Problem von Verena - 17 Jahre

Hilferuf

Ich weiß ehrlich gesagt nicht ganz, wo ich überhaupt anfangen soll. Meine ganze Situation zu Hause zieht sich schon über Jahre hinweg hin und angefangen hat alles ganz klein. Vielleicht fange ich mit einer zeitlichen Reihenfolge an:

Wir hatten und haben immernoch ein Haus mit Pool und allem Drum und Dran in einer Stadt in Süddeutschland. Die örtliche Beschreibung dient dazu, um alles hoffentlich ein wenig greifbarer zu machen.
Meine Kindheit hier war sehr glücklich. Ich wuchs bei meiner allein erziehenden Mutter und meiner Großmutter auf. Zu meiner Oma hatte ich eine ganz besondere Bindung, weil sie in unserem Haus wohnte und eine Art Mutterersatz war. Mein Vater lebte zu der Zeit nur einen Stadtteil entfernt, zog dann aber mit seiner Frau nach Norddeutschland und lebt heute noch dort. Seit meinem sechsten Lebensjahr hatte ich keinen Kontakt zu ihm.

Meine Mutter hatte im Laufe meiner Kindheit ein oder zwei Männer kennen gelernt, die mir aber nicht den Vater ersetzen konnten, weil ich sie zu kurz kannte. Als ich 6 Jahre alt war lernte sie ihren heutigen Lebensgefährten kennen. Jetzt sind sie 11 Jahre zusammen und ich wage nicht zu sagen, ob es gute oder schlechte Jahre sind.

Alles lief gut. Wir kamen mit dem Geld um die Runden, wie man so schön sagt, bis meine Oma im November 2001 einen schweren Schlaganfall hatte und ein Pflegefall wurde. Für mich war das der erste Schlag von vielen. Meine Oma, meine zweite Mutter war schlagartig zu einem Kind geworden. Zu diesem Zeitpunkt war ich 13 und zog mich von allen Freunden zurück. Ich kam nicht damit zurecht, dass nun die Rollen vertauscht waren. Dass wir meine Oma von nun an pflegen mussten oder sie in ein Heim geben sollten.
Nach langem Überlegen entschieden wir uns im Januar 2002 sie zu uns zu nehmen. Welche Folgen das für das Familienleben haben sollte, war uns nicht klar. Es ist wahrlich keine leichte Aufgabe, einen menschen 24 Stunden zu betreuen. Meine Mutter verfiel dem Alkohol, sie und ihr Lebensgefährte stritten nur noch und ich stürzte in den Schule ab. Da meine Mutter ihre Arbeit aufgab, um meine Omi zu pflegen fehlte ein Einkommen und wir mussten auch finanziell kürzer treten.
Dazu kommt dass die Pflegeaufgabe meine Mutter so sehr in Anspruch nahm, dass sie sich kaum noch um mich kümmern konnte. Und wenn sie einmal Zeit hatte, sah ich sie nur mit einem Glas Wein in der Hand. Schon damals entwickelte ich eine Abneigung gegen sie, wenn ich sie mit etwas Alkoholischem sah.

Ich bin von Natur aus eine Kämpfernatur und versuche mich nicht unter kriegen zu lassen. Aber diese Situation zehrte sehr an meinen Nerven. Ich beging einen großen Fehler: Ich fing an mich zu ritzen, da ich an den Streiterein meiner Eltern meine Schuld suchte. Dank einer sehr guten Freundin habe ich mit einer Therapie angefangen. Sie bestand darin, dass ich zwei mal in der Woche eine Jugendpsychologin besuchte und mit ihr über meine Ängste und Gefühle redete. Das stärkte mich ungemein. Und so fand ich auch Kraft weiter zu machen.

Ich weiß nicht wie, aber ich überstand das Jahr 2002. Ich schaffte das Schuljahr und verbarg vieles vor der Öffentlichkeit. Weitere Gründe, die mich bestärkten waren mein Hobby des Schreibens (damit brachte ich meine Gefühle zu Papier. ) und der Sport (den ich aber Ende 2002 wegen Knieproblemen aufgeben musste).

