Problem von Anonym - 22 Jahre

Mein Zustand unter Einfluss von Alkohol

Liebes Kummerkastenteam,

mich beschäftigt folgendes Problem:
Ich bin eine sehr introvertierte Person. Oftmals traue ich mich nicht Dinge auszusprechen, die ich denke oder die mich beschäftigen. Viel zu viel Angst, habe ich vor der missbilligung meiner Mitmenschen.
Allerdings ändert sich das Alles plötzlich, sobald ich etwas Alkohol intus habe. Ich bin keine Trinkerin, um Himmels Willen und ich merke sehr gut, wann diese weiche Droge bei mir zu wirken beginnt. Wahrscheinlich spüre ich deshalb auch gerade so intensiv diese Veränderungen in meinem Verhalten. Meine motorischen Leistungen lassen stark nach. Wenn ich einen Text wie diesen Schreibe, dann vertippe ich mich sehr oft. Aber ich bemerke meine Fehler und korrigiere sie. Mein mentaler Zustand erscheint mir ausgeprägter als zuvor. Ich sage und schreibe Dinge, die ich auch im Nachhinein noch als Richtig empfinde, doch im nüchternen Zustand, wäre ich ich dazu nie in der Lage gewesen.
Ich bin viel offener anderen gegenüber, ohne wirklich angetrunken zu wirken. Feedback von Leuten, mit denen ich mich im angetrunkenen Zustand unterhalten habe, empfanden mich als eine fröhliche, positive Persönlichkeit, obwohl ich normal sehr schüchtern und abweisend wirke. Und ich selbst reflektiere auch so. Ich trinke nicht so viel, dass ich ich mich später nicht an meine Konversationen und Taten erinnern könnte, aber ich bemerke sehr deutlich, dass Alkohol in mir zirkuliert. Trotzdem habe ich noch die volle Kontrolle über meine Handlungen.
Ich habe viel mehr Lust und Spaß an menschlichen Interaktionen und nehme mein Leben irgendwie intensiver wahr und dass ist es, was mich in einer gewissen Weise verängstigt.
Ich habe soziale Defizite und war deshalb auch schon in Behandlung. Medikamente halfen nur sehr beschränkt und eine Psychologin, konnte meine Situation gar nicht nachvollziehen, was mich sehr bestürzt hat.
Doch sobald ich etwas intus habe, fühlt sich alles viel leichter an. Meine Probleme werden zu kleinsten Hindernissen, die ich mit wenigster Mühe bewältigen kann. Manchmal gehe ich die Lösung dieser Probleme auch im angetrunkenen Zustand an. Und habe Erfolg damit.
Deshalb habe ich auch nicht das Gefühl, dass mich der Alkohol negativ beeinflusst, weil er gerade die sozialen Defizite bewältigt, an denen Medikamente und Bahndlung bisher scheiterten.
Mir ist aber auch klar, dass Drogen (ich zähle Alkohol zu den schlimmsten überhaupt) keine gute Grundlage für den Aufbau eines Lebens sind und ich will mich nicht auf ihn beziehen müssen, wenn es ein schwieriges Problem zu bewältigen gibt.
Aber meinen Glauben in Psychologen und Medikamente habe ich auch verloren.
Ich habe Bücher und Blogs gelesen, die helfen wollen, sein Leben und sein Verhalten positiver zu gestalten, aber irgendwie fehlt mir die Energie dazu.
Alkohol war bisher das einzige Mittel, dass den gewünschten Effekt erzielt hat. Ansonsten habe ich bisher keinerlei andere Drogen genommen.
Langsam weiß ich nicht mehr, was ich tun soll und Mitmenschen wenden sich von mir ab. Ich habe Angst in Alkoholismus zu verfallen, weil ich keine anderen Möglichkeiten finde, mich irgendwie normal zu fühlen.

Und ja. Auch diese Zeilen verfasse ich, während eine spezielle Flüssigkeit durch mein Blut und Hirn zirkuliert.

