Problem von Anonym - 59 Jahre

Ich habe große Angst das man mir alles was ich bin nimmt.

Hallo liebes Team,

ich werde ende des Jahres 60 Jahre. Ich weiß das ist eigentlich noch kein Alter, aber ich bin von Geburt an behindert. Mit meiner Behinderung bin ich bis vor ein paar Jahren ganz gut klargekommen. Seit einigen Jahren brauchte eine Rollstuhl nur für draußen, in der Wohnung kam ich aber gut ohne zurecht. Seit nunmehr einen halben Jahr bin ich auch in der Wohnung auf den Rollstuhl angewiesen.
Meine Schwester und mein Schwager meinten ich soll so schnell wie möglich in ein Heim gehen, da sonst auf meine Tochter große Probleme zukommen würden. Eigentlich sollte mich das nicht mehr berühren was meine Schwester sagt. Ich hab schon seit vielen Jahren so gut wie gar keinen mehr Kontakt zu ihr. Sie ist ein Mensch der nichts mit Menschen tun haben will, die alt, krank oder die einfach nicht so können wie wollen. Am liebsten würde sie die wegsperren.

Aber was ist wenn sie Doch recht hat das ich in einem Heim gehen sollte?
Ich habe große Angst das man mir alles was ich bin nimmt. Das man mich keine eigene Entscheidungen mehr treffen lässt. Ich weiß das viele das nicht verstehen können. Ich habe meine ganzes Leben immer versucht irgendwie mit allem alleine klarzukommen.
Ich habe mich in den letzten Monaten immer wieder gefragt: ? Wer oder was bin ich? Habe ich wirklich die gleichen Rechte wie die sogenannten ?normalen und gesunden Menschen?? Sollte ich besser alles so hinnehmen wie es kommt? Niemanden sagen wie ich mich dabei fühle??

Ich habe mich früher immer gefreut wenn ich es mal wieder geschafft hatte ein Problem ohne Hilfe zu lösen. Oh ja, ich war sogar noch stolz darauf. Aber nun muss ich mich fragen: ?Hatte ich einen Grund stolz zu sein? Hatte ich wirklich immer ein Problem gelöst? Oder hatte ich es einfach nur verschoben, beiseite gewischt? Habe ich mir mein ganzes Leben nur was vorgemacht?? Ich weiß es nicht. Nur eines weiß ich. Das ist mein Körper der nicht mehr so mitmacht. Doch meine Geist meine Seele, die sind noch intakt. Oder etwa nicht? Ich fühle mich so leer, ich habe viele Fragen, aber keine Antworten. Ich habe mich früher über kleine Dinge des alltäglichen leben gefreut. Aber heute spür ich kaum noch Freude, nur noch eine riesengroße Angst ist in mir. Ich fürchte das diese Angst mich überwältigt, das ich irgendwann nicht mehr die Kraft habe mich dagegen zu wehren. Ich kann mich dem kaum noch entziehen. Manchmal versuche ich mich dagegen aufzubäumen, doch leider ist meine Tochter dann derjenige der darunter zu leiden hat. Ich weiß das es ungerecht ist, wenn ich sie dann dann so angehe, aber es ist ja sonst niemand da mit dem ich reden könnte. Ich habe einfach keine Kraft mehr zu kämpfen, und ich bin mir auch nicht sicher ob ich das überhaupt noch will. Ich möchte im moment nur eins. Einfach für immer gehen. Meine Ruhe und meinen Frieden haben.

Ich habe mein ganz Leben gekämpft gegen Vorurteile, Demütigungen und Beleidigungen. Am schlimmsten fand ich immer das ich ausgegrenzt wurde. Es tat unglaublich weh. Aber ich habe immer einen Grund gesucht, und habe mir gesagt das sie nur Angst haben das es ihnen mal so oder ähnlich gehen könnte. Inzwischen glaube ich das nicht mehr, ich glaube eher das ich mir da selber was vorgemacht habe. Ich habe mich schon vor langer Zeit total zurückgezogen. Ich wollte nicht mehr das man über mich blöde Bemerkungen macht, über mich lästert oder gedemütigt werden. Ich hatte wohl geglaubt das es die einzigste Lösung wäre. Doch ich habe mich getäuscht. Ich wollte auch kein Mitleid. Das einigste was ich mir immer gewünscht habe, das man mich wie ein ganz normaler Mensch behandelt. Nicht Mehr und nicht Weniger.

