Problem von Lukas - 14 Jahre

Ewiger Perfektionismus

Hallo erstmal,

ich hoffe, hier hat jemand ein offenes Ohr für ein Problem, welches ich schon seit einiger Zeit mit mir rumschleppe.

Ich bin aktuell in der 8. Schulstufe und besuche ein Gymnasium.. Morgen gibt's das Zeugnis und ich kann wieder einmal auf ein fantastisch verlaufendes Schuljahr zurückblicken. Mit einem Notendurchschnitt von 1,08 bin ich Klassenbester. Darauf bin ich auch total stolz, es war ein wirklich anstrengendes Jahr, jedoch merke ich oft, wie ich mir selbst enorm viel Druck mache und einfach immer ein "Sehr Gut" erreichen will. Doch in manchen Fächern reicht mir nicht mal das. In Mathematik zum Beispiel möchte ich bei jeder Klassenarbeit volle 100% erreichen, sonst bin ich damit nicht in vollem Umfang zufrieden.

Ich kann es überhaupt nicht haben, wenn jemand irgendwo besser ist als ich. Das wissen meine Schulkollegen, und falls dann doch einmal jemand besser sein sollte, ärgern sie mich. Ich versuche es dann immer zu ignorieren, jedoch gelingt mir das selten und ich rege mich über mich selbst auf, dass ich dieses Mal eben nicht besser war.

Dieses Problem begleitet mich nicht ausschließlich in der Schule. Wenn ich mich zum Beispiel bei irgendwas verspreche, dann denke ich mindestens 10 Minuten darüber nach, warum ich den Satz eben nicht perfekt rausgebracht habe. Ich weiß, dass ich viel zu selbstkritisch bin, aber ich kann es eben nicht abstellen. Auch wenn ich mit jemanden spreche, habe ich immer die Angst, dass jemand etwas negatives über mich sagen könnte, weil ich einfach weiß, dass mich das dann für mindestens drei Stunden beschäftigt. Ich habe auch oft, vor allem bei Leuten, die ich nicht gut kenne, das Problem, dass ich keine Ahnung habe, wie ich mit Gestik und Mimik arbeiten soll, um selbstbewusst zu wirken. Ich ziehe mich deshalb auch oft aus Gesprächen zurück, weil ich auf keinen Fall will, dass jemand etwas negatives über mich denkt.

Auch bei diesem Text hier merke ich wieder, dass ich mir nach jedem Satz alles noch einmal durchlese, um nach besseren Ausdrücken, Rechtschreib- und Grammatikfehlern zu suchen, weil ich einfach nicht will, dass jemand denkt, ich würde die deutsche Sprache nicht beherrschen. Und genau da liegt das Problem.

Sicherlich kennt jeder den Spruch "Niemand ist perfekt, aber jeder ist einzigartig." Ein wirklich toller Spruch, der aber leider nicht in meinen Kopf reingehen will. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich das Leben zu ernst nehmen. Ich mache mir oft Sorgen darum, dass ich im Leben nicht das erreichen kann, was ich mir vorstelle.

So, das war jetzt ein ziemlich langer Text. Zum Glück bin ich auch jetzt schon etwas erleichtert, das ganze einmal aufgeschrieben zu haben. Ich würde mich sehr über eine Antwort und ein paar Tipps von den wirklich sehr kompetenten Personen hier freuen.

PaulG Anwort von PaulG

Grüße dich Lukas!

In jeder Klasse gibt es Rollen, nicht? Wie in einem Theaterstück. Diese Rollen sind immer besetzt.

Da ist der, der den Platz in der letzten Bank dauergepachtet hat, und jeden Unterrichtsversuch zunichte machen kann. Da ist die Klassenschönheit, der Künstler, der oder die Verpeilte, der Zu-spät-Kommer... und eben der, den man früher als Primus bezeichnet hat. In diesem Fall bist du das.

