Problem von Anonym - 17 Jahre

Gefühlskalt

Vor ungefär einem Jahr fing der ganze Mist und somit auch alle Probleme an. Ich hatte bis zu dem Tag eigentlich immer ein gutes Leben gehabt. Hatte Eltern die mich geliebt haben und immer für mich da waren und es gab einen guten Zusammenhalt zwischen mir uns meinen zwei Schwestern. Wir haben immer viel zusammen unternommen und generell waren wir wirklich eine tolle Familie. Aber das Blatt fing schnell an sich zu wenden. Als ich 11 Jahre alt war, stellte sich eine nicht heilbare Krankheit namens ALS ( Amyotrophe Lateralsklerose ) bei meinem Vater heraus und die Schock Diagnose dass er höchstens 5 Jahre noch zu leben hatte folgte kurze Zeit darauf. Seitdem bin ich ein wenig verschlossener. Ich habe mich nicht mehr schnell mit Leuten angefreundet, als ich allerdings in der 7 Klasse und 12 Jahre alt war lernte ich meine (jetzige ) beste Freundin kennen, die auch meinen Papa noch kannte. Diesem ging es von Zeit zu Zeit immer schlechter. Er konnte nicht mehr reden, nicht mehr essen, und bekam deshalb auch eine Magensonde, durch welche er versorgt wurde. Damals war es für mich okay nicht mit ihm reden zu können. Einfach weil ich ihn auch ohne Worte verstehen konnte. Generell war ich immer das typische Vaterkind. Ich hab mit ihm oft über Fußball geredet und letzendlich ist es viel zu schnell zu Ende gegangen. Als ich 15 Jahre alt war, kam mein Papa in ein Krankenhaus und ich ging ihn besuchen. Er hatte Morphium bekommen und nahm mich nicht wirklich war. Noch immer kann ich nicht seinen ausdruckslosen Gesichtsausdruck vergessen. Wie er mich angesehen hat, als würde er mich nicht erkennen. Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Wenige Tage später sagte ich ihm, dass ich ihn am Abend noch einmal sehen wollte, denn an diesem Abend wollte ich mich von ihm verabschieden. Ich wusste dass er sterben würde. Und an dem Abend als ich zu ihm gehen wollte kam die Nachricht dass er bereits verstorben war. Es war eine schlimme Zeit für mich. Ich habe sehr viel geweint. Meine beste Freundin war immer für mich da, aber es hat mich verändert. Ich bin sehr in mich gekehrt, rede nicht offen. Ich vertraue fast niemandem außer meiner besten Freundin. Immer wenn ich dann anfing glücklich zu sein, kam irgendetwas dass mich wieder aus der Bahn geworfen hatte. Beispielsweise als mein Nachbar der für mich wie ein Opa war gestorben ist. Danach habe ich mich ein wenig leer gefühlt. Konnte nicht mehr weinen. Aber es kam noch schlimmer. Ich brauchte nur eine leiseste Anwandlung von Glück zu empfinden ( gute Noten etc. ) und schon geschah etwas schlimmes. Meine Oma hat Lymphknotenkrebs, meine andere Nachbarin ist im Krankenhaus. Noch dazu streite ich mich täglich mit meiner Mutter die mir scho 10 mal gedroht hat mich rauszuwerden. Ich spüre nichts mehr, aus Angst dass Glück alles zerstören könnte. Ich WILL nicht glücklich sein wenn dann soetwas passiert. Ich fühle rein gar nichts. Keine Angst, keine Trauer, keine Liebe, kein Glück, gar nichts. Ich glaube dass ich depressiv bin, da ich immer alles pessimistisch sehe. Da ich mir einrede dass mein Leben keinen Sinn hat und mich kein einziger Mensch vermissen würde, denn meine beste Freundin hat noch andere Menschen die wichtig für sie sind. Ich allerdings nicht. Ich bin ganz alleine und weiß nicht mehr was ich machen soll. Vielleicht wäre es ja auch besser wenn ich sterben würde und bei meinem Vater sein könnte? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, wobei es für mich eigentlich nie ein Ausweg war und ich den Kopf über solche Menschen immer geschüttelt habe, weil ich es dumm fand das jemand sterben wollte. Letzendlich habe ich diese Seite gefunden und würde gerne wissen : Bin ich depressiv? Bin ich gefühlskalt? Sollte ich vielleicht zu einem Psychologen gehen?

