Problem von Anonym - 19 Jahre

Konflikt mit Eltern// Studium

Hallo liebes Kummerkasten- Team,
ich bin 19 und studiere zurzeit Wirtschaftswissenschaften im 2. Semester an der Uni. Ich gebe erstmal eine Beschreibung meiner Familie: meine muslimischen Eltern kamen vor 17 Jahren nach Deutschland. Sie sind relativ integriert. Ich habe zwei ältere Brüder,die wegen des Studiums nicht mehr zu Hause wohnen (Jurastudent 23, Medizinstudent 20) und eine jüngere Schwester (Abiturientin 17).
Meine Eltern legen wirklich einen sehr großen Wert auf unsere Karrieren und wie wir in der Öffentlichkeit wirken. Fehler sind hier nicht erlaubt, weder schulisch noch privat. Das bedeutet, dass wir alle Einser-Zeugnisse haben müssen und dass meine Schwester und ich auf gar keinen Fall, so wie der Islam es vorsieht, auf Partys gehen oder vor der Ehe mit einem Jungen gesehen werden dürfen. Das Problem ist hier, dass ich immer das schwarze Schaf war. Mein Abitur war eher im Durchschnitt und ich eckte schon immer mit meinen Weltanschauungen an. Außerdem wurde ich in der 11. Klasse mit einem Jungen erwischt, woraufhin mein Vater mir ins Gesicht schlug, dass meine Lippe aufplatzte und ich tagelang die blauen Flecken vor den Leuten in der Schule mit Make-up abdecken musste. Ich zog mich komplett zurück, verlor Freunde und Selbstbewusstsein, entwickelte eine Essstörung. Seitdem herrscht zu Hause eine nervenzerreißende Anspannung.
Eigentlich wollte ich Anglistik/Germanistik studieren, vielleicht mal Lehrerin werden oder im Verlag arbeiten, doch das ging meinen Eltern gehörig gegen den Strich. Ich sollte Wirtschaftswissenschaftlerin werden, damit die Gesellschaft sieht was für perfekte Kinder meine Eltern erzogen haben...Also zwangen sie mich zu einem Studium, für das ich so gar nicht gemacht bin. In der Uni sitze ich alleine ohne Freunde, ohne ein Wort von dem Lehrstoff zu verstehen, egal wie hart ich lerne oder auch nicht, je nach dem wie viel Kraft ich aufbringen kann. Nichts klappt. Bin in allen Klausuren durchgefallen, aber das wissen sie noch nicht. Ich fühle mich hilflos,einsam,nutzlos und dumm. Keine Woche vergeht in der ich mich nicht zwei-bis dreimal wie ein Kleinkind in den Schlaf weine. Ich hasse dieses Gefühl. Wenn ich meine Eltern darauf anspreche, dass ich den Studiengang wechseln möchte werden sie rasend und behaupten man könne alles schaffen, wenn man es nur genug möchte und dass kein Mensch zu dumm für Wiwi sein kann, noch sie es dulden, dass ich wechsel. Ich soll mir ein Beispiel an meiner Cousine nehmen, die trotz eines schwachen Abis Wiwi bis ins 6. Semester schaffte. Sie befürchten, dass Bekannte und Verwandte dann hinterrücks tuscheln und sagen, ich sei zu dumm. Ich würde mit einem Wechsel die ehrbare Ehre der Familie beschmutzen und unseren superduper namhaften Namen in den Schmutz ziehen. Meine Brüder sind auch keine Hilfe, denn sie sind genauso auf Erfolg fixiert wie sie. Außer meiner Schwester und meiner Cousine, die nachvollziehen kann wie hart das Studium ohne gute Mathekenntnisse und Interesse sein könnte und selbst in solch einem Kontrollregime lebt, kann mir niemand Rat geben.

Meine Eltern verbauen mir gerade die Zukunft, sie denken sie würden mir einen Gefallen tun, wenn sie mich auf einen "zukunftsträchtigen" Pfad schicken, aber sie ebnen mir gerade den Weg in die Arbeitslosigkeit. Ich habe mir ernsthafte Gedanken darüber gemacht einfach klammheimlich zu wechseln, sie würden es nicht unbedingt mitbekommen, aber ich habe Angst vor der Reaktion, wenn es doch dazu kommen sollte. Dass sie mich viermal so hart verprügeln wie damals, ich würde es psychisch nicht ertragen können. Der physische Schmerz ist mir egal.
Im Grunde habe ich nicht viel Hoffnung auf eine Lösung, denn weg von meinen Eltern geht nicht. Nicht mal meine 27-jährige Cousine darf ausziehen. Wenn ich einfach wechsel, könnte ich mit meinem Leben dafür bezahlen, aber so weiter leben möchte ich auch nicht mehr, ständig das verhasste Problemkind zu sein liegt viel zu schwer auf mir. Langsam glaube ich wirklich, dass ich dumm und nutzlos bin und dass ich nicht mal mein Wunschstudium schaffen könnte. Alles ist zur Qual geworden und ich werde immer aggressiver im Umgang mit Mitmenschen. In mir ist ständig eine Unruhe.

Ich hoffe der Text ist nicht zu lang und dass ihr irgendetwas damit anfangen könnt, es würde mir eine Menge bedeuten endlich eine unparteiische Meinung oder vielleicht sogar einen Lösungsansatz zu lesen.