Der 06.12.2002 war der bisher schlimmste Tag meines Lebens: Meine Oma konnte sich nicht beruhigen und wurde in das nächste Bezirkskrankenhaus eingewiesen. Sie war körperlich absolut mobil, aber ihr Geist hatte unter dem Schlaganfall 2001 sehr gelitten. Sie hatte eine Amnesie Kurzzeitgedächtnis und konnte sich an die letzten 2-3 jahre nicht erinnern und eine Sprachstörung. Sie konnte einige Worte nicht mehr in ihrem Gedächtnis "finden" und gebrauchte andere dafür, so dass man sie nicht mehr verstand. Zudem war sie geistig verwirrt. Ich hoffe die Beschreibung ihrer Krankheit ist nicht zu verwirrend.
An jenem Nikolaustag dauerte die Zwangseinweisung von 14:00h mittag bis 01:00h morgens. Zum Schluss wurde sie von der Polizei abgeführt. Mir drehte es das Herz um.

Im Bezirkskrankenhaus blieb sie ganze 6 Wochen und es war jedes Mal ein Horror für uns, sie zu besuchen. Mir steigen auch jetzt noch die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke.
In den 6 Wochen sahen sich meine Eltern verschiedene Pflegeheime an. Das war die einzige Sache, bei der ich meine Mutter nicht unterstützt hatte. Ansonsten habe ich ihr bei jedem, was in meiner Macht stand geholfen.
Zum Schluss fanden sie ein schönes Pflegeheim das circa eine halbe Stunde Autofahr entfernt war. Im Februar 2003 brachten wir sie dort hin. Auch das war eine Qual für meine Oma, weil sie sich abgeschoben fühlte.

Meine Hoffnung, dass jetzt vieles Besser werden würde, verflog schnell. Meine Mutter versuchte wieder zu arbeiten, fand aber nichts. Der Alkoholkonsum wurde schlimmer, die Streitereien zwischen ihr und ihrem Lebensgefährten ebenso. Meine Noten sackten abermals in den Keller. Bei meiner Mutter stellte sich der Darmkrebsverdacht als wahr heraus. Aber dank einer Operation bekam sie ihn so weit in den Griff, dass sie im Moment nur noch zu Rotineuntersuchungen muss. Hinzu kamen wieder finanzielle Probleme, weil wir den Heimaufenthalt bezahlen mussten. Für einige Zeit bestritten wir ihn aus den Ersprarnissen meiner Oma.

In dieser Situation ging das Jahr 2003 dem Ende zu.

Auch im neuen Jahr sollte es nicht besser werden. Ich war in der zehnten Klasse und stand kurz vor dem Abschluss. Für mich war die gespannte Situation zu Hause schon Alltag und ich kümmerte mich um den halben Haushalt, stritt mich oft mit meiner Mutter. Besonders, wenn es um ihren Alkoholkomsum ging.

Bis Juni änderte sich wieder nichts. Auf einmal änderte sich der Gesundheitszustand meiner Oma dramatisch. Während ich meine Abschlussprüfungen schrieb lag sie im Sterben. Ihr Todeskampf dauerte sehr lange und war sehr tragisch.
Während ihrer letzten Tage wechselten wir uns an ihrem Bett ab. Der Bruder meiner Mutter tat auch einmal was Gutes für meine Oma und entlastete uns somit ein wenig. Er hatte während der ganzen Pflegezeit übrigens keinen Finger gerührt und uns alles allein überlassen.

Er war auch der jenige, der im Todesmoment bei ihr war. Er rief uns 2 Minuten davor an und rief panisch rief, dass es bald so weit sei. Als er das zweite Mal anrief und ich seine Nummer im Display unseres Telefons sah, wusste ich dass es geschehen war. Ich fiel fast die Treppen ins Obergeschoss aufwärts und brach dort zusammen. Es war 14:15. 21.07.2004

Die Beerdigung war das Schlimmste. Ich ging als erste hinter ihrem Sarg her. Und vor der versammelten Trauergemeinde verlas ich an ihrem Grab ein Gedicht. Wie ich das überstand weiß ich selbst nicht mehr.

Im Laufe der nächsten 3 Monate verlor ich zwei weitere mir nahe stehende Verwandte.

Trotz allem schaffte ich es, auf das Gymnasium überzutreten.

Im Jahr 2004, kurz nach meinem 16. Geburtstag lernte ich auch meinen leiblichen Vater so richtig kennen. Der Kontakt kam von ihm aus. Ich weiß immernoch nicht so recht wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Denn zwischen ihm und meiner Mutter ist es auch eine ganz eigene Geschichte von vielen Intrigen, Missverständnissen und so weiter.