Danke das ich hier schreiben durfte

Kathrin Anwort von Kathrin

Hallo!

Also erstmal möchte ich dir schreiben, dass ich es super finde, dass du dich hier gemeldet hast. Ich finde es wirklich bemerkenswert, wie du dich selbst analysieren kannst und das nach meiner Meinung wirklich sehr klar und nachvollziehbar.

Vielleicht interessiert dich meine Meinung zu diesem Thema und vielleicht kann dir diese ein bisschen helfen. Ich kann dir nämlich als Angehörige sagen, wie ich zu all dem stehe, denn meine familiäre Situation ist wohl ähnlich wie deine. Vor ca. 10 Jahren hatte meine Mutter einen schweren Schlaganfall und ist seitdem halbseitig gelähmt. Ich war damals noch sehr jung und mit behinderten Menschen zuvor noch nie in Berührung gekommen, daher hat mich das schon sehr getroffen, ich war schon allein mit der Situation total überfordert. Ich habe damals versucht bei Freunden Halt zu finden und musste hierbei feststellen, dass diese meine Probleme oft gar nicht verstanden haben. Ich erinnere mich vorallem daran, wie ein guter Freund sagte "das ist doch alles nicht so schlimm, dann musst du deiner Mutter halt ab und zu mal eine Dose öffnen, aber sonst ist da doch nichts..." Ich war damals geschockt, wie man soetwas auch nur sagen kann und wie man so wenig verstehen kann.

Mich ärgert es heute noch, wenn ich in irgendwelchen Alltagssituationen sehe, wie mit behinderten Menschen umgegangen wird. Oft ist das Verhalten einfach nur respektlos. Aber so sehr ich mich dann auch ärgern mag, vergesse ich dabei eins nicht: Diese Menschen wissen es einfach nicht besser. Und das ist der Punkt, den du nach meiner Meinung nicht vergessen darfst. Es gibt genügend Menschen, die eben nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, weil sie selbst nie mit diesem Thema in Berührung gekommen sind. Das sind genau die Menschen, die eben gar nicht wissen, was sie mit einem blöden Spruch anrichten. Deswegen habe ich zwischenzeitlich aufgehört mich über die Reaktion anderer zu ärgern.

Und ich habe selbst erfahren können, wie schwer es sein kann, sich in solchen Situationen richtig zu verhalten. Vor zwei Jahren hat ein blinder Kollege bei uns angefangen. Und obwohl meine Mutter behindert ist, wusste ich oft auch nicht, wie ich mich verhalten soll. Wie verhält man sich, wenn man ihn auf dem Gang trifft, unterhält man sich mit ihm, oder lenkt man ihn von seinem Weg ab? Führt man ihn in gefährlichen Situationen an der Hand? Was ist, wenn er in der Arbeit auf die Toilette muss?

Was ich damit sagen will: Nimm es dir bitte nicht so sehr zu Herzen, wie Fremde reagieren oder was deine Schwester und dein Schwager sagen. Sie wissen es einfach nicht besser! Und wenn man selbst in der Situation ist gesund zu sein, kann man natürlich leicht ein Urteil fällen.

Meine Mutter ist auch öfter mal gereizt, aber das macht mir überhaupt nichts aus, weil ich weis, dass sie es nicht böse meint. Außerdem ist ihre Situation eben schwierig, da kann man nicht immer gelassen reagieren. Und das weis deine Tochter sicher auch.

Ich finde schon, dass du stolz auf das sein solltest, was du bisher erreicht hast. Auch hier kann ich deine Situation irgendwie mit meiner Mutter vergleichen, denn sie tut Fortschritte auch oft mit Worten wie "ach, das ist doch nichts" ab.
Als Angehörige bin ich aber oft sehr stolz. Meine Mutter überrascht mich immer wieder. Es geht nicht um das, was sie erreicht hat, es geht um manche Problemlösungen von ihr, bei denen mir bewusst ist, das ich das so nie geschafft hätte. Als Beispiele sind viele Hausarbeiten zu nennen. Momentan ist die Spülmaschine meiner Eltern kaputt und meine Mutter macht mit einer Hand den Abwasch - wenn ich das sehe bewundere ich ihr Verhalten richtig und stelle mir vor, wie ich mich in ihrer Situation wohl anstellen würde.