Florian Anwort von Florian

Hallo Ratsuchende



Alkohol hat nicht nur Auswirkungen auf die motorischen Fähigkeiten, sondern auch auf die sensorischen. Sprich Deine Wahrnehmung ist unter der Einnahme von Alkohol gestört. Das wiederum bedeutet Bewusstseinsstörungen, eine verniedrigte Hemmschwelle und fehlendes Erfassen von Informationen.

Deine positiven Erfahrungen die Du mit Alkohol gemacht hast, hast Du abgespeichert, als Dein Gehirn durch den Alkohol nicht normal funktionsfähig war. Folglich sind alle positiven Erfahrungen verursacht durch eine alkoholinduzierte gestörte Wahrnehmung. Es handelt sich also um falsche oder stark veränderte Erinnerungen und Erfahrungen. Nicht umsonst wird Alkohl zur Abtötung schlechter Erfahrungen oder schlechter Laune verwendet. Dabei reicht auch eine kleine Dosis.

Deine Angst dem Alkoholismus zu verfallen ist vollkommen gerechtfertigt. Solange Dein Problem mit der Introvertiertheit, zu der ich gleich noch kommen werde, besteht, solltest Du KEINEN Alkohol mehr zu Dir nehmen. Damit reduzierst Du die Chance dem Alkohol zu verfallen in dieser Zeit auf Null. Andernfalls besteht die Chance immer und jederzeit.



Kommen wir nun zu Deinem Grundproblem: Den, wie Du es beschreibst, sozialen Defiziten.
Ich kann bereits jetzt sagen, dass Du keine sozialen Defizite hast die durch eine Krankheit herrühren. Das zeigt sich daran das die verschriebenen Medikamente nicht wirken, die Psychotherapheutin das Problem nicht nachvollziehen konnte und Alkohol "hilft". Die Introvertiertheit ist somit keine Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern viel mehr eine Auswirkung durch jahrelange Entwicklung. Ein immerwiederkehrender Teufelskreis innerhalb der Denkmuster, wenn man so will.

Um diesen zu durchbrechen braucht es weder Medikamente noch Drogen in welcher Form auch immer. Und auch Psychotherpeuten können hier nur reden und weniger tun. Es bedarf eines umtrainieren der Denkprozesse, die jedoch nur erreicht werden kann durch eine Handlung Deinerseits. Dazu muss jedoch ersteinmal die Grundlage geschaffen werden, sich aus der sicheren Komfortzone zu bewegen und neue Dinge auszuprobieren. Es reicht erstmal kleine Schritte zu machen und den Erfolg dieser kleinen Schritte zu genießen. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten die Komfortzone zu verlassen und dabei die Introvertiertheit zu bekämpfen:


1. Grüße jeden fremden Menschen der Dir während des Tages begegnet

Es reicht ein einfaches "Hallo" oder "Guten Tag" (von mir aus auch ein herzliches "Grüß Gott" in Bayern oder ein "Moin" im Norden Deutschlands). Begrüße so jeden Fremden der Dir über den Weg läuft. Einfach mal Hallo sagen, ohne weiteres gequatsche ohne sonstige Konsequenzen.
Menschen älteren Semesters grüßen meist freundlich zurück, bei den jüngeren dauert es etwas um festzustellen ob überhaupt eine Reaktion kommt. Vielleicht grüßt derjenige der gegrüßt wurde am nächsten Tag sogar als erster. Das sind so ziemlich die einzigsten Konsequenzen, mit Außnahme der, dass die anderen Dich dann schon als offenere Persönlichkeit wahrnehmen und Du dadurch auch wirklich offener wirst.


