Problem von Liva - 14 Jahre

Ich kann nicht mehr weitermachen

(Wäre es ok, wenn Dana mein Problem beantwortet? Ich wäre auch für jeden anderen dankbar, aber ich glaube einfach, dass sie unglaublich ehrlich und erfahren ist und genau das könnte ich jetzt brauchen. Vielen Dank aber an jeden, der mir antwortet.)
Hallo,
bevor ich irgendwas anderes sage, wollte ich nur loswerden, dass ich euch echt liebe! Ihr helft so vielen Menschen, jeden Tag, immer wieder. Ihr wisst Antworten auf Probleme, bei denen ich verrückt werden würde. Und auch wenn ihr es nicht wisst, ihr habt mir schon ganz oft geholfen, auch wenn ihr mir nicht direkt geantwortet habt. Dafür einfach mal Danke. Diese Seite ist eine echte Stütze für mich. Wirklich. Danke.
Es tut mir leid, wenn das jetzt lang werden wird, ich versuch mich kurz zu fassen. Aber ich muss die Sachen, die jetzt kommen einfach mal aussprechen. Schon seit 15 behalt ich alles für mich und ich hab Angst erdrückt zu werden. Ich fange am besten ganz von vorne an. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich 10 war oder vielleicht auch jünger, ich weiß es nicht mehr. Aber ich war nicht traurig darüber, ich fand es gut. Das klingt vielleicht komisch, aber erstens glaube ich sowieso nicht, dass sie sich jemals geliebt haben und zweitens war es praktisch die grauenvollste Zeit meines Lebens. Sie haben sich jeden Tag gestritten. Mein Vater hat meiner Mutter geschlagen, er ist ausgerastet, hat auch meinen Bruder geschlagen, der 2 Jahre älter ist als ich. Und er hat mehr als nur Türen kaputt gemacht. Ich war unglaublich froh, als ich gehört habe, dass sie sich trennen, er auszieht. Ich sehe ihn jetzt ab und zu mal im Monat. Er tut natürlich so als wäre all das nie gewesen. Ich weiß das klingt hart und es tut mir leid, aber ich liebe meinen Vater nicht. Ich werde niemals mit ihm klarkommen. Zwischen ihm und mir ist etwas vorgefallen über das ich einfach nicht reden kann. Ich würde gerne, aber es geht einfach nicht. Es ist so unglaublich beschämend und jeder würde mich dafür hassen. Ich weiß nicht genau warum, aber ich habe fast keine Erinnerung an die Zeit, obwohl es höchstens 5-6 Jahre her ist. Kurz nachdem, oder bevor meine Eltern sich getrennt haben (ich weiß es nicht) ist mein Opa gestorben. Er war einer der Menschen, den ich mehr geliebt habe als mein Leben. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass er einmal nicht mehr da sein würde. Ich hab mich nie verabschiedet. Nie. Er war einfach nicht mehr da und niemand hat mit mir darüber gesprochen. Obwohl es schon Jahre her ist, zerreißt mich noch jeder Gedanke an ihn. Weshalb ich einfach immer versuche zu verdrängen was passiert ist. Das tue ich oft. So tun als wäre all das gar nicht. Es kann einfach nicht sein.
