Problem von Anonym - 60 Jahre

ich bin allein

liebes Team , durch Zufall bin ich auf eure Seite gestossen und jetzt schreibe ich euch. Ich lebe alleine mit meiner 21jährigen Tochter zusammen.Verheiratet war vich nie und es hat mir auch
nie etwas gefehlt, weil ich ja immer für mein Kind sorgte. Ausserdem arbeite ich ganztags .Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter die leider vor 4 Jahren verstarb. Jetzt will meine Tochter ausziehen und ich merke so richtig, dass ich eigentlich keinen Menschen habe. Wenn sie nicht da ist, sitze ich jeden Tag nach der Arbeit und am Wochenende allein vorm Fernseher und rede mit niemand, ausser ich muß einkaufen. Als ich 60 wurde, habe ich erzählt , dass ich verreise, weil ich nicht bewußt erleben wollte, dass doch niemand an mich denkt. Ich konnte so immer denken-es glaubt ja jeder, dass ich verreist bin. Ich merke immer mehr, dass ich Angst vor anderen Menschen entwickle, fühle mich unsicher im Gespräch mit Kollegen und weiß dann oft vor Aufregung nicht was ich sagen soll. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und wenn ich mit meinen Chef etwas klären will , zittert meine Stimme vor Angst und Aufregung. Meine Tochter hat regelrecht MaCHT über mich. Sie behandelt mich oft sehr schlecht, nimmt mich nicht ernst und gibt mir das Gefühl dumm zu sein. Aber sie ist der einzige Mensch den ich habe. Ich lasse mi vieles gefallen , habe sie verwöhnt und immer alles für sie getan, und ich denke , dass ich zuviel getan habe, mir zuviel von ihr hab sagen lassen , so dass sie keine Achtung vor mir hat. Sie hat schon zu mir gesagt, sie würde mich hassen und es würde sie verrückt machen, dass ich so allein bin. Sie sagt, dass ich für sie eine Belastung bin und dass sie froh ist, wenn sie nicht mehr bei mir wohnt. Kollegen die mit mir täglich eng zusammenarbeiten, halten mich für einen fröhlichen , lebensbejahenden Menschen. aber das bin ich nicht. Ich fühle mich klein und ängstlich-traue mich nie zu Geburtstagen oder sonstige Feieranlässe, weil ich denke, keiner will mit mir reden. Wenn jetzt meine Tochter auszieht, komme ich nach der Arbeit heim und bin immer ganz allein. Ich habe Angst dass ich das nicht schaffe und weiß oft nicht weiter. Was soll ich tun-ich mag gar nicht dran denken, wie es weitergeht.Wenn mein Kind nicht mehr hier ist, habe ich noch meine zwei Katzen und meine Arbeit. Bin ich krank oder was ist los mit mir. Ich habe null Selbstvertrauen.Ich würde so gerne etwas unternehmen - aber ich traue mich nicht. Wie komme ich wieder raus aus meiner Einsamkeit und meiner Abhängigkeit von meiner Tochter,Ich will für sie keine Belastung sein...
ich bin wirklich traurig und verzweifelt aber habe noch nie mit einem Menschen darüber geredet, weil ich mich schäme.

Sarah L. Anwort von Sarah L.

Liebe Unbekannte,

danke dass du dich mit so viel Vertrauen an uns wendest.
Zuerst lass mich dir sagen: du musst dich für deine Gefühle nicht schämen.
Wenn du dich dein ganzes Leben lang auf Arbeit und Tochter konzentreirt hast und immer beschäftigt warst, rund um die Uhr, dann ist es gar kein Wunder dass du so empfindest.
Du hattest vermutlich auch nie Zeit herauszufinden wer DU bist - du warst Angestellte und du warst Mutter, was ist denn da noch?

Ich bin zwar um Einiges jünger als du, aber ich kenne dieses Gefühl.
Ich bin mit 16 zu Hause weggegangen und die folgenden Jahre waren sehr belastend - anstrengend weil ich für mich selbst sorgen musste und zermürbend weil ich so voll von ungelösten Problemen war die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Ich war rund um die Uhr beschäftigt mit der Schule und dem Job danach und wenn ich gerade mal nicht gearbeitet habe habe ich mich mit irgendwas abgelenkt und ja nicht nachdenken zu müssen.
Als die schwere Zeit vorbei war, ich zur Ruhe kommen könnte, da war da plötzlich nichts mehr. Es war nicht einmal so, dass ich nicht die leeren Stunden hätte füllen können, aber ich wusste auch gar nicht so recht wozu - weil ich nicht wusste wer ich bin und was mir Spaß macht.

