Problem von Anonym - 21 Jahre

Schuldbekenntnisse

Hallo liebes Team!

Hier mein oder eher unser Problem:

Mein Freund und ich sind jetzt schon fast 1,5 Jahre zusammen, studieren gemeinsam und wohnen in einer gemeinsamen Wohnung seit 5 Monaten. Eigentlich ist alles genauso wie wir uns es vorgestellt haben. Wir lieben uns, sind aber auch beste Freunde. Wir haben ähnliche Interessen, doch jeder macht in diesen Bereichen was anderes. Wir haben einen gemeinsamen Freundeskreis undeinen getrennten. Lediglich unser ehrenamtliches Engagement, dass bis zu 10 h die Woche einnimmt ist bei uns gleich.
Die meiste Zeit beschäftigen wir uns mit und diskutiern über Themen die uns interessieren, usw...

Eigentlich streiten wir gar nicht, sondern diskutieren zumeist. Und hier ist der Knack-Punkt.
Jedes Mal wenn er oder aber auch ich was \"falsch\" machen oder einer anderen Meinung sind, lässt er von seinem Standpunkt los und bittet um Entschuldigung, dass es im Leid täte usw. Obwohl die meiste Zeit ich daran \"Schuld\" bin... Eigentlich sehe ich da immer keine \"Schuld\" oder etwas \"falsches\", sondern einfach zwei Meinungen. Er lässt jedoch jedes Mal nach, damit ich das bekomme was ich will. Ich möchte aber nicht immer das was ich will, sondern genauso dass er mal das bekommt was er möchte...
Es ist total kompliziert!
Ich sage dann immer, er brauche sich nicht zu entschuldigen, denn alles wäre in Ordnung. Dann fängt er zumeist an, an sich selber zu zweifeln. Macht sich Vorwürfe, dass er mir nicht alles perfekt machen kann oder nicht immer eine Lösung für meine Probleme findet, usw.
Es ging bisher so weit, dass er sich in den Arm beißt. Die Narbe von vor 2 Monaten ist immernoch zu sehen. Oder er stößt sich den Kopf gegen etwas Hartes bis er Kopfschmerzen kriegt.
Dieses Verhalten weist er aber nur bei mir auf. Weder bei seiner Familie, wenn er sich dort ärgert, noch bei Freunden. Er ist auch nur bei mir der Meinung: \"Alles falsch zu machen\" oder hat \"Angst davor, alles falsch zu machen\". Doch durch diese Angst wird es erst so schlimm! Er reagiert auch meistens so, meint er, da er Angst vorm Streiten hat.

Wenn ich mit ihm darüber spreche, ist ihm das zumeist klar. Fällt er jedoch wieder in dieses Muster zurück, vergisst er das.

Ich bin auch seine erste Freundin. Vielleicht fehlt ihm die \"Erfahrung\", meint meine beste Freundin. Ich glaube eher nicht, dass es daran liegt.
Ich frag mich dann auch immer, ob es an mir liegt. Bin ich vielleicht falsch an unsere Beziehung heran gegangen?

Langsam fange ich an genauso wie er zu reagieren. Ich entschuldige mich für jeden Mist. Eigentlich zuerst nur, damit er sich nicht die Schuld geben kann und sieht wie \"lächerlich\" das ist, denn es ist ja nichts passiert. Aber er kann das nicht auf sein Verhalten zurückführen. Mittlerweile habe ich mir das so angewöhnt, dass ich öfters aus Schuldgefühlen mich entschuldigt habe, obwohl es keinen Grund dafür gab.

Letztendlich sahen die Szenen so aus, dass nicht jeder dem anderen die Schuld gibt (was eher \"normal\" ist), sondern jeder sich selbst und bloß nicht den anderen....

Am meisten Sorge macht mir, dass er sich selbst verletzt.

Es ist schwierig alles wiederzugeben. Ich hoffe man konnte im Groben unser Problem verstehen?

Vielen Dank und liebe Grüße!

Dana Anwort von Dana

Liebe Unbekannte!

Zunächst mal: ich konnte dein Problem sehr gut verstehen, du hast es gut formuliert und kompliziert ist es eigentlich auch nicht. Ich denke, ich kann dir Hilfestellung geben.

Das Wichtigste ist, dass du und dein Freund anscheinend wirklich harmonisch und gut zusammen lebt. Dass ihr euch liebt und zusammen glücklich seid. Das ist die Basis für die Arbeit, die ihr demnächst miteinander haben werdet. Keine Angst, es ist keine schwere Arbeit, aber ihr solltet sie euch machen, damit das aufhört, was du beschrieben hast.

Dein Freund scheint, warum auch immer, ein sehr geringes Selbstwertgefühl zu haben, vielleicht auch gepaart mit der Angst, dich zu verlieren. Jemand, der fest zu sich steht, würde in einer Diskussion nicht seinen Meinungsbereich verlassen.

Was könnt ihr tun?

