Problem von Anonym - 18 Jahre

Schwul - keine Zukunft, kein Leben

Hallo Kummerkasten-Team,

Ich weiß es, seitdem ich etwa 14 Jahre alt war, ich hoffte, dass es sich dabei nur um eine Phase von mir handeln würde, was sich aber nicht erfüllte. Nach sehr langer Zeit, habe ich es halbwegs akzeptiert, doch es belastet mich immer noch wirklich sehr.
Ich bin komplett ungeoutet und könnte es mir ehrlicherweise momentan nicht anders vorstellen. Ich bin jeden Tag antriebslos, fühle mich irgendwie wirklich schon innerlich ''aufgelöst'', so als ob das Leben mir mittlerweile völlig egal ist.

Ich bin zwar Türke, aber bei mir sind die Familienverhältnisse nicht all zu streng. Sprich: Ich lebe nur mit meiner Mutter zusammen und bin zudem ein Einzelkind. Aber dennoch gibt es keine Akzeptanz gegenüber Homosexuellen seitens meiner Mutter und meiner restlichen Familie. (...) Außerdem ist meine Familie religiös gesinnt, wodurch ich mich auch noch einmal ganz allein und ''falsch'' fühle.

Meinen Freundeskreis, welcher eher nur aus ''Schulfreunden'' besteht, würde ich zum Großteil als homophob beschreiben. (...) Nach der Schule bin ich jedoch meistens/fast immer allein. Im Laufe der Jahre habe ich mich wirklich von anderen isoliert, ich fühle mich Zuhause wohl und war beispielsweise in den letzen 3 Jahren vielleicht 2 mal richtig weg von Zuhause, um etwas mit anderen zu unternehmen. Sport, Shoppen, DVD-Abende, ja sehr vieles, tu ich ausschließlich allein, da ich immer das Gefühl habe - andere zu stören bei ihrem Leben, oder mich zu blamieren usw. Kurz gefasst, es kann nichts falsch laufen. Gefragt werden nach Unternehmungen werde ich auch eigentlich nie, wodurch ich eine indirekte Bestätigung bekomme.
Ich fühle mich einfach bei niemandem wohl, ... und muss ständig über meine Situation weinen, wie sehr ich mich verändert habe und mich deshalb regelrecht hasse.

Ich habe mich irgendwie selbst zum Beobachter gemacht. Ich wirke ungern bei etwas mit, schaue mir alles an und habe kaum Selbstbewusstsein mehr.

Ich habe mich auf einigen Gay Community's registriert, wie z.B Gayromeo o.ä. und war echt völlig fertig, wie viele/nein fast alle Schwulen gleich ticken. Immer frage ich mich, ob mir das auch widerfährt? Es ist einfach nur traurig sehen zu müssen, dass viele, besonders im hohen Alter, nichts haben - keinen Parter, ... ist das der Weg eines Schwulen? Einsam zu sterben?
Von der Gesellschaft benachteiligt zu werden? Auf einige Rechte verzichten? Laut einigen Studien alle paar Monate jmd. neues zu suchen? Im Internet versuchen sich per Bilder wie eine Ware anzubieten, um jmd. neues kennenlernen zu können?
Ein Doppelleben führen? Oder sich Outen und dabei viel Ärger mit der Familie antun? Abwarten wann dieser Stress einen innerlich zusammenreißt? Sich verstecken, in jeglicher Hinsicht? Genau diese Fragen stelle ich mir, ...

Ganz besonders an Samstagen, wo die meisten immer etwas unternehmen, bzw. Gleichaltrige an sich, Disco, Party usw. - fühle ich mich schlecht, nein man kann schon von einer depressiven Stimmung sprechen, in der ich an meine Zukunftslosigkeit nachdenke, meine Sexualität an sich, mein in der Freizeit kein vorhandener Freundeskreis, mein sehr selbstkritischer Blick auf mich selbst, mein auf mich gerichteter Hass, die Hoffnungslosigkeit, die Angst meine Familie zu verlieren, die Schule, einfach alles. Wirklich, es gibt nichts, was ich als gut bezeichnen würde. Ich spiele oft mit dem Gedanken, mir das Leben einfach zu nehmen, seitdem ich 16 bin. Das einzige was mich abhält, ist meine Mutter, die mich allein aufgezogen hatte, das Wissen, sie dadurch schrecklich Weh zu tun. Öfters, wenn ich mich mal mit ihr streite, dann ist auch diese ''Barriere'' weg, dann sind diese Gedanken hemmungslos ... Immer wird davon gesagt, dass Selbstmord ein Unding sei, aber warum? Weil die Gesellschaft es so bestimmt, sagt, dass das Leben lebenswert ist, in jeder erdenklicher Form? Es moralisch bestimmt ist? Es sittenwidrig ist? Man auf Gefühle (Reaktionen) anderer Rücktsicht nehmen muss? Ich verstehe es überhaupt nicht.

Ich meine, meine gegenwärtige Situation, als auch meine Zukunft ist schrecklich. Andere zu sehen, denen Gutes widerfährt, in jeder Art und Weise, selbstbewusst und locker sind und durch das Leben ganz einfach durchlaufen, das kann ich nur als Glück bezeichnen. Ich hatte demnach Pech. Pech gehabt, geboren zu werden. Pech in allem.