Ich hätte dir spontan auch attestiert, dass du es bist. Du drückst dich sehr gut aus. Es ist interessant, den Menschen, den man als Schüler machmal beneidet, über den man sich manchmal geärgert, und den man doch zugleich bewundert hat, einmal seine Gefühle nennen zu hören. Ich will dich nicht in ein Schema pressen oder vorführen, indem ich das schreibe. Was ich hoffe, ist, dass deine Gedanken viele zum Nachdenken anregen werden. Denn die Rolle, die du ausfüllst - sicher nicht zuletzt, weil du ein ehrgeiziges Berufsziel hast? -, wird oft zu Unrecht verurteilt. In einer Situation, wie du sie beschreibst, war ich selber selten. Aber ich habe sie oft bei Anderen miterlebt.

Nun, gewisse Schwächen machen einen auch authentisch, nicht? Für viele Menschen ist es normal, in einzelnen Schulfächern - sei es nun Englisch, Mathematik oder Deutsch -, eine Schwäche vorzuweisen. Dass sie sich damit, trotz gelegentlicher Enttäuschungen über Noten, etwas erleichtern - nämlich genau diesen Perfektionismus, den du beschreibst, nicht spüren müssen -, das ist ihnen oft nicht bewusst. Eine Schwäche lässt sich ja auch schlecht konstruieren. Außerdem solltest du wirklich das Beste geben, wo du es kannst. Im späteren Leben wird es dir ja nur nützen.

Wenn ich einen Antworttext im Kummerkasten verfasse, lese ich ihn auch immer vorher durch. Schließlich könnten manchmal Rechtschreibfehler auch fatal sein. Dennoch unterlaufen sie mir immer wieder. Mittlerweile kann ich darüber lachen, wenn hin und wieder ein Wort gedoppelt oder falsch getippt ist. Das geschieht einfach. Viele Leute würde allein das Suchen nach Fehlern dazu führen, mehr zu begehen, als sie es sonst würden; in deinem Fall kannst du parallel noch immer das Beste leisten. Für dich wäre es also wichtig, erstens einen Fehler zulassen zu können, wenn er passiert - und zweitens, dich nicht in Selbstkritik zu verstricken, wenn du ihn späterhin bemerkst, aber nicht mehr rückgängig machen kannst.

Betrachten wir es einmal rational: Wann wird es in deinem Leben wirklich wichtig sein, das exakt und absolut Perfekte zu leisten? In deinen Abiturprüfungen, möglicherweise bei deiner Promotion und in den ihr vorgeschalteten Prüfungen. Vorher tragen Noten hauptsächlich zur Steigerung unseres Selbstwertgefühls bei. Rein theoretisch könnte man alle Prüfungen vor der Oberstufe problemlos mit "ausreichend" bestehen, und es wäre kein Thema - voraus gesetzt, man kann hinterher noch sein Bestes geben und das Abitur nach Wunsch bestehen. Natürlich wäre das Quatsch für jemanden wie dich, dem es einfach möglich ist, in der Zwischenzeit Bestnoten zu haben. Noten sind in gewisser Weise ein Grundbedürfnis - und ich kann dir nur raten, weiterhin deine Fähigkeiten auszuspielen.

Wo aber fängt ein "sehr gut" an, und wo hört es auf? Im Augenblick bist du nur mit dir zufrieden, wenn wirklich alles richtig ist - auch wenn für eine Eins ein paar Fehler drin sein dürften. Die man natürlich auch nicht bewusst begehen kann und sollte, wohin würde das führen? Aber wenn du das nächste Mal in dieser Situation bist, überleg einmal: Wird es deine Zeugnisnote beeinflussen, ob nun sehr gut oder gut, wenn deine Klassenarbeit eine 1- trägt? Ja, wirst du vielleicht sagen, und mit dem Notendurchschnitt argumentieren. Am wichtigsten könnte es für dich sein, die Fehler, die geschehen - genau wie du es sagst -, als Teil deiner Persönlichkeit, als Authenzität zu begreifen. Nicht in dem Sinn, dass du fehlerhaft bist. Sondern so, dass du eine Person mit Ecken und Kanten bist. Ironischerweise sind es unsere gelegentlichen Fehltritte, die uns uns mit Sympathie ausstatten. Zwar wird es gern gesehen, wenn jemand alle Zeit bereit, verlässlich und kompetent ist. Jedoch brauchen wir Menschen das Gefühl, in dem Gegenüber eine nicht 100% perfekte Person vor uns zu haben. Eben weil wir wissen, dass wir selbst unsere Fehler haben. Dieses Verhältnis beruht auf Gegenseitigkeit. Deswegen sind das, was ich hier Fehler nenne, auch keine Mängel, sondern Türöffner und individuelle Kennzeichen. Und so geht dir das Gestichel deiner Mitschüler nahe, weil sie genau wissen, damit einen wunden Punkt zu treffen; könntest du darüber lachen, wäre es einfacher. Ist das nicht ein erstrebenswertes Ziel? Du bist du selbst. Wenn du das nur so fühlst, solange du perfekt bist, geht es dir nicht gut. Das hast du klar erkannt. Es gibt immer Leute, die Negatives über uns denken. Wer aber mit sich im Reinen ist, mit sich zufrieden - und so sage ich dir jetzt, dass du das wirklich immer sein kannst -, der wird darüber nicht viel nachdenken. Der Erfolg dem Wesen nach, und die guten Gefühle, die wir verursachen, sind wichtiger.

