Problem von anonym - 17 Jahre

Die Frage nach dem ICH

Hallo zusammen,

ich wollte mir hier mal meine „Problemchen“ von der Seele schreiben und hoffe natürlich auf eine Antwort, wobei ich nicht wirklich damit rechne (ich habe das schon ein paar mal getan und nie eine Antwort erhalten...):
Mein Problem ist im Großen und Ganzen, dass ich nicht weiß wer ich bin, was ich will, was mich glücklich macht und wozu das alles. Ich habe eben soviele Gesichter, wie ich Menschen vor mir stehen habe. Ich fühle mich allein gelassen und hasse das Gefühl, angreifbar oder schwach zu sein, was ich aber nunmal bin. Ich brauche einen starken Halt und Struktur (Ablenkung einfach, auch wenn ich nur übertrieben viel lerne oder arbeite) in meinem Leben, die ich aber einfach nicht finde.
Alles begann mit der Scheidung meiner Eltern – als ich rund 7 Jahre alt war – und dem dazugehörigen Stress. Sie schlugen sich gegenseitig (oder uns), zeigten sich gegenseitig bei der Polizei an (und nahmen mich und meinen Bruder als „Schutzschilder“ her), klauten und versteckten, etc. Als ich aufs Gymnasium kam, zogen wir – meine Mutter, mein Bruder und ich – aus, in eine Wohnung in der Nähe. Seitdem war ich irgendwie leicht „verstört“, d.h. Ich konnte und wollte keine Beziehung zu meinen Eltern (oder sonst irgendeinem Menschen) aufbauen oder Emotionen zu zeigen. Daher begann ich – zunächst nur aus Langeweile und Spaß – sehr viel Computer zu spielen, Freunde hatte ich nicht viele (bin ich so unangenehm als Mensch? Oder will ich einfach keine?...). Mit 12-15 spielte ich dann den ganzen Tag eigtl. PC, in den Ferien und am Wochenende sowieso durch. Es war einfach eine Flucht vor der Realität, es gib mir Struktur und Halt und natürlich machte mir das „Soziale“, also Chatten, zusammen Missionen erfüllen, usw., im Spiel total Spaß. Anders gesagt: Es war ab einem gewissen Zeitpunkt meine Welt, in der „anderen Welt“ ging ich nur zur Schule (später schwänzte ich diese dann auch, zeitweise sehr lange), aß und schlief. Da ich seit der 5. Klasse immer sehr gute Noten habe (meine Eltern haben mich schon immer dahin geprügelt oder geschoben), durfte dies natürlich nicht (stark) leiden darunter, wodurch ich natürlich total in Stress geriet: Ich musste unbemerkt Tests/Schule schwänzen, Lügen erfinden, auf krank machen, Nächte durchpauken, usw. An Freunde oder überhaupt ein soziales Leben war nicht einmal ansatzweise zu denken. Zwischendurch gab es aber immer wieder Phasen, in denen ich dachte „Das muss endlich aufhören“ und ich trainierte z.B. sehr viel und versuchte Freunde zu finden und kein Computer mehr zu spielen – doch dies ließ bald nach und ich fiel ins gewohnte Muster zurück, irgendwie fühlte ich mich fast „heimisch“ da.
Anschließend betätigte ich mich politisch sehr (da ich als Halb-Ausländer auch darunter sehr leiden musste...verließ aus dieser „PC-Sucht“ und diesem Grund mehrere Vereine, in denen ich zuvor war. Auch in der Schule war es nicht gerade einfach damit...). So lernte ich auch zwei sehr gute Freunde (die für mich wie Brüder sind, da ich mit meinem leiblichen Bruder so gut wie nichts mache bzw. nicht einmal rede) kennen, mit denen ich bis heute eine sehr gute Beziehung habe. Dies half mir sehr, etwas vom Computer wegzukommen. Mich freute das Ganze, also ein wieder relativ normales Leben zu haben mit guten Freunden, die immer für mich da sind, einem etwas größeren Freundeskreis, Sport und Hobbys. Doch dann kam wieder dieses Unglücklichsein: Ich wusste nicht, was ich will, wer ich bin und wie ich zufrieden sein kann. Wie man merkte, suche ich zum Teil sehr die Extreme und brauche ständig Ablenkung und Halt. Wie jeder in meinem Alter (16-17) fing ich an Alkohol zu trinken und ab und zu Gras zu rauchen.
Doch es gefiel mir nicht wirklich... alles, was einen aufputscht, wie Speed, Koks, Rita, usw. waren „meins“ - und später dann Crystal: Sie gaben einem Stärke, Selbstsicherheit und Macht. Mit diesem Gottgefühl war man resistent gegen dieses Schwächegefühl, das Gefühl der „Angreifbarkeit“. Bis heute hasse ich das Gefühl, angreifbar und verletzbar zu sein, ich brauche immer eine Art Schutzpanzer. Aber nicht nur die Wirkung an sich sprach mir zu, sondern das damit verbundene Leben: Irgendwie hatte alles wieder einen Sinn für mich, auch wenn es nur um Drogen ging. Es passierte wieder etwas, ich wusste einfach was ich tun will. Anfangs nahm ich es – hauptsächlich Speed – nur am Wochenende, später auch zum Teil unter der Woche. In dieser Zeit tat ich (zum Teil unter Drogeneinfluss) auch viel Mist, ich dealte, klaute und zerstörte. Einige Male nahm ich dann auch Crystal, doch ein Schlüsselerlebnis änderte dies... nach einer ziemlichen hohen Dosis und mehreren Tagen durchgehend wach sein, dachte ich ernsthaft, ich würde sterben (und das nicht nur einmal). Ich bat meinem besten Freund mich abzuholen, dieser fand mich dann auch zitternd, zusammengekauert und nach Luft schnappend in meinem Garten wieder. Nach diesem Erlebnis habe ich oft (heute noch immer, wird etwas besser) Angst, eine Überdosis zu haben, obwohl ich nichts konsumierte habe seither. Auch Medikamente Schlucken ist für mich (wenn ich alleine bin) nur sehr schwer möglich, es erinnert mich zu stark an diese Tage.
Doch dann ging es wieder besser. Ich trieb wieder Sport, war ruhiger, emotionaler und kam (mit mir selber, bisher weiß es kein anderer) überraschend gut damit zurecht, bisexuell zu sein. Eine Freundin oder einen Freund habe ich dennoch nicht einmal ansatzweise gehabt.... Ich war insgesamt ausgeglichener und ja, fast zufrieden.
Jetzt, wo ich weiß, dass ich wegen schlechten Noten die Klasse wieder holen und muss (und wahrscheinlich aufgrund diverser Probleme die Schule wechseln werde), meine besten Freunde wegziehen und ich sozusagen wieder am Anfang stehe ohne jemanden (v.a. noch immer ohne Freund/in), weiß ich einfach nicht, wer ich bin, was ich nun tun soll oder will, was mich glücklich macht usw. Nichts macht mehr Spaß oder Sinn. Ich habe Angst, wieder in die alten Muster zurückzufallen – nein, eigtl. ist das gelogen, denn diesen Halt, den ich in diesen Zeiten hatte, wünsche ich mir zurück.
Was soll ich jetzt tun? Ist das überhaupt ein Problem?