Jetzt bin ich schon fast 1 Jahr auf dem Gymnasium. Geändert hat sich seit dem Tod meiner Oma fast nichts. Im Gegenteil, es ist noch schlimmer geworden. Zumindest finanziell. Das Geld reicht vorne und hinten nicht. Ich streite mich immernoch sehr oft mit meiner Mutter. Wie immer wegen dem Alkoholkomsum und weil sie mich deswegen anlügt. Gleichzeitig fühle ich mich schuldig, weil ich sie so herabsetze, aber sie selbst schon so viel durch gemacht hat.

Wieso ich mich nicht vollkommen zurück gezogen habe, weiß ich nicht. Ich führe es darauf zurück, dass ich mich während der ganzen Zeit immer auf ein bis zwei Freunde oder Freundinnen verlassen konnte, die für mich da waren/sind. Seit dem Juni 2004 ist es auch noch jemand, der mir hilft, so weit er kann. Manchmal weiß ich nicht, was ich ohne meinen Freund machen sollte. Er ist immer für mich da und weiß bisher mehr als meine beste Freundin.

Andererseits habe ich auch Angst, dass meine ganzen Probleme langsam aber sicher meine Beziehung vernichten werden, weil ich mich teilweise nicht mehr zu verhalten weiß.

Ich zweifle, ob ich richtig bin, so wie ich bin. Ob ich richtig mit der Situation umgehe. Auch in meiner neuen Klasse habe ich "nur" eine gute Freundin. Vom Rest ziehe ich mich unbewußt zurück. Ist das normal? Ich weiß es nicht.

Momentan bin ich mehr als ratlos, weil diese ganze Situation wieder einmal so an meinen Nerven zehrt, dass ich verzweifeln könnte. Alles erscheint mir als Teufelskreis.
Auch einen Ausgleich habe ich nicht mehr. Den Sport musste ich wegen lang anhaltender Knieprobleme aufgeben. Zum Schreiben komme ich kaum noch, wegen der Schule. Ich muss sehr viel lernen, um mit den anderen Schritt halten zu können.

Mit meiner Mutter habe ich alles versucht. Doch sie wehrt ab. Alles. Meine Versuche, mit ihr gemeinsam eine Therapie zu machen scheiterten. Und das schon 2002/2003. Ich habe ihr Nummern von Beratungsstellen mit ihrem Alkoholproblem gegeben. Nichts. Es ist doch nicht meine Aufgabe, sie da raus zu holen, oder?

Alle paar Minuten bricht hier ein Streit los. Wegen Geld, weil meine Mutter den Haushalt nicht schafft, wegen Kleinigkeiten. Und immer werde ich mit reingezogen.

Ich denke, ich habe auch deshalb so wenig Freundschaften, weil ich Angst habe, dass sie erfahren, was bei mir los ist. Es wissen sowieso schon genug.

Das Verhältnis zu meinem Vater ist auch getrübt, da er meine Mutter so "verarscht" hat. Momentan bin ich auch unschlüssig, wie ich mich verhalten soll.

Ratlos, wie ich bin, wende ich mich nun an euch. Ich hoffe, meine Geschichte ist nicht zu lange und zu verwirrend geschrieben. Für Ratschläge bin ich sehr dankbar.

Verena

Dana Anwort von Dana

Grüße Dich, Verena!

Es gibt vieles, was ich Dir sagen möchte. Zum einen möchte ich Dich fast in den Arm nehmen, Du hast eine Menge Schmerz und Leid sehen und selbst tragen müssen. Müssen anderen möchte ich meinen Hut vor Dir ziehen, weil Du es gemeistert hast. Ich bin sicher, das wirst Du weiterhin. Weil Du es willst.

Der Tod eines geliebten Menschen kann über Jahre eine große Lücke hinterlassen. Da kann ich nichts schön reden und Dir sagen, der Schmerz ist bald vorbei. Aber Du wirst immer besser damit umgehen können. Und die Momente, in denen Du mit einem leisen Lächeln an Deine Oma denkst, werden öfter. Es ist Jahre her, da starb ein sehr guter Freund von mir ebenfalls an einem Schlaganfall. Er war damals 33. Wahrscheinlich fühle ich deshalb so mit Dir. Die Veränderungen, die diese Krankheit mit sich bringen kann, sind unbeschreiblich. Plötzlich ist dieser Mensch, den man so liebt, nicht mehr der gleiche und eigentlich doch. Schwer zu beschreiben, aber ich denke, Du weißt sehr genau, was ich meine.

Oft genug ist der Tod auch ein Stück weit Erlösung. Für den Sterbenden, aber auch für die Hinterbliebenden. Das oft gesagte 'für sie ist es besser' - ist keine Floskel. Auch wenn sie im Augenblick des Leids kein Stück weiter hilft. Aber es ist wahr.