Du hast es richtig erkannt: Niemand ist perfekt, aber jeder ist einzigartig. Wenn jeder einzigartig ist, dann gibt es keine Fehler, die man eigentlich so nennen könnte. Denn was dem Einen fehlt, hat der Andere, und was diesen stört, würde der Erste gern haben. Ähnlich ist es mit Noten: Was du für eine schlechte Note halten würdest, würde jemand Anderen glücklich machen. Hinzu kommt auch die Meinung des Lehrers, die hin und wieder einfach subjektiv ist; das lässt sich kaum vermeiden. In der Mathematik gibt es zwar eine klare Definition von richtig und falsch, aber auch nur, weil sie nicht innovativ gedacht ist. Man kennt sie oder nicht, man braucht sie zu glauben oder nicht. Was für dich Probleme aufwirft, deine guten Noten, würden Andere gern haben; das du dafür Manches opferst, kann mancher sich nicht vorstellen. Auf einige Mitschüler wirst du so wirken, als sei das perfekt vorbereitet sein und perfekte Noten bekommen, einfach deine Art. Sie fragen sich: Warum bin ich nicht wie Lukas geworden? Dabei ist es für dich keineswegs immer einfach. Aber das zu sehen, fällt schwer. Im Grunde illustriert das Für und Wider guter Noten am besten, wie es um unsere Begriffe von richtig und falsch bestellt ist: Sie sind zweckmäßig, mehr nicht. Was ich gern ablegen würde, würde der Andere gern annehmen. Was ihm gefällt, passt mir wiederum gar nicht. So ist es nicht nur mit Besitztümern, sondern auch mit den Fähigkeiten, die wir haben; mit den grundsätzlichen Umständen unseres Lebens; und schließlich mit dem, wie wir aussehen, und uns verhalten.

