Problem von B. - 20 Jahre

Wenn der Vater gefangen in sich ist.

Hallo liebes Kummerkasten-Team,
ich bin Bianca und Psychologiestudentin in den Niederlanden. Noch aber nicht so weit, um meine Probleme selbst zu lösen. Es ist eben was anderes, wenn man selbst mit drin steckt. Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen! Ich habe im Folgenden einfach mal meine Sorgen so runtergeschrieben. Von daher keine normale Briefform:
Die Zeit ist schnell vergangen und wir sind alle ein Stück älter und reifer geworden. Doch mit meinem Vater sehe ich Dinge geschehen, die mir Angst machen. Seit seiner Erkrankung (ein chronischer Schwindel) vor einem Jahr wird er immer mehr zu einem unnahbaren Mann der sich in sich selbst zurückzieht. Er versucht, offen zu sein. Aber jeder Versuch scheitert kläglich. An meiner Schwester (jünger als ich, 17 Jahre), so scheint es mir, tobt er seine Machtfantasien aus, nutzt jede Gelegenheit um sie klein zu halten. Und es tut mir im Herzen weh, mit anzusehen zu müssen, wie sie die einzige von uns ist, die ihn wirklich liebt. Und er sieht es nicht. Sie hat, kurz nachdem er ins Krankenhaus eingewiesen worden war, jeden Tag neben ihm am Krankenbett gesessen. Direkt nach der Schule hat sie sich in den Bus gesetzt. Ihm beigestanden, bei jedem kleinen Fortschritt. Und er sieht es nicht. ?Ist doch wohl selbstverständlich.? ?Sie will doch nur die Kohle die ich ranscheffel.? ?Sie ist damals nur mit mir Cartfahren gegangen, weil es ihr sonst keiner bezahlt hat.? Jegliche Dementierungen sind alles nur schlechte Lügen, sagt er. Er ist so kalt geworden, ohne es zu wahrhaben zu wollen. Meine Mutter versucht das Bild einer glücklichen Familie zu wahren, obwohl sie für ihren Mann nur noch angewiderte Blicke übrig hat. Wie er sich in seinen Vater verwandelt, alt, desinteressiert, vergesslich, sachlich. Es ist eine für uns unaufhaltsame und schmerzhafte Verwandlung, die er durchgeht. Gefangen in Erinnerungen an seine eigene Jugend. Ich bin die Einzige, auf die er noch hört. Und das nicht, weil ich für ihn da bin, sondern weil ich ihn immer stolz gemacht habe. Durch Schulnoten. Aber nicht dadurch, dass wir uns nah stehen. Er hört mir zu, aber will es nicht hören. Er duldet keine Kritik, weder an seiner Musik, noch an seiner Art, mit vollem Mund alte Geschichten zu erzählen und dann in die Luft zu gehen, wenn wir es wagen, seine Geschichten zu kommentieren. Ich bin nicht mehr oft Zuhause. An den Wochenenden komm ich noch her. Hauptsächlich, um den Kontakt nicht zu verlieren, weil ich Angst habe, später etwas zu bereuen. Wenn er einmal nicht mehr ist, könnte ich es mir nicht verzeihen, keine Chancen zur Versöhnung mehr gefunden zu haben. Doch jede Chance verläuft im Sand. Im Streit. Im Austausch abschätziger Blicke. Ich fühl mich so klein wie schon lange nicht mehr, und so belastet wie ein Esel der den Karren nicht mehr den Berg hochbewegen kann. Ich fühl mich verantwortlich. Sehe mich als das vermittelnde Puzzlestück in dieser Familie. Und ich habe versagt.

Vielleicht habt ihr ja eine Idee, wie man sich wieder näher kommen kann, ohne dass er alles als bösartige Kritik gegen seine Person sieht.

Bernd Anwort von Bernd

Liebe Bianca.

Es gibt da einige ganz wichtige Sätze in Deinem Schreiben.
Und darauf möchte ich gerne eingehen und Dir meine Antwort darauf geben. In der Hoffnung, dass meine Sicht Dir ein wenig helfen wird.
Vielleicht zuerst einmal, wie ich Euren Vater sehe. Das was in ihm vorgehen mag und warum er sich so verändert.

Du schreibst:
"Es ist eine für uns unaufhaltsame und schmerzhafte Verwandlung, die er durchgeht."
"Gefangen in Erinnerungen an seine eigene Jugend."
"Er ist so kalt geworden, ohne es zu wahrhaben zu wollen."

Diese Verwandlung erkennt Dein Vater schon, denke ich. Für ihn vollzieht sich ein genauso schmerzlicher Prozess:
aus einem selbstbestimmten Leben wird er durch seine Krankheit herausgerissen. Er gerät zunehmend in eine Abhängigkeit von Eurer Fürsorge. Eine Fürsorge, die er eigentlich als seine Aufgabe Euch gegenüber ansieht!
Das macht hilflos und wütend!
Aus der Hilflosigkeit kommt Euer Vater nicht heraus!
Da bleibt nur die Erinnerung?
Die Erinnerung an ?Kraft und Energie, große Pläne und Hoffnung?, die ihn in Gedanken in seine Jugend zurückführt?
Er erkennt sich selbst nicht mehr! Oder vielleicht besser: er erkennt sich nicht ohne die
?Kraft und Energie, großen Plänen und Hoffnung?, die er aus seiner Jugend noch in Erinnerung hat.