Danke und Grüße

Dana Anwort von Dana

Lieber Unbekannte,

natürlich ist das ein Problem. Es ist etwas, das dich mit Beschlag belegt, dich negativ einnimmt, dich hemmt.

Das Problem für mich: es geht doch sehr auf die psychologische Ebene, sehr viel Inneres, sehr viel Seelisches...ich hoffe nur zutiefst, dem gerecht werden zu können, jedenfalls strenge ich mich an. Insgesamt wäre aber sicher eine (temporär begrenzte) Gesprächstherapie bei einem Fachmann/einer Fachfrau sinnvoll, da die einfach die Ausbildung in dem Bereich haben und die Hilfe auf dem Punkt und effektiv sein kann. Solltest du dich am Schluss meiner Antwort dafür entscheiden, würde dir das sicher lediglich nützen, die Dinge mal anzusprechen bei jemandem, der sich mit Verhaltensmustern und Vergangenheitsbewältigung auskennt.

Nun versuche ich aber erstmal mein Bestes.

Wenn ich mir dein Problem so durchlese, erkenne ich eins: du bist auf der Suche. Und eigentlich weißt du es auch, denn du schreibst es selbst: "die Frage nach dem Ich". Und dieses Ich kennst du (noch) nicht oder auch nicht mehr. Wenn man deine Vergangenheit betrachtet, dann erkennt man, dass du sicher nicht sehr häufig aufgrund des ICH wahrgenommen worden bist. Da war Streit und Hass, da waren Probleme der Eltern miteinander und wahrscheinlich gab es nicht viel, was dir als ICH eingepflanzt worden ist, außer der Instrumentalisierung durch beide Elternteile (Schutzschild). Du warst also nie ein ICH, sondern eher ein "ES". Kinder sollen im heranwachsenden Alter normalerweise lernen, sich selbst zu finden und zu sehen, wer sie sind. Das geschieht durch die Erziehung der Eltern, Liebe, Zuneigung und dem Umfeld, das man sich aussucht.

