstsemester-studenten-erzaehlen-ueber-heimweh-a-997128.html

Am besten fühlt es sich an, nicht mehr zwischen diesen beiden Welten zerrissen zu sein, sondern ein "ganzes" Leben zu leben, das am besten nur in einer Welt stattfindet. Um das schneller zu erreichen, ist es wichtig, dass Du Dir einige Fragen stellst.
Erstmal rund ums Studium:
Gefällt Dir das Fach, das Du studierst? Hast Du es Dir selbst ausgesucht oder wurdest Du dazu überredet? Kannst Du Dir vorstellen, was Du danach damit machen möchtest? Hast Du sowas wie einen Traumberuf und trägt das Studium dazu bei, diesen zu erreichen? Bist Du vom Fachlichen inspiriert und regt Dich der Stoff dazu an, Dich freiwillig damit zu beschäftigen? Kannst Du Dich mit dem Fach identifizieren?
Es ist nämlich unheimlich wichtig, dass Du Spaß an dem hast, womit Du Dich beschäftigst. Wenn Du nämlich jetzt zum Beispiel etwas nur studierst, um später damit eine bestimmte Summe Geld zu bekommen, dann ist es klar, dass sich das ganze Studium wie ein furchtbarer Berg anfühlt, den man am liebsten gar nicht überwinden WILL. Studierst Du nun aber etwas, das Du Dir selbst ausgesucht hast, was Dich interessiert, dann sind es vielleicht nur die momentanen Rahmenbedingungen, die Dir zu schaffen machen und dann lohnt sich eher, etwas an denen zu ändern, statt das Studium zu schmeißen. Ich habe mich in den ersten zwei Semestern nämlich auch sehr zwischen diesen beiden Welten zerrissen gefühlt und hätte auch irgendwie am liebsten alles hingeschmissen, um wieder zuhause und bei meinem Freund sein zu können. Aber ich habe mich von mir aus für mein Studium und das Fach entschieden und ich war sehr glücklich mit der Wahl, daher wäre es für mich nie in Frage gekommen, das Studium aufzugeben, denn ich wusste, zuhause wären alle anderen Optionen einfach nicht die gewesen, die mich langfristig glücklich gemacht hätten.

Dann solltest Du Dir Fragen zu den Umständen stellen:
Wie gefällt Dir die Wohnung oder das Zimmer, in dem Du an Deinem Studienort lebst? Hast Du es Dir so eingerichtet, dass Du Dich darin wohlfühlst und viele vertraute Gegenstände von zuhause mitgenommen, die Dir was bedeuten? Kommst Du mit Deinen Mitbewohnerinnen zurecht? Käme vielleicht ein Umzug innerhalb der Stadt für Dich in Frage? Wie sieht es mit Freunden und Bekannten dort aus? Deine beste Freundin wohnt/ studiert auch dort - könntet ihr nicht mehr zusammen unternehmen, die Stadt dort besser kennen lernen und zusammen neue Leute kennen lernen? Wie fühlt sie sich dort? Habt ihr schon darüber gesprochen? Du meintest, Du kommst nicht so gut mit den Dozenten klar - kannst Du im nächsten Semester nicht Veranstaltungen bei anderen Dozenten wählen, bei welchen, mit denen Du besser zurecht kommst? Und was sind es genau für Schwierigkeiten, die Du mit ihnen hast? Hat es mit deren Stil und Persönlichkeit zu tun oder ist es eher ein allgemeines Problem? Und wie kommst Du mit Deinen Kommolitonen zurecht? Fühlst Du Dich wohl unter ihnen oder hast Du allgemein das Gefühl, in einer fremden Welt zu sein, zu der Du einfach nicht dazu gehören kannst?

Das Heimweh wird dadurch, dass Dein Freund noch zuhause lebt, unheimlich verstärkt. Ich könnte mir vorstellen, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn er nicht noch den größten Teil dort ausmachen würde. Gäbe es nicht die Möglichkeit, dass er auch zu Dir in die Stadt wechselt? Oder dass ihr euch eine gemeisame Wohnung teilt, die auf halber Strecke liegt und gut angebunden ist, falls er zuhause einen Job hat, den er nicht aufgeben kann. Als mein Freund nämlich damals zu mir gezogen ist, war das Heimweh schlagartig nicht mehr so schlimm und ich habe es sogar genossen, mit ihm zusammen die neue Stadt zu erkunden und dort neue Leute kennenzulernen. Du meintest, er könnte sich eigene Wohnung leisten - dann könnt ihr euch zusammen doch sicher auch eine gemeinsame günstige Wohnung leisten? Vielleicht könntest Du Dir dafür ja auch einen Nebenjob in der Stadt suchen, wenn ihr dort zusammen leben wollt?
Das wäre nämlich der nächste wichtige Punkt: je mehr Du aus Deiner alten Welt in die neue verlagerst, wie zum Beispiel den Nebenjob, desto einfacher wird es, sich in der neuen Welt zurecht zu finden und immer weniger an die alte gebunden zu sein.

Was die Mutter von Deinem Freund angeht: Es tut mir sehr leid für Dich, dass sie ein so komplizierter Mensch ist und Du nun als Schwiegertochter mit ihr zurecht kommen musst. Kann es sein, dass sich Dein Freund vielleicht sehr verantwortlich für sie fühlt, wenn er noch immer nicht ausgezogen ist, obwohl er das finanziell könnte? Wenn Du schreibst, sie hat keine Freunde und keinen Mann, ist sie sicher sehr einsam und da kann ich mir gut vorstellen, dass sie übertrieben an Deinem Freund klammert. Jedoch kann es so ja auch nicht ewig weitergehen, denn spätestens in zwei Jahren wollt ihr ja zusammen ziehen und dann wird es wichtig, dass jede Frau und Dein Freund für sich seinen eigenen Lebensbereich absteckt, in dem er/ sie ganz alleine das Sagen hat. Schwiegermütter können da zu richtigen Belastungen werden, wenn die Kommunikation nicht gut läuft. Selbst mit guter Kommunikation kann so ein Verhältnis, wo die Mutter nicht ganz loslassen kann, extrem anstrengend werden.
Was sagt denn Dein Freund zu einem Auszug? Welches Verhältnis hat er zu seiner Mutter? Wie verhält er sich ihr gegenüber und wie refektiert ist er über das, was er tut und sagt? Kann er mit Dir über solche Probleme sprechen? Und: was sagt er zu Deinem Studium und Deinem Konflikt, in dem Du gerade steckst?

Liebe Julie, jetzt habe ich schon ganz schön viel geschrieben und möchte langsam mal zum Ende kommen. Ich denke, es ist sehr, sehr wichtig, dass Du Dir (vielleicht am besten schriftlich) über die ganzen Fragen, die ich gestellt habe, klar wirst. Vielleicht kannst Du danach die Situation etwas klarer sehen und weißt eher, was Du tun kannst oder solltest oder willst. Ich denke, dass das allerwichtigste ist, dass Du (beruflich und ausbildungstechnisch) das tust, mit dem Du Dich identifizieren kannst. Wenn das Studium nicht ist, überleg Dir eine Ausbildung, einen Job, einen anderen Studiengang, mit dem Du Dich glücklicher fühlst. Und wenn es tief in Deinem Herzen das Studium ist - dann bleibe dabei und versuche nach aller Kraft die Umstände zu verbessern, statt Dich selbst aufzugeben und zu verbiegen.

Ich wünsche Dir alles Gute und würde mich freuen, nochmal von Dir zu lesen. :-)

Viele Grüße,

Anna