Ich weiß nicht wie, aber so hat es die letzten Jahre funktioniert. Aber dann ist etwas mit meinem älteren Bruder passiert. Ich glaube, er hat das alles nie verkraftet und die Pubertät hat ihn dann einfach umgehauen. Er ist krank, ich weiß nicht wie ich es anders sagen soll. Aber ihm fehlt irgendetwas. Irgendetwas in ihm funktioniert nicht mehr. Er hasst sein Aussehen (er hat starke Akne aber er hasst auch alles andere in seinem Gesicht) und kann über nichts anderes mehr reden. Man kann sich das einfach nicht vorstellen, aber er findet sich unglaublich hässlich. Aber er ist es nicht, versteht ihr? Er kann es einfach nur nicht sehen. Er steht jeden Tag stundenlang vorm Spiegel, aber ich weiß, er hasst, was er sieht. Er geht nicht mehr raus, kann Menschen nicht angucken wenn er mit ihnen redet. Ich kann sein Verhalten nicht beschreiben, aber man wird verrückt wenn man mit ihm in einem Haus wohnt. Er ist sehr aggressiv, hat eine völlig falsche Wahrnehmung und terrorisiert alle. (Es tut mir leid, dass ich das sage.) Aber er tut mir auch unglaublich leid. Er hat vor einem Jahr ungefähr aufgehört zur Schule zu gehen, am Anfang nur unregelmäßig. Aber jetzt geht er gar nicht mehr hin. Deshalb sollte er dieses Schuljahr die 10. Klasse wiederholen, aber er hat es nur 1 Woche geschafft hinzugehen. Er hatte davor schon regelmäßig Termine bei einem Psychotherapeuten, aber es hat nichts gebracht und deshalb haben meine Eltern ihn dann in eine psychatrische Klinik zwangseinweisen lassen. Es war grauenhaft. Er hat sich so sehr dagegen gewehrt. Aber jetzt ist er dort und kommt nur am Wochenende nachhause. Und ich weiß, das ist gemein, aber wir konnten endlich wieder leben (meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich). Ich konnte endlich wieder schlafen. Aber er will da unbedingt raus, wehrt sich so sehr. Für ihn ist diese Klinik die Hölle, er fühlt sich eingesperrt, obwohl er es davor doch viel mehr war. Und deshalb kommt er jetzt wieder nach Hause. Und ich hab unglaubliche Angst davor, weil es genauso werden wird wie früher (jedes Wochenende wenn er nachhause kommt ist es so und er hat gesagt, er wird nicht zur Schule gehen). Ich halte das einfach nicht aus, ich kann nicht nur noch 5 Stunden jede Nacht schlafen. (Er geht so spät ins Bett wie er will, lässt aber niemand anderen schlafen, er brüllt, kommt in mein Zimmer und ich weine so sehr, dass es weh tut. Aber bei uns zuhause interessiert es keinen, wenn man weint. Meine Mutter wird wütend und meine Bruder kommen zu mir und lachen mich aus. Deswegen schäme ich mich dafür, wenn ich es doch nicht unterdrücken kann). Ich war so am Ende .Man wird wirklich verrückt und geht zugrunde, wenn man mit ihm zusammenlebt. Jeden Tag gibt es gewaltigen Streit. Aber ich darf nichts sagen, weil mein Bruder der ist, der krank ist, dem es schlecht geht. Meine Mutter hat gesagt, dass wir nichts tun können. Es kann uns niemand helfen und wir müssen das einfach ertragen. Aber ich kann nicht mehr. Ich hab das noch nie jemandem gesagt, aber ich hab Angst, dass irgendwas in mir kaputt ist. In Zeiten in denen die Schreie in meinem Kopf so laut waren, habe ich selbst auf mich eingeschlagen. Damit es endlich aufhört. Ich hatte riesige blaue Flecken, aber es wurde einfach nicht still in meinem Kopf.
Egal, was für schlimme Dinge ich getan habe, es hat nicht aufgehört. Ich kann mit niemandem darüber reden, ich habe es versucht, wirklich, ganz doll. Aber es geht nicht. Da ist eine Blockade, die ich nicht zum Einstürzen bringen kann. Weil ich es nicht kann, weil ich es nicht darf. Weil niemand da ist, der mir zuhören würde. Aber das ist okay, es ist einfach so.