Bei dir sind da große Lücken, so dass du angefangen hast, deine Definition in anderen Dingen zu suchen, wie der Drogensucht oder der Game-Sucht. Du hast dich über Dinge definiert, wie dem guten Gefühl, wenn Drogen in dir wirkten oder dem Siegerlächeln, wenn du beim PC-Game gut warst. Das gab dir Auftrieb, allerdings den falschen, wie du selbst gemerkt hast.

Sich über sich selbst zu definieren, ist äußerst schwer. Ich weiß nicht, ob irgendwer das jemals komplett geschafft hat. Man ist so vielen "Zwängen" und "gesellschaftlichen Normen" unterworfen, dass man sicher meist nicht genau weiß: "Wer bin ich ...oder bin ich nur das Resultat aus dem, was um mich ist?"...ich denke, die Mischung machts.

Nach falschen Definitionen bist du dem eigenen Ich inzwischen schon recht nahe gerückt, indem du Sport machtest, Freunde bekamst und deine eigene Sexualitätsform entdeckt hast. Jetzt hast du Angst, da einige der Punkte, die dich ausgemacht haben, verschwinden, wie zB der Klassenverband und deine Freunde. Dazu kommt noch die Sehnsucht nach einem Partner, egal ob männlich oder weiblich, du wirst dich in den Menschen verlieben. Sicher, du hast es mit deiner Bisexualität sicher etwas schwerer, aber unmöglich ist es nicht.

Ich möchte dich daher dazu ermutigen, dem Neuen eine Chance zu geben. Trauere Vergangenem nicht nach, sondern lass die Zukunft auf dich zukommen und gib ihr die Möglichkeit, dir Gutes zu tun. Bleibe mit deinen Freunden in Kontakt, aber sei auch offen für neue Menschen. Wenn du nun in einen neuen Klassenverband kommst, wer weiß, wer sich dir dann nahe fühlt? Gib allem eine Chance - und vor allem dir selbst.

Kämpfe weiter für dich und dafür, selbst ein Großteil deiner eigenen Ich-Definition zu sein. Der Sport, vielleicht auch das nun gesteigerte Lernen für die Schule, das Loslösen von der Vergangenheit, der Blick in den Spiegel, der ein lächelndes Gesicht zeigt, das mit sich zufrieden ist. Nur weil Teile deines Lebens sich ändern, heißt das nicht, dass der Sinn komplett weg sein muss. Die Angst lässt einen das nur vermuten, dass es so sein könnte. Aber interessanterweise bieten sich immer neue Möglichkeiten, wenn man sie denn zulässt. Ich bin 36, das ist jetzt in der Gesamtlebensspanne noch nicht so alt, aber ich habe diese Erfahrung schon oft machen dürfen, dass sich neue Türen öffnen, dass ein neuer Weg neue Überraschungen bereit hält (negative und aber auch viele positive) und dass die Offenheit im Leben vieles erleichtert.

Arbeite an dir selbst, daran, wie du durch dein Leben gehst. Negative Gedanken und Ängste schrecken ab, hemmen und schaffen es oft, vieles, was erlebt werden könnte, zu blockieren. Hab etwas Vertrauen, dass du dein Leben, das du immer mehr in den Griff bekommen hast, auch weiterhin im Griff hast. Denn dazu brauchst du nur dich alleine. Und je mehr du mit erhobenem Kopf durchs Leben gehst, desto attraktiver wirst du auch für andere.

Trotzdem...ich würde dir eine leichte Therapie empfehlen, die dir einfach für eine Weile Hilfestellung bietet und dir professionell Wege aufzeigt, die du noch gehen kannst, bzw die dir die Ängste nimmt. Ich bin Laie, ich denke nicht, dass ich das kann, ich habe nur meine Gedanken aufgezeichnet. Hole dir bei Google doch einfach mal alle möglichen Adressen von Therapeuten in deiner Gegend und suche sie mal auf. Das kostet nichts groß, nur etwas Mut. Wichtig: sie müssen die Kassenzulassung haben, damit das direkt abgerechnet wird und nicht über dich läuft. Und dann wähle aus, das ist dein Recht. Lass dir mal eine Einstiegsstunde geben und schau, welcher Therapeut dir am wohlsten tut. Es tut einfach gut, nicht mehr alleine mit all den Gedanken zu sein, die einen quälen.

Ich wünsche dir wirklich von Herzen viel Erfolg bei deiner weiteren Suche nach deiner persönlichen Definition...und ich hoffe sehr, dass du sie vollenden kannst und dann merkst, wie das Glück sich einstellt.

Dir alles Liebe,

Dana