Vielen, vielen Dank <3

Nuala Anwort von Nuala

Hallo du,

ich muss gestehen, dass es förmlich in mir schreit, was du meiner Meinung nach machen solltest - und doch will ich dir meinen zentralen Gedanken nicht einfach "vor die Füße werfen".

Ich möchte dir sagen, was für einen klugen Eindruck bei mir hinterlassen hast - du bist ganz sicher nicht auf den Kopf gefallen und kannst ganz bestimmt den Studiengang bewältigen, welcher dir am Herzen liegt.
Und du hast selbst erkannt, dass man nur dann gut sein kann, wenn man für eine Sache brennt - umso schlechtere Leistungen zeigt man, wenn man etwas langweilig, uninteressant und sinnlos findet. Daher liegt es auf der Hand, dass du auf Dauer nur scheitern kannst, solange du zum WiWi - Studium genötigt wirst, also keine Wahlfreiheit hast. Mit mangelnder Leistungsfähigkeit hat das nichts zutun, aber so clever wie du bist, hast du das ja schon selbst sehr treffend bemerkt.

Tja, da wären wir schon mitten im Thema. Du hast so viele Fakten genannt, sodass von meiner Seite aus keine Fragen offen sind. Ich will sie dir kurz und prägnant nennen:

- Du wirst systematisch unterdrückt; um dich als Individuum mit Gefühl und Bedürfnissen geht es nicht.
- Du wurdest bereits geschlagen und es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder passiert.
- Du wirst zu Dingen gezwungen, welche du nicht tun/haben möchtest.
- Verständnis und Hilfe in deiner Umgebung findest du nicht. Du bist isoliert.
- Du leidest psychisch bereits deutlich unter all diesen Widrigkeiten, deine Seele schlägt vielfältig Alarm.

Genauso kurz möchte ich dir diesen Kerngedanken nennen, welchen in eingangs schon erwähnt habe.
Er lautet: FLIEH!
Deine Eltern, deine Verwandten haben zwar versucht, dir die Flügel zu stutzen, damit du das elterliche Nest niemals verlassen kannst. Doch ich sehe in deiner Nachricht an uns ein Aufschimmern an Widerstand, du hast deine Flügel nicht komplett verloren. Das ermutigt mich, dir wirklich eindringlich zur Flucht zu raten.
Die Flucht selbst würde einen Wegzug aus deiner bisherigen Stadt bedeuten (am besten so weit weg wie möglich), denn wenn du in der gleichen Stadt bleibst, können dich deine Eltern immer wieder aufsuchen und schikanieren.
Du könntest ein komplett neues Leben beginnen - endlich das studieren, was dir wirklich gefällt (Anglistik/Germanistik), Jungen treffen (und überhaupt andere Menschen treffen, wann und wie und wo es dir gefällt!), ein freieres und selbstbestimmteres Leben führen.

Ich weiß, angeblich geht das nicht. Du fürchtest dich. Doch da muss ich dir sagen: Dein Vater macht sich strafbar, wenn er dich schlägt; du bist volljährig und kannst ganz alleine entscheiden, was du tust oder nicht tust. Du kannst ihn anzeigen, wenn er dich körperlich angeht. Er hat in keinster Weise das Recht, sich derart über dich zu erheben und dich zu unterwerfen!
Außerdem: Was ist das für eine elterliche Fürsorge? Du schreibst in zynischen Sätzen, von Liebe und Respekt keine Spur. Was hindert dich noch daran, die Leinen zu kappen? Es wäre ja sogar möglich, den Kontakt komplett (oder auf Zeit) abzubrechen, sodass sie dich in der neuen Stadt nicht finden können.

Was wäre die Alternative zur Flucht? - Weiter stillhalten. Bis dein Körper und deine Seele vollends kapitulieren. Nicht nur deine berufliche Zukunft steht auf dem Spiel, sondern auch deine Gesundheit. Du machst schon jetzt einen elenden Eindruck, ohne deine aktive Veränderung kann es nicht besser werden, sondern nur noch miserabler!

Daher bitte ich dich, dir in Ruhe zu überlegen, wie du den Fluchtgedanken in dich aufnehmen und möglichst umsetzen kannst.
Du kannst dir Hilfe in einer örtlichen Beratungsstelle suchen, um deinen Wegzug vorzubereiten. Deine Geschichte ist kein Einzelfall. Ich bin mir sicher, dass dir Sozialpädagogen und Psychologen bzw. Sozialarbeiter kompetent und verlässlich zur Seite stehen können, um dieses Leben zu verlassen.

Weißt du, Familie ist schön und gut, aber sie hat keinesfalls das Recht, ein Leben zu zerstören. Vielleicht würden deine Eltern eines Tages realisieren, was sie dir angetan haben - vielleicht auch nicht. Dein Leben ist aber zu kostbar, um darauf zu hoffen, dass sie plötzlich einen Sinneswandel durchmachen.

Ich wünsche dir alles Gute für deine Zukunft und viel Kraft!
Nuala

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Hallo du,

du hast noch eine wichtige Rückmeldung erhalten! Du findest du hier:
http://mein-kummerkasten.de/305368/Feedback-zu-http-mein-kummerkasten-de-304794-Konflikt-mit-Eltern-Studium-html.html

Alles Liebe,
Nuala