Es sind noch so viele andere Dinge, die ich noch sagen muss. Aber ich muss jetzt aufhören. Ich kann nicht mehr sagen.
Bitte, bitte helft mir. Ich weiß, ich bin schwach. Und es tut mir leid, aber bitte. Mein ganzer Körper ist voller Angst. Und sie frisst alles in mir auf.

Dana Anwort von Dana

Liebe Liva!

Zuerstmal danke ich für dein Vertrauen. Ich suche mir zwar meist die Probleme aus, auf die ich sofort mehrere Gedanken im Kopf spüre, aber auch zu deinem Problem fällt mir durchaus einiges ein, allerdings etwas ungeordnet. Ich hoffe, ich kann dir damit trotzdem helfen.

Die Angehörigen von Menschen mit psychischen Problemen leiden meist genauso stark wie die Menschen, die die Probleme haben. Es ist zwar nicht genau das Leid, das dein Bruder spürt, es ist anders geartet, aber du bist stark eingeschränkt durch die Art deines Bruders und durch die Behandlung, die dir widerfährt.

Eurer Familie sind schon einige schlimme Dinge passiert. Die Scheidung deiner Eltern, bei der Kinder auch immer mitleiden, egal, wie gerechtfertigt die Scheidung war. Der Streit, der vorher herrschte. So sehr dieser barsche Ton auch im Haus Gewohnheit wird, man gewöhnt sich nie daran. Wenn dann noch Gewalt dazu kommt und noch andere Dinge, von denen du mir ja nicht berichten kannst, ist es nur verständlich, dass die Seele stark in Mitleidenschaft gezogen ist.

Dein Bruder geht an seinem Selbsthass zugrunde, aber er scheint noch nicht so weit zu sein, sich öffnen zu können, daher bringt die Klinik momentan wirklich nichts. Er sträubt sich ja gegen alles. Die Frage ist nur, wie dem Problem beizukommen ist, wenn er sich weigert und sich gegen einen Klinikaufenthalt stemmt. In psychotherapeutische Behandlung muss er auf jeden Fall wieder. Ohne geht es nicht und Resignation seitens deiner Mutter bringt nur alles in falsche Bahnen.

Das größte Problem ist, dass man einen Menschen, der nicht will, nicht zwingen kann. Selbst, wenn er in der Klinik bliebe, er lässt ja nichts an sich heran. Das bedeutet, dieser Weg endet momentan an einer dicken Mauer. Somit sollte sich für dich der Fokus von ihm weg bewegen, hin zu dir. Nun, welche Wege gibt es noch, damit DU nicht noch mehr seelische Wunden abbekommst als du eh schon hast? Wenn man in der einen Richtung nicht mehr weiter kommt (Hilfe für den Bruder, Gedanken an den Bruder), dann muss man, so schlimm das erstmal ist, einen Weg für sich selbst suchen. Das ist nicht egoistisch, das ist reiner Selbstschutz.

Deine Mutter hat den Weg der Resignation genommen, sie will erstmal nicht weiter, weil es eh nichts hilft. Auch das ist ein Weg, der gegangen werden kann, der aber sicher keinem so wirklich gut tut. Sie mutet sich und ihren Kindern sehr viel zu. Du möchtest einen anderen Weg gehen, du hast Angst vor dem, was kommt (und das ja nicht zu Unrecht) und bittest um Hilfe. Von daher gilt es jetzt einzig und alleine zu schauen, wie DU heil weiter leben kannst.

Zuerst: verzeihe dir deine Gedanken. Sie sind nicht übel oder hassenswert. Sie beweisen sogar, dass etwas in dir noch NICHT kaputt ist. Du willst Hilfe, du willst aus dieser Situation raus. Du willst keine Angst mehr haben und forderst nun diese Hilfe ein. Das ist super, das beweist, dass du dir selbst etwas wert bist. Bewahre dir das! Ich wünschte mir, mehr Menschen hätten diesen Mut.

Ok, wie kriegen wir das nun hin?

Ich würde alle Register ziehen, die möglich sind.

Das wäre zuerst einmal ein Gespräch mit deiner Mutter. Ja, dein Bruder ist krank, das ist dir ja auch bewusst, aber es gibt DICH auch noch. Und deinen kleinen Bruder, der eine ruhige, behütende Familie haben sollte, genau wie du auch. Mit deiner Mutter darüber zu reden, wird schwierig, denn sie ist eh total überfordert und fühlt sich sehr alleine. Das sagt sie ja auch. Trotzdem wäre es gut, in Ruhe und mit Respekt mit ihr zu sprechen. Sag ihr, dass du starke Angst hast, dass es dir überhaupt nicht gut geht, du deshalb auch oft weinen musst und du dich bedroht fühlst. So klingt es jedenfalls in deinem Brief. Es darf nicht sein, dass, nur um deinem Bruder zu helfen, die komplette sonstige Familie leiden muss. Das ist weder Aufgabe der Mutter, noch ist das Aufgabe von euch.

Ich verstehe deine Mutter. Sie denkt, es sei ihre Pflicht, deinen Bruder wieder in die Familie zu integrieren. Wer weiß, vielleicht hat sie auch starke Gewissenskonflikte, weil es deinem Bruder so schlecht geht. Das ist ja das Dilemma. Daher ist auch ein Gespräch darüber sehr schwierig, weil sie selbst ja leidet. Trotzdem wäre es gut, es zu versuchen. Sag ihr, dass du sie sehr lieb hast, dass du auch deinen Bruder durchaus magst, weil er ja dein Bruder ist, dass es aber nicht Ziel sein kann, alles einfach runter zu schlucken, unter den Teppich zu kehren und weiter zu machen, wie es vor der Klinik war. Und dass, wenn sie das so will, ein Weg für DICH gesucht werden muss, denn du zerbrichst an der Situation. Das sollte deine Mutter wirklich so erfahren. Es wird sie unter Druck setzen, das ist leider nicht zu vermeiden, du kannst ihr auch sagen, dass du weißt, dass sie das unter Druck setzt und dass dir das leid tut...aber dass deine Seele wirklich leidet und du daher schauen musst, dass es DIR wieder besser geht. Angst ist im Leben kein guter Begleiter. Ich hoffe, deine Mutter lässt sich auf das Gespräch ein.