Einen Menschen zu Hause zu pflegen ist eine große Aufgabe. Und ganz ehrlich, es allein zu bewältigen ist fast nicht zu schaffen. Meine Meinung. Ich habe durch meinen Beruf wirklich Familien daran zerbrechen sehen. Es sind 24 Stunden pure Verantwortung. Ein Pflegeheim ist oft nicht die falsche Entscheidung. Mach Dir deshalb keine Vorwürfe. Ich habe auch in Pflegeheimen - wenn ich mit meiner damaligen Chefin Hausbesuche gemacht habe - oft von den Menschen dort gehört, dass sie gerne dort waren (alte Menschen sind ja oft sehr redselig). Erst wollten sie alle nicht, fühlten sich wirklich von ihrer Familie abgeschoben. Aber nach einiger Zeit überwog der Gedanke und das Gefühl, dass sie heute für ihre Lieben keine Last mehr sind. Und das tut ihnen gut. Ich kann mir vorstellen, dass auch Deine Oma diese Gedanken hatte. Also, keine Schuld und kein schlechtes Gewissen.

Du vermutest ode weißt bei Deiner Mutter um eine Alkoholkrankheit. Ich benutze absichtlich diese Bezeichnung. Sucht ist auch immer eine Krankheit. Und Streits, weil ein anderer krank ist? Ich sage ja nicht, dass Du ihr den ganzen Tag Fürsorge und Mitgefühl entgegenbringen sollst, das schafft niemand. Aber eine Krankheit verschwindet nicht durch Vorwürfe, sondern durch fachliches Wissen. Deine Mutter in eine Therapie schicken, wird wohl weder funktionieren noch fruchten. Solange sie selbst das Problem nicht erkennt. Aber Du könntest Dir bei einer Suchtberatungsstelle in Deiner Stadt fachlichen Rat holen. Nicht, wie Du sie heilen kannst (das ist nicht Deine Aufgabe), sondern wie Du damit umgehen kannst und solltest. Nicht für Deine Mutter, sondern für Dich. Ich kann mir vorstellen, dass dadurch die Situation zu Hause etwas entspannter wird. Einen Versuch ist es doch alle Mal wert.

Dann ist da noch das Verhältnis zu Deinem Vater. Weißt Du, ich denke immer, man sollte sich sein eigenes Bild machen und sich nicht von Vergangenen beeinflussen lassen. Vielleicht war es nicht richtig, wie er sich damals Deiner Mutter gegenüber verhalten hat. Das kann ich nicht beurteilen. Aber darum geht es doch heute gar nicht mehr. Und schon gar nicht, was die Beziehung zwischen Dir und Deinem Vater angeht. Es geht nur um Dich und um ihn. Du musst nicht aufarbeiten, was damals geschehen ist. Das ist nicht Deine Aufgabe. Heute ist wichtig. Und heute kann er für Dich eine Stütze sein. Schlag die Möglichkeit nicht in den Wind. Lernt euch kennen und dann kannst Du sehen, was draus wird und was Du daraus machst.

Du hast nur wenige Freunde. Aber kommt es nicht gerade dabei auf die Qualität und nicht auf die Quantität an? Die Freunde, die Du hast, waren immer für Dich da. Das ist wichtig. Und nicht, dass man eine Riesenauswahl hat. Sicher wäre beides zusammen das Optimum, das weiß ich auch. Aber sei glücklich, dass Du diese Freunde hast und nicht traurig, weil es nicht noch mehr sind.

Ich kann wohl kaum einen Rat geben, mit dem sich Deine Situation schlagartig zum besseren wendet. Leider. Den gibt es wohl auch nicht. Ich kann auch keine finanziellen Probleme nehmen. Aber irgendwie denke ich, die sind die kleinsten. Auch wenn sie immer wieder in Familien viel Streit hervorrufen. Du bist eine Kämpfernatur und das ist gut so. Aber vielleicht solltest Du einmal darüber nachdenken, ob Du nicht mit Hilfe eines Therapeuten weiterkämpfen möchtest. Eine Therapie hat Dir schon einmal sehr geholfen, als Du mit dem Ritzen angefangen und Gott sei Dank aufgehört hast. Im Moment schlägt alles über Dir zusammen. Der Kummer aus den letzten Jahren zusammen mit dem von heute. Da kann eine Gesprächstherapie sicher helfen.

Ich wünsche Dir alles Gute!