Problem von Helena - 19 Jahre

An Bernd

Lieber Bernd,

Was du erzählt hast klingt interessant - wahrscheinlich gibt es letztendlich doch nicht den einen richtigen Weg oder den einen Beruf, der perfekt zu einem passt. Es kommt eher darauf an was man daraus macht bzw. auf die Einstellung, die man dazu hat.

Medizin würde ich wirklich gerne studieren (leider ist mein Schnitt dafür etwas zu schlecht, aber ich versuche es im Mai mit dem Medizinertest). Im Moment studiere ich Biotechnologie und auch wenn sich das an sich wirklich interessant anhört, merke ich, dass ich immer weniger und weniger Lust darauf habe. Ich interessiere mich einfach viel mehr für Menschen als für.. Pflanzen oder.. die Auftrennung einzelner Proteine etc.
Allerdings denke ich wie gesagt auch, dass das nicht der einzige Grund ist, warum ich mich mit dem Studium so unwohl fühle. Es ist (abgesehen davon, dass ich mich oft selber nicht gut finde) auch die “soziale Situation“, da ich das Gefühl habe keine Leute zu finden, mit denen ich mich wirklich gut verstehe und ich mich oft einfach allein fühle bzw. als ob ich zu wenige Freunde habe und öfter weggehen sollte. (Sagt auch meine Mutter)
Ich hoffe einfach, dass das anders ist wenn ich etwas anderes studiere, aber sicher sein kann ich mir da natürlich nicht.

Es ist irgendwie komisch.. manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass mein Gehirn anders funktioniert als bei anderen Menschen :D
Dieses ständige Analysieren, Interpretieren und teilweise Beurteilen von mir selbst, Anderen und allen möglichen Situationen.. ich weiß einfach nicht, ob das “normal“ ist -besonders gut tut es mir ja nicht.
In den Vorlesungen kann ich mich z.B. fast nie auf den Inhalt konzentrieren, sondern denke ständig über mich selbst oder andere Leute nach; was sie denken (auch über mich), wie sie sich fühlen, was sie wollen oder wie ich sie finde - oft kann ich gar nicht sagen, ob ich jemanden mag oder nicht.
Ich sollte mich wirklich mehr auf die Vorlesungen konzentrieren ;-)

Das war jetzt leider alles etwas durcheinander, ich hoffe, dass du trotzdem die wichtigsten Aussagen herausfiltern kannst :D


Liebe Grüße,
Helena

Bernd Anwort von Bernd

Liebe Helena,

Du hättest es nicht besser formulieren können! Genau das wollte ich Dir durch mein Beispiel zeigen. Und vielleicht sogar noch ein wenig mehr: selbst wenn ich meinem ersten Berufswunsch gefolgt wäre....
da hatte ich dann auch im Nachhinein einige Vorbehalte. Z.B. wurde gerade mit meinem Abitur die "reformierte Oberstufe" eingeführt: wo ich noch von der ersten bis zur letzten Klasse in einem festen Klassenverband war, gab es danach die Kursstufe.
Und gerade in Deutsch hatten wir in der Parallelklasse einen Lehrer, der nur so mit Einsen um sich schmiss.
Mein Lehrer stand dagegen auf dem Standpunkt (den ich voll und ganz teile): wer in einem Aufsatz in der 12. Klasse 10 Seiten schreibt, der kann keine Eins bekommen: die Themen sind dort so angelegt, dass alles, was über 3 Seiten geht, nur noch Wiederholungen sein können (also "Stilnote" ungenügend). Genau die Aspiranten bekamen aber in der Parallelklasse die Einsen.
Was mich dann zu dem Gedanken führte: in der Kursstufe suchen sich die Schüler ja mit dem Kurs auch (zumindest damals, so wie uns die zukünftige Kursstufe vorgestellt wurde) den Lehrer aus?
Und ich wollte niemals ein Lehrer werden, den sich Schüler deswegen aussuchen, weil er die besseren Noten gibt.
Was ja andererseits (aus Sicht der Schüler) bei steigenden NC-Hürden durchaus verständlich ist!....