Ok, was noch?

Du musst für dich selbst überlegen, wie wichtig dir dein Zuhause ist. Würdest du lieber woanders leben wollen, als unter einem Dach mit deinem Bruder? Oder würdest du deinen Bruder in Kauf nehmen, nur damit du daheim bleiben kannst? Es gibt Wohngruppen, die von Sozialarbeitern geführt werden, wie kleine Familien, sogar mit psychotherapeutischer Betreuung, in der man einfach wieder zur Ruhe kommen kann und einen geregelten Tagesablauf hat. Das wäre natürlich für deinen Bruder super, aber er lehnt ja wohl momentan alles ab. Trotzdem wäre DAS die beste Lösung und ihr solltet beim Jugendamt mal nachfragen, welche Möglichkeiten es da gibt. Dann könntest du daheim bleiben und ER wäre weg für eine gewisse Zeit. Aber auch für dich wäre das eine Möglichkeit, allem zu entfliehen und wieder Ruhe und Kraft zu tanken.

Oder ein Familienhelfer. Die empfehle ich immer gerne, weil ich sie selbst in einer Familie in meinem Bekanntenkreis erlebt habe. Das ist wirklich eine tolle Sache. Das Jugendamt hilft da (übrigens auch bei den Wohngruppen). Ich weiß nicht, wie genau man einen bekommt, aber dazu müsstest du (am allerbesten mit deiner Mutter) zum Jugendamt gehen und um ein Beratungsgespräch bitten. In diesem Gespräch kann man dann diese Dinge abfragen. Keine Angst, das Jugendamt nimmt nicht gleich alle Kinder aus der Familie, da wird geguckt, wo wirklich effektiv geholfen werden kann. Familienhelfer sind Sozialarbeiter, die richtig IN die Familie kommen, mehrfach in der Woche am Familienleben eine Weile teilnehmen und Ratschläge geben, Regeln aufstellen und schauen, dass alles ins Lot kommt. Vor allem können sie, da sie ja Fachkräfte sind, die Überforderung aus der Familie nehmen. Deine Mutter würde aufatmen, du würdest wieder leichter leben können und vielleicht hätte dein Bruder dann auch jemanden, bei dem er sich nicht so aufführt, wie er das gerne tut.

Auf jeden Fall darf nicht einfach resigniert werden, Liva. Ja, du bist erst 14, aber auch mit 14 kann man schon den Mut haben, das anzugehen. Solltest du in deiner Mutter nicht die Vertrauensperson haben, die du jetzt bräuchtest, such dir eine andere Erwachsene/einen anderen Erwachsenen. Ein Vertrauenslehrer? Ein Lehrer, den du besonders magst? Dein Hausarzt? Du kannst auch völlig alleine zum Jugendamt gehen und nachfragen. Das geht und kostet nichts. Hol dir Hilfe vor Ort. Ich kann leider nichts weiter tun, als dir die Ratschläge zu geben, die ich für richtig erachte. Den Rest musst du leider vor Ort tun.

Aber so, wie ich dich hier kennen gelernt habe, schaffst du das. Sowohl das Gespräch mit deiner Mum, als auch sowas wie einen Gang zum Jugendamt. Das Jugendamt hat zB auch Kontakte zu Kinder- und Familientherapeuten, auch das wäre ein guter Weg. Eure ganze Familie ist seelisch so geschwächt, dass eine Familientherapie wirklich gut wäre.

Es tut mir leid, dass ich dich nicht einfach an die Hand nehmen kann und den Weg mit dir gehen. Aber ich vertraue dir. Ich glaube fest an dich. Vielleicht magst du in einem halben Jahr nochmals schreiben und uns berichten, was geworden ist? Solltest du noch Fragen haben, kannst du gerne unter Feedback nochmals schreiben.

Alles Liebe für dich, Liva - und viel Erfolg! Ich drücke fest die Daumen!

Dana