Wie kann er anders, als jedem, der ihm zeigt, dass er real von Euch und Eurer Fürsorge abhängig ist. Dass seine Träume ?ausgeträumt? sind, ?Schnee von Gestern?!
? mit ?Kälte? zu erwidern?

Die Wut darüber braucht eine Adresse!
Und es wird immer genau den treffen, dessen Zuneigung und Liebe am ehesten getroffen werden kann! Deine Schwester!

Du schreibst:
"Meine Mutter versucht das Bild einer glücklichen Familie zu wahren, obwohl sie für ihren Mann nur noch angewiderte Blicke übrig hat."

Deine Mutter sucht also einen ganz anderen Weg für sich: das Bild nach außen muß gewahrt bleiben! Während Deine Schwester sich ?aufopfert?, hat sich Deine Mutter also schon längst abgewandt?

Du schreibst:
"Es ist eben was anderes, wenn man selbst mit drin steckt."

Und das ist wohl die wichtigste Erkenntnis, die Du Dir selbst immer wieder verdeutlichen solltest.
Das bedeutet nämlich auch, dass ? anders als Deine Schwester und Deine Mutter es tun ? in solch einer Situation zuerst einmal Abstand nötig ist, um am Ende nicht selbst mit dieser Situation überfordert zu werden und daran zu zerbrechen.

Der Abstand , den ich meine, hat zuerst einmal mit ?loslassen? zutun. Loslassen von dem Bild Eures Vaters, das ihr von ihm aus der Zeit vor seiner Krankheit hattet.
Loslassen von der Vorstellung, dass ihr ihn mit Euren Wünschen und Vorstellungen erreichen könntet.
Akzeptieren, dass Euer Vater zu einem Menschen geworden ist, den ihr so nicht kennt!
Akzeptieren, dass, wenn ihr das Richtige tut, es nicht auch unbedingt von Eurem Vater so gesehen werden muß!

Mit Deiner Schwester und Deiner Mutter schilderst Du zwei sehr eng beteiligte Menschen mit total gegensätzlicher Reaktionsweise.
Der eine wendet sich total ab und der andere opfert sich auf.

Vielleicht fällt Dir bei dem Ganzen eine vermittelnde Rolle zu.
Schon, weil der räumliche Abstand Dich am ehesten dazu befähigt.
Und weil es Dich berührt.

Hilf Deiner Schwester, ihre Liebe zu ihrem Vater neu zu definieren!
Nicht Aufopfern! Seine Kritik als das annehmen, was sie ist: Ausdruck seiner Wut gegen seine eigene Unzulänglichkeit!
Wenn Deine Schwester ihren Vater zu lieben lernt, wie ihr eigenes Kind. Dann kommt sie der Wahrheit vielleicht ein Stück weit näher:
Dem Kind, das man liebt darf man nicht jeden Gefallen tun!
Das Kind, das man liebt, wird uns erst (wenn überhaupt) Jahrzehnte später zeigen, dass es in unserem Tun ?Liebe? erkannt hat! Die Kritik aber kommt sofort!

Hilf Deiner Mutter, darüber nachzudenken, wie aus ihrer Liebe Verachtung werden konnte!
Wie kann ihre Liebe so schnell durch Verachtung ersetzt werden?
Muß ein Mensch für sie ?funktionieren?, um liebenswert zu sein?

Und bleib für Deinen Vater das, was Du auch jetzt schon bist!

Und damit möchte ich Dir meine Sicht zu den letzten Deiner Sätze beschreiben.

Du schreibst:
"Wenn er einmal nicht mehr ist, könnte ich es mir nicht verzeihen, keine Chancen zur Versöhnung mehr gefunden zu haben."
?Ich fühl mich verantwortlich.?
?Vielleicht habt ihr ja eine Idee, wie man sich wieder näher kommen kann, ohne dass er alles als bösartige Kritik gegen seine Person sieht.?

Die Versöhnung wirst Du vielleicht nicht mit Deinem Vater finden. Nicht, wenn er so ist, wie Du ihn beschreibst!
Die Versöhnung suche in Deinem Herzen! Versöhne Dich mit Dir selbst, indem Du Deine Grenzen erkennst und akzeptierst!
Solange Du Dich nicht abwendest!
Solange Du versuchst, Dich mit dem auseinanderzusetzen, was Dein Vater ?verzapft? hat: Deine Familie!
Solange wirst Du Deiner Verantwortung gerecht!
Solange Du Deinem Vater eine Chance gibst, Dir und Euch wieder näher zu kommen, brauchst Du Dir keine Gedanken darüber zu machen, wenn es andersherum nicht klappt!
Die Lösung liegt nicht bei Dir und nicht bei Euch!
Nicht Du musst die Lösung finden, die Euch wieder zusammen bringt, sondern Dein Vater!

Das Einzige, was Ihr tun könnt: Euch gegenseitig zu verstehen versuchen und für Euren Vater: da sein, warten, aber nichts erwarten!

Dir und Deiner Familie alles Liebe,

Bernd