1. Stärkung deines Freundes im Alltag.
Setz dich mit ihm zusammen, wenn ihr NICHT streitet, sondern es euch gut geht, unter diesem von dir gewählten Thema "Schuld und nicht Schuld" und erkläre ihm, dass du fest zu ihm stehst, dass du ihn liebst und auch dann noch liebst, wenn er in einem Streitpunkt eine andere Meinung als du vertritt. Dass er keine Ängste da haben muss. Sag ihm auch ruhig mal, was du alles an ihm toll findest, das kann helfen. Einfach, dass er weiß, warum du mit ihm zusammen bist.

2. "Schuld" ist eh in einer Beziehung ein Begriff, der da eigentlich nichts zu suchen hat. Wenn man diskutiert, warum muss man dann einen "Schuldigen" suchen? Schuld ist immer etwas, was an einem haftet. Man kann verschiedene Meinungen haben, man kann auch mal was verbockt haben. Aber deswegen lädt man doch keine Schuld auf sich. Schuld ist etwas, das "Sühne" braucht. Der, der Schuld hat, muss dem Anderen, der keine Schuld hat, quasi Abbitte leisten und etwas tun, um die Schuld zu sühnen. Wenn man einfach mal einen Fehler gemacht hat, ist man doch noch lange nicht ein Schuldiger.

Ich würde euch raten, dieses Wort ganz schnell aus eurem Wortschatz zu streichen. Der Mensch ist nicht fehlerfrei, er macht Dinge falsch. Ja und? Dann ist das so und man kann damit leben. Der eine sagt "sorry", der andere sagt "ist in Ordnung" und fertig ist die Geschichte. Zu überlegen, wer hier Schuld auf sich geladen hat, ist meiner Meinung nach viel zu viel und drückt ein Streitgespräch auf ein viel zu hohes Level.

3. STOPP!
Wenn ihr streitet und dein Freund fällt in das "Muster", wie du es nennst, dass er alles auf sich nimmt und an sich zweifelt, stopp das sofort. Stopp das Streitgespräch und geh darauf ein. Zeig ihm auf, dass er wieder mal das macht, was er ohne Streitgespräch kapiert, aber im Streitgespräch wieder vergisst. In dem Moment sollte der Streit in den Hintergrund rücken und die Streitkultur in den Vordergrund.

Die Frage ist insgesamt, warum man wegen Kleinigkeiten immer diskutieren muss. Der eine gibt zu, dass er Mist gebaut hat, der andere vergibt in lockerem Ton. Normalerweise kann man das ja klar sehen. Alles tot zu diskutieren, halte ich insgesamt für sehr fragwürdig. Das hat auch nichts mit "unter den Tisch kehren" zu tun, sondern eher mit der Akzeptanz des "Nichtperfektseins". Da muss nicht immer bis ins Kleinste alles aufgedröselt werden, das geht nur an die Nerven.

Wenn ihr über etwas verschiedener Meinung seid, dann kann es auch mal so enden, dass ihr diese einfach behaltet. Man muss ja nicht immer den Anderen davon überzeugen, dass man selbst Recht hat. In manchen Bereichen muss man auf einen Nenner kommen, in anderen Bereichen nicht.

Mein Freund und ich halten es immer mit der "geringeren Toleranzschwelle". Wenn wir einen Punkt haben, in dem wir uns nicht einig sind, fragen wir uns zB. "Ok, ist es jetzt für mich schlimmer, dasunddas nicht zu machen/zu haben oder ist es für ihn schlimmer, wenn ich es mache/habe?". Meist kommt man dann schnell zum Punkt, ohne dass man wild rumdiskutieren muss. Man schließt schneller Frieden mit einer Situation.

Versucht insgesamt, eure Streitkultur zu lockern. Es wird euch gut tun.

Zu den Verletzungen deines Freundes:
Dass er sich Schmerzen zufügt, wenn er die Schuld auf sich nimmt, ist übel. Das beweist nämlich, dass er innerliche Aggressionen und Selbstzweifel gegen sich richtet, statt sie verbal rauszulassen.

Das ist, gepaart mit seinem schlechten Selbstwertgefühl, durchaus eigentlich etwas für den Psychotherapeuten. Dein Freund muss wieder lernen, wer er ist und wen er im Leben eigentlich ausmacht. Anscheinend fühlt er sich so wenig wert, dass er sich selbst nichtmal schützt, sondern noch verletzt.

Sich selbst Schmerzen zuzufügen, ist meist ein Hilfeschrei, aber auch ein schlecht gewähltes Ventil, Spannungen abzubauen. Schmerz befreit, er hat in dem Moment die Kontrolle über die Situation...aber das ist eindeutig der falsche Weg. Wenn du ihn fragst, warum er sich dann immer weh tun will, wird er wahrscheinlich keine wirkliche Antwort drauf wissen, weil ein ungeschulter Mensch das einfach nicht weiß. Ein Therapeut könnte aber da Hilfestellung geben und könnte gleichzeitig etwas für euch beide tun.

Ich würde mir das mal überlegen. Ihr liebt euch, ihr seid ein tolles Paar, das ist das Allerwichtigste. Es gilt nun, deinen Freund zu stärken, ihm die Spannung zu nehmen und an eurer Streitkultur zu arbeiten.

Trau dich dran, eure Beziehung klingt so, als sei sie das auf jeden Fall wert! Ich wünsche dir viel Erfolg!

Liebe Grüße,

Dana