Wenn dir das nächste Mal ein Rechtschreibfehler begegnet, dann versuche, dich von ihm nicht geißeln zu lassen: Hat er dich einen Punkt gekostet, wenn es eine Arbeit war? Das mag ärgerlich sein - aber stell dir vor, du kannst es in späteren Jahren unter Freunden oder Familie erzählen, und darüber lachen. Es mit Humor nehmen - das klingt seltsam, aber es ist im Grunde der Schlüssel. Kleine Schussligkeiten, Patzer und Missgeschicke, Peinlichkeiten und Fauxpas, geschehen, aber nichts ist darunter, das uns als schlecht oder ungenügend abstempelt. Wenn dir bei einem Referat ein Versprecher unterläuft, mag es Einige geben, die darüber lachen. Wieder Andere applaudieren dir insgeheim: Weil es ein kleiner Lichtblick an einem Regentag war; weil du einen Wortwitz konstruiert hast; weil es erfrischend oder freundlich oder süß oder einfach menschlich wirkt - denn was da so geschehen kann, kann jedem passieren. Manchmal denken wir: "Gott sei Dank stehe ich jetzt nicht vorne!", manchmal aber auch: "Warum komme ich nie auf sowas?" Alles, das passiert, macht dich nicht fehlerhaft - es macht dich sympathisch. Dazu kommt, dass Vieles, das dich lange beschäftigt, Anderen überhaupt nicht im Gedächtnis bleibt. Jeder hat seine Prioritäten. Frage doch mal in einem konkreten Fall nach: Könntest du deinem Lehrer das Problem kurz schildern - und ihn eine Woche, oder zwei Tage, nach einer solchen Situation danach fragen? Ich garantiere dir, er wird es längst oder beinahe vergessen haben. Wenn dir das schwer fällt, dann notiere alle Gelegenheiten, die dir so einfallen, und sich noch ereignen. Wenn du das eine Weile tust, wirst du vielleicht ein Muster bemerken, und voller Stolz sagen können: "Das bin ich!" Vor allem aber machst du das, was du jetzt störend empfindest, greifbar und wertbar - und kannst es einer erfolgreichen Klausur (oder sogar deinem Zeugnis) gegenüberstellen. Dein gutes Zeugnis bekommst du nicht trotz solcher Dinge, sondern genau deswegen. Nicht das, wo du deinem Anspruch nicht genügt hast, ist dem geschuldet - sondern das, wo du es hast: Alles, was dich ausmacht, füllt deine Arbeit mit Leben. Würdest du perfekt sein - also nur funktionieren, statt zu leben und dich zu entwickeln -, dann könnte das viel weniger den Ausschlag für ein sehr gut geben. Wer auch immer dich bewertet, hätte dann das Gefühl, dass es dich nichts kostet und zu nichts führt. Aber so sieht er deine Arbeit an dir selbst genauso, wie deine Arbeit für deine Ziel.

Das habe ich jetzt alles lang ausgebreitet. Ich weiß nicht und hoffe doch, dass es verständlich war. Du musst dir immer vor Augen führen: Deine guten Noten sind dein eigener Verdienst. Was an Fehlern geschieht, sei es in Arbeiten, in Gesprächen oder auf sonstige Weise, steht dem nicht im Weg. Wer dich mag, wird dich genau deshalb gut bewerten. Wer nicht, ohnehin nicht. Das liegt dann aber an einem Denkfehler, den er macht. Denn er wünscht sich jemanden, der funktioniert. Du aber bist ein Mensch mit Ecken und Kanten; einen Menschen rundet man nicht ab - dafür will man ihn umso mehr ins Rollen setzen.

Und ebenso gilt es auch für deine Mitschüler: In anderen Fällen würde ich raten, sie zu ignorieren, weil du weißt, dass sie neidisch sind. In Wahrheit aber ist es noch schärfer. Sie ärgern eine Person, die es so gar nicht geben kann. Du bist nicht der Lukas, dem, rundum perfekt, ein Fehler passiert ist. Sondern der Lukas, der, er selbst und keiner sonst, eine gute Leistung erbracht hat. Ihre Sticheleien richten sich auf jemanden, der du nicht bist. Es sein zu wollen, wird dich nicht weiter bringen. Denn sonst müsstest du alles dafür opfern. Was sie umtreibt, ist das Gefühl, dass man dir nicht beikommen kann. Wenn sie eine Schwachstelle entdecken, nutzen sie sie aus. Du aber weißt, dass du noch immer derselbe ist. Wofür sie dich ärgern, ist keine Schwachstelle, sondern es ist der Lukas, den sie sich einbilden. Der rundum perfekte. Der tatsächlich glänzt noch immer souverän. Ihr Ärger richtet sich auf die Person, die sie in dir sehen. Obwohl sie wissen sollten, dass du immer noch derselbe bist. Was passiert, wenn jemand besser ist als du, ist kein Fehler; es ist der Lauf der Welt. Im Moment sind es Klassenarbeiten - aber es können noch größere, bewegendere Punkte folgen, wo genau das passiert. Möchtest du die Sätze, die dich dann treffen, persönlich nehmen? Oder möchtest du sehen, dass du nicht schlechter warst als immer - dass deine Fähigkeiten voll zur Geltung kamen; aber aus Gründen, die wir nicht kennen, manchmal einfach was passiert? Das sehen zu können, wünsche ich dir.

Alles Gute und liebe Grüße,

Paul