2. Frage einfach einmal jemanden nach dem Weg oder einer anderen Auskunft

In einer Stadt in der Fußgängerzone oder einfach auf einer von Fußgängern belebten Straße jemand x-beliebigen danach fragen wo den hier die nächste Bank, das nächste gute Restaurant oder der nächste Supermarkt ist. Wirkt für einen selbst etwas komisch wenn man die Antwort schon kennt, aber es ist eine prima Übung in ein Gespräch einzusteigen und fremde Menschen anzusprechen.
Vielleicht werden ein paar Menschen abwinken, weil sie es eilig haben, aber die meisten werden stehen bleiben, sich umblicken und mit Händen und Füßen erklären wo den das nächste gute Restaurant ist. Je nach Extraversion werden sie sogar noch erklären warum es ein gutes Restaurant ist.


3. Frage bekannte Menschen nach ihrem Tag oder ihrer Meinung

Laut einer Studie sind mehr 40% aller Informationen die wir täglich äußern selbstbezogen; also Meinungen und Erfahrungen die wir selbst gemacht haben oder auf uns beziehen. Wenn wir einen anderen Mensch nach seiner Meinung, seinem Tag oder seinen Erfahrungen fragen antworten die meisten auch ohne wirklich etwas dahinter zu vermuten und sehen es sogar in gewisser Weise als Lob an. Wenn Du Deine Bekannten also nach etwas fragst was sie betrifft, dann bist Du bereits voll im Gespräch, obwohl Du wahrscheinlich noch gar nicht richtig zum Wort gekommen bist. Um das Gespräch zu vertiefen ist es hilfreich auch eigene Erfahrungen offen und ehrlich preis zu geben und somit ein Diskussionsgespräch zu führen.

Eine erweiterte Methode davon ist: Fremde Menschen nach ihrer Meinung oder ihrem Tag fragen.
Das passiert häufiger beim Einkaufen und meist auch nicht wirklich bewusst, dass wir hier gerade mit einem fremden Menschen reden.

Interessant ist dabei die noch stärker erweiterte Form, die ich gerne praktiziere, ist: Einfach einmal einen wildfremden glücklichen Menschen im Zug fragen warum er so gut drauf ist. Die Antworten dazu sind Erfahrungswerte die sich wirklich lohnen, sich einige Sekunden wie der letzte Idiot zu fühlen. Es wird aber mit jedem Mal leichter und bis jetzt sind fast alle Gespräche sehr positiv und anregend gewesen.


4. Nimm an Seminaren oder Vereinen teil, nutze die Gelegenheiten für neue Erfahrungen

Nichts macht einen Menschen offener als die Aussicht auf neue Erfahrungen. Insbesondere wenn man bereits zuvor gerne neue Erfahrungen gemacht hat. Hilfreich dazu ist die Teilnahme an Seminaren, Wochenendkurse oder auch die Mitgliedschaft in einem Verein, einem Interessensverband oder gar einer Partei. Hier lernt man 1. neue Leute kennen, muss 2. sich mit ihnen unterhalten und lernt 3. immer etwas für sich selbst.


5. Nimm Schauspiel- oder Rethorikunterricht

Hat viel mit dem 4. Tipp zu tun. Hier geht es aber weniger um neue Erfahrungen, sondern vielmehr um eine spezialisierte Ausbildung. Im Rethorik- oder Schauspielunterricht ist man immer gezwungen etwas vorzutragen und vor einer Menge von Menschen zu reden. Wer einen solchen Unterricht über einen längeren Zeitraum besucht lernt dabei sehr viel darüber, wie man selbstsicher sprechen und auftreten kann, sowie seine Fehler weniger ernst zu nehmen und somit mehr Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein zu erlangt.


Probiere einige dieser Tipps einmal über mehrere Wochen aus. Eine Veränderung der Denkmuster ist nur über einen längeren Zeitraum möglich und beginnt nicht sofort. Dafür ist er aber nachhaltiger und gesünder erreicht, als bei der Einnahme von Alkohol.


Ich wünsche Dir dabei viel Erfolg


Alles Gute

Florian