Aber..... Helena, ich will ja Dir antworten und nicht mich selbst hier ausbreiten :-)

Wenn du in Deinem derzeitigen Studium keine "Erfüllung" siehst, die Dir ein daraus irgendwann vielleicht einmal erwachsener Job wird geben können?
Dann ist schon das Argument genug, es zu lassen: Du wirst nie gut in einem Fach, für das Du nicht "brennst"!

Nur würde ich das Fach nie mit Deinem anderen Aspekt verknüpfen.
Wenn Du schreibst:
"Es ist ...die “soziale Situation“, da ich das Gefühl habe keine Leute zu finden, mit denen ich mich wirklich gut verstehe und ich mich oft einfach allein fühle bzw. als ob ich zu wenige Freunde habe und öfter weggehen sollte. (Sagt auch meine Mutter)
Ich hoffe einfach, dass das anders ist wenn ich etwas anderes studiere, aber sicher sein kann ich mir da natürlich nicht."

In einigen Fächern ist es mit den (fachinternen) Sozialkontakten eher gegenläufig.
Je mehr Konkurrenz es um die Arbeitsplätze geben wird, um so mehr wird der Druck schon in den ersten Semestern spürbar.

Wenn ich Dich nun nach dem, was Du mir zu lesen gegeben hattest auch nur einigermaßen richtig einschätze,
würde ich Dein Berufsziel schon mehr im Naturwissenschaftlichen Bereich sehen.
Deine Sozialkontakte vielleicht eher im philosophischen, musischen, künstlerischen Bereich.

Wie das zusammen passt?

Mir fiel da der Regisseur ein, bei dem mein Ältester schon einige Aufführungen gespielt hat.

Dieser Regisseur ist (wenn ich es richtig erinnere) Doktorand im Fach Biochemie in Tübingen .....
und (einer der) Regisseure für die anglo-irische Theatertruppe der Uni Tübingen.
Also englischsprachiges Theater.

Warum mir die Idee kam?

Studium und Beruf haben oft schon sehr früh einen "Stallgeruch".
Wenn Du nur Dein Studium und das nur Deines Berufes wegen betreibst, wirst Du nur Menschen kennen lernen, die den gleichen Geruch mit sich rumtragen.
Inklusive der Arroganz?
Und wenn es ganz schlecht läuft, wird der, den Du Dir als Freund aussuchst, Dein größter Konkurrent?
Es gibt da einen Spruch, den ich hier ein wenig (ergänzen) will: wer euch zu Kollegen (Konsemestern) hat, braucht keine Feinde mehr!

Darüber hinaus gibt noch einen guten Grund, "Hobby" vom Beruf zu trennen: sobald Du beides miteinander vermischt, raubst Du Dir selber jeglichen "Rückzugsraum"!

Wenn Du z.B. als Ärztin einen Patienten verloren hast, brauchst Du den Abstand und genau diesen "Rückzugsraum"!

Jemanden, mit dem Du über alles Andere ebenso wichtige sprechen kannst:
die Grabrede von Mark Anton in Shakespeares "Julius Cäsar"?

Oder mit dem Du Dir Edvard Griegs Suiten zu "Peer Gynt" anhören kannst?

Hast Du Dir schon einmal ein Orchester im Original angehört?
Schon einmal in einem Schauspielhaus gesessen?

Du hast mich gefragt, ob es "normal" sei, wenn Du in einer Vorlesung an anderes denkst.
Ich will es mal anders sagen: wenn Du "Peer Gynt" im Konzertsaal hörst und dann an Deine Vorlesung denkst, wäre mir Angst und Bange um Dich :-)
Ich habe mir Dich gerade in einem Orchester vorgestellt :-)
Fagott, Querflöte oder Harfe, würde ich sagen.
Was glaubst Du, warum?

Um Deine Frage zu beantworten: Dein Gehirn agiert ganz genau so wie alle anderen!

Nur ein wenig feinfühliger. Tiefgründiger.

Besser, würde ich sagen!

Alles Liebe
Bernd