Florian Anwort von Florian

Hallo Ratsuchende


Du hast für Dein Alter bereits viel durchmachen müssen. Es wirkt vielleicht anmaßend zu behaupten, dass ich weis wie Du Dich fühlst. Aber auch ich habe mit 22 einige Bezugspersonen, darunter Verwandte und gute Familienfreunde, verloren und mein Vater hatte vor einigen Jahren ebenfalls eine tödliche Diagnose (Krebs) bekommen. Zwar lebt mein Vater noch und das so aktiv er kann. Aber der Gedanke an seinen Tod ist sehr präsent.

Denn der Tod mag für den Verstorbenen der Abschluss seines Lebens, vielleicht auch seines Leidens, sein, aber für die Hinterbliebenen ist es ein Moment der Überhäufung mit verschiedenen Emotionen und Fragen über das Leben, den Tod und den Sinn dahinter.
Du selbst scheinst gerade an dem Punkt zu stehen Dich zu fragen was der Sinn dahinter ist und warum gerade Dir und gerade dann, wenn Du Dich wieder ein wenig besser und glücklich fühlst, das alles passiert. Du bist sogar schon soweit, denn Sinn nicht weiter zu suchen, sondern gleich das Leben als sinnlos zu betrachten.
Genau an dieser Stelle möchte ich Dir versuchen weiter zu helfen. Die Antwort wird daher auch etwas länger ausfallen. Ich entschuldige mich daher vorweg, sollte es länger dauern die Antwort zu lesen.


Beginnen wir am besten gleich mit dem Sinn oder genauer mit dem fehlenden Sinn. Der Lebenssinn ist grob gesagt etwas was uns voranbringt. Es ist unser Motivator und Grund warum und wofür wir leben und wofür wir uns aufopfern. Glauben wir an einen Sinn in unserem Leben, so richten wir uns im Großen und Ganzen danach. Glauben wir an einem Sinn in einer Handlung, so handeln wir danach.

Fehlt nun aber der Sinn, weil wir nicht glauben das es einen solchen Sinn hinter etwas gibt, so geben wir auf. Wir geben unsere Motivation und unseren Lebensgrund auf. Wir glauben nicht mehr Handeln oder nur das notwendigste tun zu müssen. Wir machen nichts mehr aus freien Stücken und ziehen uns nach und nach von der Außenwelt zurück. Sinnlosigkeit raubt uns die Energie und den Willen etwas zu tun.
Dies nennt sich "noogene Neurose" und erklärt im Grunde viele, wenn nicht alle Deiner beschriebenen Probleme und Handlungen. Eine solche Neurose zeigt sich unter anderem durch eine "reaktive Depressionen", welche sich mitunter durch Gefühlslosigkeit (bzw. reduziertes Gefühlserleben), grübeln über Versäumnisse und Unterlassungen ("hätte ich doch nur...") sowie chronische Unlust/Schwermütigkeit äußert. Verursacht wird eine solche Neurose durch den Verlust eines Lebenssinns.
Das bedeutet, Du bist durch den Tod Deines Vaters von Deinem Lebenssinn abgekommen oder hast ihn unbewusst als falsch angesehen. Wahrscheinlich hast Du Deinen Vater als eine Konstante, etwas unveränderbares, in Deinem Leben gesehen und Dir auch ausgemalt wie er bei zukünftigen besonderen Ereignissen, z.B. Schulabschluss, Hochzeit usw., anwesend sein wird und Dich auf diesen Weg dahin unterstützt. Weil er diese Konstante und damit natürlich eine starke Bezugsperson war, wurden solche Ereignisse mit seinem Tod plötzlich sinnlos und vielleicht auch nicht mehr erstrebenswert. So konnte sich diese noogene Neurose bei Dir ausbreiten und hat jetzt ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit entstehen lassen.
Verstärkt wurde dies dann noch durch den Verlust weiterer wichtiger Personen aus Deinem Leben, die Dir lieb und wichtig waren. Das dabei gute Ereignisse vorweg gingen, verschlimmert zudem die reaktive Depression bzw. den Glauben an die Sinnlosigkeit positiver Ereignisse und die damit verbundenen Gefühle, wie Freude und Glück.


Ziel muss es daher jetzt sein, die vermeitliche Sinnlosigkeit zu beseitigen und durch einen neuen Sinn, neue Motivation und Kraft zu schöpfen das Leben wieder aktiv und bewusst zu gestalten bzw. sich neue Ziele zu setzen. Hilfreich ist dabei selbstverständlich ein Psychotherapeut. Gut wäre eine Therapeut mit logotherapeutischer Ausbildung, da die Logotherapie auf die Sinnsuche spezialisiert ist. Aber auch ohne helfen Therapeuten dabei wieder auf die Beine zu kommen und Depressionen nach und nach zu therapieren und so zu reduzieren.

