Problem von Anonym - 24 Jahre

Entfremdung von der Familie

Hallo liebes Kummerkasten-Team,
schon lange Zeit fühle ich mich in meiner Familie irgendwie fremd und habe das Gefühl, nicht dazuzupassen. Ich bin das jüngste Kind und war früher sehr schüchtern, was für meine Eltern und Geschwister ein Riesenproblem war. Häufig wurde ich wegen meines Unvermögens, mit Fremden zu reden oder zu grüßen unter Druck gesetzt und geschimpft. Ich hatte das Gefühl, alle wollten ein anderes, fröhliches, normales Kind in der Familie haben und nicht so etwas wie mich.
Für mich war es, trotz Schüchternheit, nie ein Problem, einmal von der Familie getrennt zu sein. Mit 5 Jahren musste ich für eine Operation eine Woche ins Krankenhaus - kein Problem. Ab 14 Jahren lebte ich unter der Woche in einem Internat und konnte nicht verstehen, warum manche Jugendliche so extremes Heimweh bekommen haben, wo wir doch jedes Wochenende nach Hause fahren konnten und mussten. Jetzt studiere ich weit entfernt von meinem Heimatort (ich wollte das so) und fahre nur noch ein paar Mal im Jahr nach Hause (Weihnachten, Ostern, …) Durch Schule und Studium habe ich meinen Horizont erweitert und interessiere mich für viele Sachen, über die ich mit meinen Eltern gar nicht sprechen kann, weil ihnen der Zugang dazu fehlt. Durch meinen Partner und seine Familie habe ich die Welt der “Bildungsbürger” kennengelernt, die ein großer Gegensatz zu dem ist, was ich von zu Hause kenne. Ich fühle mich viel mehr meinem Freund zugehörig als meiner Familie, er ist die wichtigste Person in meinem Leben.
Ich führe quasi ein Doppelleben, wenn ich zu Hause bin, verwandle ich mich notgedrungen wieder in das Mädchen von früher. Ich erzähle kaum etwas von meinem jetztigen Leben und schon gar nicht von meinen Problemen, weil ich möchte, dass sie sich keine Sorgen mehr um mich machen. Ich engagiere mich zum Beispiel in einem politischen Verein, aber traue mich nicht, das meinen Eltern zu erzählen, weil ich fürchte, dass sie damit nicht einverstanden sind. Ohnehin werde ich kritisiert, weil mein Freund und ich in unserer Partnerschaft nicht nach den traditionellen Mann-Frau-Rollenbildern leben.
Ich halte die Atmosphäre, die zu Hause herrscht, nicht mehr aus, es ist jeden Tag derselbe Trott, so trostlos und irgendwie eine düstere Stimmung, ich fühle mich eingeengt. Ich ärgere mich über die Engstirnigkeit und die Art, mit der mein Vater über die Familie “herrscht”, aber ich wage es nicht, etwas dagegen zu sagen. Manchmal komme ich mir vor wie ein Roboter, ich mache wieder all die Arbeitern, die ich früher auch machen musste und bediene meinen Vater, damit er zufrieden ist. Aber ich fühle mich so erniedrigt und unglücklich dabei. Auch zu meinen Geschwistern habe ich keine richtige Beziehung, sie sind mir auch alle irgendwie fremd geworden bzw. ich ihnen. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Familie so selten besuche und weil ich ehrlich gesagt auch keine Lust dazu habe. Dann frage ich mich, ob ich irgenwie asozial bin und ob mit mir etwas nicht stimmt.

Delia Anwort von Delia

Hallo liebe Unbekannte,

keine Sorge, asozial bist du bestimmt nicht! Ich kann allerdings gut verstehen, dass dir das Ganze zu schaffen macht. Die Familie soll an sich der Ort sein, an dem man akzeptiert wird, wo man auch mal Fehler machen kann und trotzdem nicht weggeschickt wird, die Einheit, die immer hinter einem steht. Oft ist aber genau das nicht der Fall und es scheint bei dir auch bereits in der Kindheit nicht so gewesen zu sein. Da ist es nicht verwunderlich, dass du dich von deinen restlichen Familienmitgliedern so distanziert hast. Wenn man sich nicht verstanden oder akzeptiert fühlt, kann man zu den betreffenden Personen auch keine gute Beziehung aufbauen.