Ich glaube du musst versuchen genau das herauszufinden: wer bist du eigentlich? Welche Wünsche hast du, was bereitet dir Freude, was kannst du genießen? Das ist, da spreche ich aus Erfahrung, alleine viel schwerer als gemeinsam mit Anderen, weil man alleine dann doch wieder in das alte Muster verfällt und vor dem Fernseher landet.
Wahrscheinlich musst du ein paar Dinge ausprobieren, bis du das Richtige für dich gefunden hast, aber das macht nichts: denn es geht nicht nur darum eine Ziellinie zu erreichen, sondern auch um den Weg.
Du wirst ganz viele neue Eindrücke sammeln, allein durch die Tatsache dass du etwas ganz Anderes machst als bisher, und du wirst neue Leute kennenlernen. Andere Menschen sind ganz wichtig für uns, weil sie oft wie ein Spiegel funktionieren. Wir erkennen uns in ihnen selbst, wir erfahren wie wir auf sie wirken, wir erhalten Selbstbestätigung oder auch Kritik - kurz wir können uns selbst besser sehen, wenn jemand da ist der uns sieht.
Der regelmäßige Kontakt mit anderen Menschen wird auch deine aufkommende soziale Angst verringern. Betrachte deine Erfahrungen ausserhalb der Arbeit einfach als eine Art Übungsfeld. Wenn da irgendetwas Unangenehmes passiert musst du den- oder diejenigen nie wieder sehen und es hat nicht gleich dieses Ausmaß wie bei einem Kollegen oder Chef.

Schau dich in deiner Gegend um nach Volkshochschulkursen, die dich interessieren, einem Lesezirkel, Reisegruppen für Senioren, oder wie wäre es mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit?
Es gibt ganz viele Möglichkeiten, du musst dich nur trauen!
In vielen Städten gibt es sogar Gruppen mit Menschen in deinem Alter die sich zusammengeschlossen haben um genau dem zu entfliehen, dem du entfliehen willst. Oder positiv ausgedrückt: die nicht aufhören wollen zu leben, nur weil Aufgaben weggefallen sind, über die sie sich bisher definiert haben!

Ich glaube, dass deine Tochter sehr bemüht ist sich von dir abzugrenzen.
Sie wird merken wie es dir geht und dass du einsam bist und sie fühlt sich bestimmt schlecht, wenn sie daran denkt, dass du ohne sie ganz alleine bist. Dagegen geht sie an indem sie dich schlecht redet.
Das ist nicht schön, und ich denke es ist wirklich besser für euch beide wenn sie auszieht.
Ich glaube aber auch, dass sich euer Verhältnis wieder bessern wird, wenn sie merkt dass du nicht auf sie angewiesen ist, wenn du aktiv bist und dein eigenes Leben hast. Und vermutlich kommt sie dich in Zukunft auch lieber besuchen, wenn sie nicht von dieser riesigen Käseglocke der Einsamkeit verschluckt wird, sobald sie das Haus betritt.
Ich kenne das von vielen meiner Freundinnen, die ein ganz schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern aufbauen, weil die sich einsam fühlen und bei jedem Besuch immer mehr klammern.

Wenn deine Beschwerden schlimmer werden könntest du auch darüber nachdenken mit deinem Hausarzt zu reden, denn es gibt etwas das sich Altersdepression nennt - eine der Ursachen kann die von dir Beschriebene Einsamkeit sein.
Hier kannst du dir das nochmal genauer durchlesen:
http://50plus.germanblogs.de/archive/2009/04/24/altersdepressionen-und-einsamkeit-%E2%80%93-gesundheit-fangt-im-kopf-an.htm

In jedem Fall würde ich dir anraten zu versuchen meine Tips umzusetzen.
Trau dich! Es gibt ganz viele Leute, denen es so geht wie dir! Und wenn du den ersten Schritt gemacht hast, dann geht der zweite schon leichter.
Wenn du es alleine nicht schaffst dann lass dich von deinem Arzt wegen eines Psychotherapeuten beraten, der dir dabei hilft dein Selbstbewusstsein wieder genug aufzubauen um eigene Schritte zu gehen.
(Habe ich damals auch gemacht, mir hat es sehr geholfen!)

Ich wünsche dir alles Gute, und scheu dich nicht uns jederzeit wieder zu schreiben.
Herzliche Grüße,
Sarah L.