Ansonsten bzw. auch davor oder parallel dazu, ist es möglich selbst (wieder) aktiv auf Sinnsuche zu gehen. Hilfreich ist es dabei die richtige Frage zu stellen. Während nämlich viele fragen "Warum ist das passiert?" oder "Warum ist das mir/ihm/ihr passiert?" und so stehts die Vergangenheit bei dem Problem und seine Ursachen verweilen, ist es jedoch wichtiger in die Gegenwart und die Zukunft zu blicken und sich zu fragen "Wozu ist das passiert?" bzw. "Wozu ist das mir/ihm/ihr passiert?". Die Frage nach dem Wozu ist nämlich die Frage nach dem Nutzen bzw. die Lehre die man daraus ziehen kann. Also die Frage nach dem was man daraus lernen kann oder welche Handlungen daraus erfolgen sollten. Der Blick wird so auf die Gegenwart (in der wir nur handeln können) und die Zukunft (die wir erreichen möchten) fixiert und es wird nach Lösungen gesucht, nicht nach weiteren Problemen. Dadurch schafft man sich auch ein neues Ziel, denn man will das was man daraus lernt auch anwenden. Sinn wird dann in der Durchführung von Lösungen gesehen, was bedeutet dass man sich nicht mehr reaktiv verhält sondern aktiv aus einem Problem bzw. einer Situation heraus handelt. Man ist dann motiviert, ziel- und lösungsorientiert. Daher ist die Frage nach dem Wozu auch sehr nützlich um die reaktive Depression, somit auch die noogene Neurose, zu überwinden oder zumindest deren Ausmaß stark zu reduzieren.
Versuch Dir einmal selbst die folgenden Fragen (in Ruhe und ohne Druck) zu beantworten. Lass die Fragen ruhig auf Dich wirken und lehne sie nicht gleich ab, sondern versuche trotzdem eine Antwort zu finden:

Wozu ist Dein Vater/Deine Oma/Dein Nachbar gestorben? Wozu könnte dies gut sein? Wozu ist der Tod da? Wozu die Geburt? Und wozu das Leben?
Wozu bist Du derzeit so gefühlskalt? Wozu können Dich Deine Gefühle verleiten? Und wozu dienen Deine Gefühle? Wozu dient Glück? Wozu Trauer oder Angst?

Es sind viele Fragen auf einmal, für die man nicht sofort eine Antwort parat hat und auch nicht parat haben muss. Sie fallen einen gerne erst dann ein, wenn man vielleicht gar nicht mehr an sie denkt und vielleicht in einer vollkommen anderen Situation ist. Die Fragen sollen nämlich nicht nur das Bewusstsein ansprechen, sondern auch das Unterbewusstsein. Also dem Ort der Deine Gedanken, Gefühle und Handlungen steuert ohne das Du es merkst oder erst lange danach merkst. Die dort stattfindenen Gedanken haben eine wirkliche Langzeitwirkung und einen Lerneffekt und helfen dabei einen Sinn zu finden, selbst wenn man bewusst noch glaubt keinen darin gefunden zu haben.


Ein anderer Weg um seinen Sinn zu finden bzw. allgemein auch um eine "Selbstinventur" zu machen und damit die eigenen Fähigkeiten und Wünsche wieder mehr ins Bewusstsein zu rücken, ist die Beantwortung verschiedener Fragen zum eigenen Leben und zum bisherigen Verständnis über den eigenen Lebenssinn. Dafür findest Du unter folgender Webseite (eine Seite betrieben durch die Universität Innsbruck zum Thema Sinnforschung) einen Leitfaden mit insgesamt 48 Fragen aufgeteilt in 4 Kategorien: http://www.sinnforschung.org/mein-lebenssinn/leitfaden
Auf der Seite kannst Du auch andere hilfreiche Hinweise und Informationen zum Thema Lebenssinn, Sinnsuche und Sinnforschung finden. Sie ist sehr umfassend. Es gibt auch weitere Internetseiten, jedoch ist diese eine die man als seriös und nicht von einem bestimmten Glauben motiviert ist.


Damit möchte ich nun auch enden. Ich hoffe die Antwort Dir nicht zu lang und sie verständlich ausgedrückt war. Und noch mehr hoffe ich, dass sie Dir weitergeholfen hat und Dich vielleicht auch motiviert hat einen neuen Sinn im Leben zu suchen und zu entdecken. Ich würde mich sehr freuen wieder von Dir zu hören.

In jedem Fall wünsche ich Dir alles Gute


Gruß
Florian