Niemand von meiner Familie sieht meine Mutter als Belastung an. Wir helfen ihr alle gerne, denn wir sind ein Team und könnten es uns auch nicht ohne sie in der Familie vorstellen. Daher war für uns von Anfang an klar, dass sie so lange wie möglich bei uns bleiben soll. Außerdem bekommen wir von ihr wirklich genauso viel zurück wie wir geben und ich glaube, dass du sicherlich ebenfalls genauso gibst wie nimmst. Und so ist das nun mal in einer Familie, jeder steuert etwas bei und bekommt dafür etwas zurück und dabei kommt es nicht darauf an, in welcher körperlichen Verfassung man ist.

Nach meiner Meinung ist es der letzte Grund, warum man ins Alten- oder Pflegeheim gehen sollte, weil dies Personen raten, die die Situation nicht verstehen. Ich glaube du solltest mit deiner Tochter über deine Sorgen reden und mit ihr gemeinsame Lösungen finden. Es gibt so viele Möglichkeiten für dich, wie du auch zuhause weiter glücklich leben kannst. Vielleicht könnte eine Krankenpflege zu dir kommen und dich unterstützen. Vielleicht kannst du Hilfe aus der Nachbarschaft erhalten - beim Einkaufen usw. Ich lese so oft, dass in den Kleinanzeigen der Zeitung Aufrufe sind, z. B. 4 Stunden aufräumen in der Woche usw. Vielleicht würden aber auch einfach Schüler aus der Nachbarschaft für ein kleines Taschengeld helfen. Versuch bei den zuständigen Stellen Hilfe zu bekommen, schildere dort, was dir in letzter Zeit schwerer fällt und was du allein nicht schaffst. Ich würde das auch wirklich direkt mit deiner Tochter besprechen, dann könnt ihr gemeinsam Lösungen suchen.

Ich habe in diesem Jahr eine Zeit lang ehrenamtlich in einem Altenheim gearbeitet. Es ist nicht so, dass die Leute dort aufs Abstellgleis geschoben werden. Ihnen wird auch nicht die ganze Verantwortung genommen. Ich habe erst vor Ort mitbekommen, wie viel die älteren Menschen dort unternehmen. Es werden Ausflüge miteinander gemacht, Sport, Kaffeenachmittage mit Geschichten usw. usw. Hier haben sich viele Frauen und Männer zu Freundeskreisen zusammen geschlossen, die richtig glücklich sind und da kommt es nicht darauf an, ob man gesund ist oder nicht.

Du solltest dir Gedanken machen, ob DU wirklich in ein Alten- oder Pflegeheim möchtest. Wenn du dich wirklich dazu entscheidest würde ich mir die Entscheidung auch nicht einfach machen, sondern mir die Einrichtungen wirklich anschauen und überlegen, welche am besten zu dir passt, da gibt es doch gewaltige Unterschiede. Und du solltest das nicht wegen deiner Schwester und deinem Schwager tun. Sprich mit deiner Tochter und sucht gemeinsam Lösungen.

Und noch eins zum Abschluss: Bleib bitte nicht deswegen zuhause, sondern überlege dir, wie du deine Freizeit gestalten könntest. Es wird so viel durch Vereine und Kirchen angeboten, aber auch Gesprächsrunden usw. Im Rathaus meiner Gemeinde gibt es eine richtige Kontaktbörse, da finden sich sehr viele. Es gibt viele Möglichkeiten und da ist sicher auch was für dich dabei. Meine Mutter hat trotz ihrer Behinderung Freundinnen gefunden, denn es sind nicht alle respektlos. Du hast die gleichen Rechte wie jeder andere Mensch.

Ich wünsche dir alles erdenklich Gute! Gern kannst du dich auch mal wieder melden.

Kathrin