Problem von Anonym - 14 Jahre

Was ist mit mir los?

Vorwarnung: Ich habe sehr viele, teilweise auch recht detaillierte Fragen, Gedanken und Gefühle. Ich gliedere meinen Text daher in Abschnitte, um die Beantwortung zu erleichtern.

Bin ich schlecht oder verdorben? Ich benehmen mich in letzter Zeit des Öfteren undankbar, nachtragend, beratungsresistent und auch leicht unfreundlich. Meine Mitschüler und übrigen Familienmitglieder sagen, ich sei "zu jedem freundlich", "immer hilfsbereit" und würde "nie einen auslachen". Meine Eltern behaupten das genaue Gegenteil und "kommen im Moment einfach nicht mit mir klar". Ich selbst habe das Gefühl, dass ich immer versuche, "mit dem Arsch in der Sahne zu sitzen". (Verzeihen sie bitte diese Ausdrucksweise.) D.h., ich suche ausschließlich meinen Vorteil und benehmen mich oft rücksichtslos. Wem soll ich jetzt glauben? Meinen Eltern? Meinen "Freunden"? ( < Näheres dazu gleich.) Oder mir?

Sind meine Freunden überhaupt meine Freunde? Ich habe in letzter Zeit die Vermutung, dass mich meine Freunde andauernd ausnutzen. In der Gegenwart anderer Gleichaltriger ziehen sie über mich her, reißen Witze auf meine Kosten und beurteilen bzw. kritisieren mich für die kleinsten Vergehen. (So viel zum Thema "Gruppenzwang ist vermeidbar"!) Im letzten Schuljahr kam es sogar so weit, dass ich von meinen Klassenkameraden in den Papier-Müllcontainer der Schule geschmissen wurde. Wenn ich aber z.B. Schulaufgaben schon erledigt oder etwas schon verstanden habe und diese Personen bei mir abschreiben lasse, kommen wieder die dicksten Freundschaftsbekundungen ("Was würden wir nur ohne dich machen"). Bin ich zu naiv? Vertraue ich den Falschen?

Bin ich vielleicht wirklich depressiv? Momentan bin ich antriebslos und oft müde, fange schnell an, in Tränen auszubrechen, gehe nicht gerne aus dem Haus und suche auch so keine sozialen Kontakte. Außerdem denke ich SEHR oft über den Tod nach, Suizid mit inbegriffen. Manchmal denke ich, es sei alles wieder gut und lache mehr oder weniger über mich selber. Im nächsten Moment erfasst mich jedoch wieder eine bodenlose Traurigkeit und ich beginne, an mir selbst zu zweifeln. Ist das lediglich eine Phase? Verlange ich nur nach Aufmerksamkeit?

Vielen Dank im Voraus!

PaulG Anwort von PaulG

Grüße dich lieber Anonymer!

Eines Tages kam mein Vater vom Elternsprechtag heim. Er setzte sich mir gegenüber und machte ein halb ratloses, halb belustigtes Gesicht.

"Paul", sagte er, "irgendwie läuft da was falsch: In der Schule haben sie dich gelobt - ich weiß mir manchmal nicht zu helfen, was dich betrifft."

Also - so oder ähnlich hat er das gesagt. Ist es so, dass du verschiedene Ansprüche hast? Natürlich, man liebt seine Eltern - aber sie können einen auch nicht einfach so schneiden; man ist nun mal ihr Kind. Wenn ein Mitschüler dagegen von dir enttäuscht ist, lässt er dich womöglich links liegen. Deine Eltern hast du dir nicht ausgesucht; deine Freunde wählst du selber. So kann es hin und wieder kommen, dass man sogar die engste Familie schlecht behandelt. Die Hemmung ist einfach geringer - und ohne zu vergessen, wie gern man sie hat, ist man doch umso rücksichtsloser; ist leichter verletzt. Einem Freund vertraut man, weil er Geheimnisse für sich behält, die ihm erzählt wurden; Eltern wissen das Geheimste über uns, ohne dass wir es entschieden haben - oft, ohne dass wir es wissen. Eines Freundes will man sich möglichst immer sicher sein. Mit Eltern lässt sich auch mal streiten, ohne das Schlimmste befürchten zu müssen.

Ich sage keinesfalls, dass es bei dir so ist. Ich möchte dir vermitteln, dass es kein Widerspruch ist, von manchen als lieb und freundlich, und von Anderen als unausstehlich bezeichnet zu werden - obwohl Letzteres gerade die eigentlich wichtigsten Menschen sind: die Familie.