Du fühlst dich deiner Familie gegenüber verpflichtet und das gehört zum Teil auch einfach dazu. Allerdings solltest du diese Pflichten nicht über deine eigenen Bedürfnisse stellen, denn anscheinend kümmert sich deine Familie um diese Bedürfnisse nicht oder nur sehr wenig, also musst du das selbst tun.

Zudem schreibst du, dass du dich bei Besuchen bei deiner Familie unglücklich und sogar erniedrigt fühlst. Erniedrigung ist ein derart starkes negatives Gefühl, dass dir wirklich niemand übel nehmen kann, dass du dich dem nur selten aussetzen willst und deine Familie die meiste Zeit über meidest. Auch ständig kritisiert zu werden trägt sicherlich nicht dazu bei, dass du familiäre Gefühle entwickelst.

Daher frage dich einmal: was schuldest du ihnen? Natürlich, sie sind deine Familie, sie haben dich erzogen, haben dir ermöglicht die Schule zu besuchen, haben dich finanziert. Aber darüber hinaus scheinen sie, zumindest verstehe ich deinen Text so, dich nicht sonderlich unterstützt zu haben. Ein Kind braucht mehr als nur Bildung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Es braucht vor allem auch Liebe, Akzeptanz und Zuneigung, nur dann kann es eine Bindung aufbauen.

Jetzt möchte ich dir gerne meine Gedanken mitteilen, die mir in den Kopf kamen, als ich das erste Mal dein Problem gelesen habe. Vielleicht findest du sie etwas überspitzt, aber vielleicht denkst du dir insgeheim das gleiche. Ich habe dich gedanklich dazu beglückwünscht, dass du es geschafft hast, dich aus dieser Familie und ihrem Bild von dir zu lösen und das zu tun was du möchtest. Zu studieren, mit deinem Freund zusammen zu ziehen und dein Leben möglichst autonom zu führen. Viele schaffen nämlich genau dies nicht, sondern verharren in den familiären Traditionen wie z.B. dem von dir angesprochenen Rollenverhältnis zwischen Mann und Frau. Und ich finde es sehr schön, dass du das hinterfragen kannst und dein eigenes Leben führst.

Und wenn du dir das klar machst und dich so akzeptieren kannst wie du bist, dann sollten es deine Eltern auch nicht mehr schaffen, dich klein zu machen wenn du zu Besuch bei ihnen bist. Deine Familie kann ihr Leben so führen wie sie es will und wenn sie damit glücklich sind ist das ihre Sache, aber sie können nicht von dir verlangen, dass du genau den gleichen Weg einschlägst. Es gibt keinen Grund, warum du dich von deiner Familie erniedrigen lassen solltest oder nicht du selbst sein darfst. Genieße das, was du aus deinem Leben gemacht hast und dass du Kontakt zu Leuten wie deinem Freund hast und somit jemanden gefunden hast, der dich versteht. Es wird wahrscheinlich immer irgendwo tief in dir weh tun, dass deine Familie dich nicht versteht, aber nur weil du biologisch mit ihnen verbunden bist, heißt das nicht, dass du dir nicht selbst eine eigene Familie aufbauen kannst. Dazu zählen nicht nur Blutsverwandte, sondern Menschen, die dich so mögen wie du bist und die zu dir halten. Das ist in meinen Augen ebenfalls eine vollwertige Familie und manchmal sogar noch mehr wert als die eigentliche in die man hineingeboren wurde.

Eine kleine Warnung zum Schluss: Für viele ist die Familie der Rückzugsort, der Ort an dem sie aufgefangen werden, wenn sie eine Niederlage erlebt haben, sei es eine Trennung, berufliche Probleme oder etwas anderes. Sorge dafür, dass du ebenfalls einen Rückzugsort hast. Baue nicht alles nur auf deinen Partner auf (auch wenn er derzeit die wichtigste Person in deinem Leben ist), knüpfe neue Freundschaften und kümmere dich darum, dass sie erhalten bleiben. Jeder Mensch braucht ein soziales Netzwerk, das ihn auffängt, wenn mal etwas Schlimmes passiert. Es muss nur eben nicht unbedingt die Familie sein.

Ich wünsche dir viel Erfolg und alles Gute

Delia