Zu einer Jugendgruppe speziell für Schwule, ging ich nie, wollte ich auch nie, da ich einfach Angst hätte, von jmd. der mich kennt, gesehen zu werden. Ich kenne etwa 5 geoutete Schwule, sobald mich einer dort sehen würde, falls einer von denen dort ist, würde ich vielleicht in eine Art Zwangsouting Situation kommen, da jener es weitererzählen könnte, was absolut nicht erdenklich für mich ist! Sicher ist sicher ...

Tut mir leid, dass ich alles wirr aufschreibe, ich kann momentan nicht klar denken, ... vielleicht kommt es sehr überspitzt rüber, aber am besten der Großteil meiner Situation so Beschreibbar. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht so wirklich, was ich von diesem Brief erhoffe, vielleicht wollte ich es einfach mal gesagt haben, jmd. mir Umbekannten berichten, mich einfach mal jmd. anvertrauen.


Ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit.

Mit freundlichen Grüßen,

Judith Anwort von Judith

Lieber Unbekannter

Du hast uns Deinen Namen zwar genannt, aber ich habe ihn hier gelöscht und wie Du liest auch einige Details aus Deinem Brief genommen, um Deine Anonymität etwas zu wahren.

Dein Bericht trifft mich sehr. Nicht nur mich, sondern sicher auch meine KuKa Kollegen und viele Leute, die ihn nun lesen können. Ich bin traurig darüber, dass junge Homosexuelle in unserer Gesellschaft immer noch solche inneren Kämpfe durchmachen müssen. Auf der einen Seite sind wir heutzutage in Deutschland einen grossen Schritt weiter: Homoehe, schwul-lesbische Netzwerke, Arbeitgeber, die "Diversity" leben und sich dafür einsetzen, dass Schwule und Lesben nicht diskriminiert werden... Aber auf der anderen Seite hat mal als Jugendlicher immer das Gefühl, man ist anders und kann nicht glücklich werden.

Dazu kommt natürlich in Deinem Fall hinzu, dass Deine Familie sehr religiös ist und eine bestimmte Erwartungshaltung in Bezug auf Ehe und Zweisamkeit / Familie hat, der Du glaubst nicht gerecht werden zu können. Dann siehst Du bei Online Dating Seiten die Seite der schwulen Subkultur, die auf der anderen Seite der Skala steht: Schnelllebig, oberflächlich, sexualisiert. Das entspricht nicht Deinen Werten und Du fragst Dich, ob Du überhaupt glücklich werden kannst.

Lieber Unbekannter: Das kannst Du!

Gayromeo ist nicht stellvertretend für die ganze schwule und lesbische Community zu verstehen! Ich kenne persönlich mehrere Homosexuelle, die seit Jahren in einer stabilen, monogamen und liebevollen Partnerschaft leben, die sich durch nichts von einer heterosexuellen Beziehung unterscheidet, ausser, dass sie von 2 Männern gelebt wird. Genauso gibt es natürlich auch die Schwulen, die jedes Wochenende in der Szene unterwegs sind, auf der Suche nach einem neuen Abenteuer. Aber -- diese Männer gibt es auch in heterosexuell, und auch Frauen können heutzutage lieben wen sie wollen und schlafen, mit wem sie wollen.

Und diese Wahl zu haben, welchen Lebensstil man für sich wählt, dass ist das wichtigste. Niemand sollte jemand anderem vorschreiben, welcher Lebensstil der richtige ist!

Deine Zuschrift ist sehr vielschichtig und Du scheinst ein intelligenter, reflektierter junger Mann zu sein. Du möchtest Tiefgang und Substanz.

Daher rate ich Dir, doch einmal zu einem Treffen von jungen Schwulen und Lesben zu gehen. Die Jugendgruppen laufen anders ab als die "Fleischbeschau", die Dich auf online Dating Foren abschreckt. Es geht in den Gruppentreffs um Gespräche und darum, sich gegenseitig beim Coming Out zu helfen. Niemand zeigt mit dem Finger auf andere. Oft sind Sozialarbeiter dabei und Einzelgespräche werden angeboten. Es gibt auch Gruppen für schwule Türken. Denn: Du bist keinesfalls allein!

Ob Deine Familie akzeptieren wird, dass Du schwul bist, kann ich Dir nicht sagen. Aber Du solltest Dich nicht verstellen und Du musst Deine Leben so leben, wie Du es möchtest. Du kannst Deine Neigung nicht ändern und solltest es auch nicht. Du bist genau so richtig, wie Du bist. Vielleicht wird Deine Mutter es verstehen, vielleicht nicht. Aber bevor Du Dich outest, solltest Du Dir Rückhalt von einer Gruppe und / oder Freunden holen. Mach Dich stark, für den Fall, dass Deine Familie es nicht akzeptiert.

Hier ein paar Links:
http://www.youtube.com/watch?v=ZsSWhsMUC5E
http://www.lsvd.de/politik/migration/tuerk-gays-and-lesbians.html

Ich wünsche Dir alles Gute!
Viele Grüsse,
Judith