Ja, es mag sein, dass du dich ausnutzen lässt! Denn wer dich beleidigt, ohne einen Grund zu haben; wer dich verletzt und schlecht über dich redet, der kann nicht dein Freund sein. So grundsätzlich. In der Schule wird viel Mist geredet, und Vieles lässt sich als Stichelei und böser Witz abtun. Manches aber auch nicht. Spür in dir nach: Wer dich so verletzt hat, dass es dir nachgeht - und das ohne wirklichen Grund -, der hat eben keinen Anspruch auf deine Hausaufgaben. Diese Stärke solltest du entwickeln, denn: Sie wissen ganz genau, dass du wichtig bist. Zum Beispiel fürs Abschreiben. Du hast den Vorteil auf deiner Seite, wegen dem sie zu dir kommen. Aber wo immer es möglich ist, mach ihnen klar: Sie können nicht haben, was sie wollen - und dabei gleichzeitig sagen, was sie wollen. Sie kommen schon wieder, da kannst du sicher sein. Wo du nicht allein eine Lösung findest, solltest du es einem Lehrer sagen. Das kann schwer fallen - aber hier und da ist es besser, sie kriegen eine klare Ansage und sind wütend, aber lassen dich in Ruhe. Du wirst schon wieder gebraucht - sie kommen ohne dich nicht klar. Was sie merken müssen, ist, dass du auch von ihnen was erwarten darfst.

Depression hat viele Arten, sich zu äußeren. Es ist möglich, dass es bei dir so ist. Aber das Gegenmittel hast du selbst schon begriffen: Du musst nach draußen gehen, was Neues sehen. Ob du einen Gewaltmarsch machst, ob du in eurer Familie alle Einkäufe auf dich nimmst, ob du einfach irgendwohin fährst, wo du noch nie warst: Ablenkung ist alles! Wo Menschen sind, diese Orte musst du suchen. Die Sonne spüren und den Wind; die Bilder abdrängen, die dich täglich zuhause umgeben. Je länger du dich verschließt, desto schwerer wird es dir fallen, damit aufzuhören. Die Depression - ich will dich nicht erschrecken -, die Depression ist wie eine Pflanze, die sich immer tiefer eingräbt und immer weiter wächst, je mehr wir sie zulassen; je mehr du ihr erlaubst, sich auszubreiten, desto größer wird sie. Sich zurückzuziehen, so hart das ist, ist keine Lösung. Ich vertraue dir, dass du aus deinem Tief kommst! Du musst keine Angst haben, dass es gefährlich ist; manchmal kommt sowas vor. Ich weiß mit Sicherheit, dass du nicht egoistisch oder gemein bist, oder was auch immer; lass es dir nicht einreden! Viele Menschen lernen früh, etwas nicht zu können, etwas nicht zu verdienen; das heißt noch lange nicht, dass es so ist - sie haben einfach nicht die Chance bekommen. Und irgendwann fangen sie an, diese Chance von sich zu weisen. Auch dann noch, wenn sie offen vor ihnen liegt. Du hast nichts falsch gemacht. Lass dir keine Undankbarkeit und Rücksichtslosigkeit unterstellen. Greif zu, denn dir entgeht etwas!

Deine Eltern wollen dir gewiss nicht böse. Jedoch, hin und wieder merken auch Eltern nicht, was sie ihren Kindern antun. Du entwickelst dich, es ist eine schwierige Zeit, das müssen auch sie einsehen. Tun sie sicher auch. Nur, dass es für sie schwierig ist, das anzuerkennen; und ihre unguten Erinnerungen, ihre Ängste dich betreffend, ihre unerfüllten Wünsche und gleichzeitig das, was sie miteinander und mit Anderen beschäftigt: All solches wird oft, bewusst oder unbewusst, auf deinem Rücken ausgetragen. Allein wie du dich äußerst, zeigt mit, dass der Vorwurf nicht gerechtfertigt ist; die Situation wird sich ändern, glaub mir.

Suizid ist niemals eine Lösung, und ich möchte dich bitten, es nicht zu versuchen. Wofür die Welt dich noch braucht, wo du fehlen würdest, lässt sich kaum ermessen; es ist sehr, sehr viel, was du der Welt noch zu geben hast. Halte dich aufrecht, denn du hast es verdient; und wo es nicht geht, da gesteh dir zu, auch mal schwach zu sein! Denn wir alle haben unsere Höhen und Tiefen, unsere Ecken und Kanten, niemand ist davor gefeit. Und wollen wir das eigentlich sein? Wohl kaum. Wir wollen akzeptiert sein als das, was wir sind. Dies gelingt am ehesten, wenn wir lernen, uns selber zu akzeptieren. In deinem Fall versichere ich dir: Du bist gut, wie du bist! Lass dir nicht das Gegenteil einreden! Es gibt keinen Fehler, den du ausbügeln musst; es gibt ungünstige Umstände, aber die lassen sich beseitigen und überwinden. Dafür wünsche ich dir viel Glück und Kraft.

Liebe Grüße,

Paul