Problem von Lilli - 15 Jahre

Das Leben

Lieber Kummerkasten,
es wäre schön, wenn PaulG oder Bernd mein Problem beantworten könnten, da ich ihre Art sehr schätze. :)
Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll. Deswegen falle ich jetzt einfach mal mit der Tür ins Haus:
Ich habe Angst vor dem Alter. Vor dem Tod nicht unbedingt, sondern eher vor dem Sterben. Und vor dem Vergessen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mich irgenwann nicht mehr gibt, und dass sich niemand mehr an mich erinnern wird. Ja, meine Kinder und Enkelkinder, aber danach...
Wenn ich nachts wachliege und meinen Gedanken nachgehe, stelle ich mir das ungefähr so vor:
Irgenwann geht es körperlich immer mehr den Bach runter. Womöglich bekommst du eine Alzheimer-Diagnose, was das Schlimmste für mich wäre. Nicht mehr im Besitz meiner gesitigen Kräfte zu sein... Schauderhaft. Aber diese Möglichkeit lassen wir jetzt einmal außen vor.
Also: es geht dir immer schlechter. Du liegst im Bett, und fühlst dich müde. Bist verwirrt. Deine Eltern sind tot, vielleicht deine Geschwister. Dein Partner. Viele Freunde. Du verstehst das moderne Leben nicht mehr. Wieso jetzt also nicht für immer einschlafen?
Schon beim Schreiben spüre ich einen großen Knoten in meinem Bauch. Ich weiß nicht wieso, denn wenn es so ist, wie ich es mir vorstelle, hat man, wenn man im Sterben liegt, die Lebenslust sowieso schon verloren. Aber vielleicht ist das für mich gerade das Schreckliche: Sterben zu wollen.
Noch ein anderes Problem, das mit diesem verknüpft ist: Viele ältere Leute sagen, dass sie ihr Leben nicht richtig genutzt haben. Es geht alles so schnell. Und wir sollen froh sein, dass wir das Leben noch vor uns haben und blablabla.
Ja, ich habe Glück. Mein Leben liegt noch vor mir. Die Zeit geht schnell vorum. Man sollte sie jederzeit genießen. Und das ist mein Problem: ich denke mir, scheiße, die Zeit geht so schnell rum. Kann man sie nicht mal kurz anhalten, damit ich mal Ruhe habe?
Ich probiere, die Zeit zu genießen. Ich MUSS sie genießen. Wir haben das Jahr 2014, und sobald man sich an das Jahr gewöhnt hat, ist es auch schon wieder herum. Wenn das in diesem Tempo weitergeht... Ich will also die Zeit genießen, sie festhalten, und spüre, wie sie mir zwischen den Fingern zerrinnt.
Dann lache ich manchmal über mich selbst. Lilli, jetzt mach mal halblang, du bist 15! Du tust, als wärst du 65! Du sagst, dein Leben rennt dir fort, dabei hat dein Leben noch gar nicht mal richtig angefagen! Du sagst, die Zeit jagt dich, du musst sie intensiv nutzen, sei froh, dass du es in diesem Alter schon begriffen hast. Viele Leute begreifen das viel zu spät.
Stimmt, sagt die andere Lilli. Aber ich habe Angst, dass ich das Leben vor lauter Genießem nicht genieße. Es ist ein schöner Moment, und ich versuche verzweifelt, ihn zu genießen, genau aufzunehmen, ihn nicht vergessen.
Wenn ich mit meiner Familie zusammensitze, denke ich mir immer, wie schön dass doch ist. Wenn ich älter bin, wir alle auseinander gehen, vielleicht auch schon welche gestorben sind... Ich werde immer daran zurück denken, und denken, wie gut ich es doch hatte. Und jetzt ist es noch so. Manchmal komme ich mir schon so vor, als wäre ich wirklich schon im Herbst meines Lebens, und denke an meine Jugend zurück :D Und bin dann überrascht, dass ich das alles noch erlebe und vor mir habe.

Jetzt noch mal zurück zu meinem Alzheimer-Problem. Allgemein zur Schusseligkeit im Alter. Es ist oft so, dass der Verstand nachlässt und man etwas merkwürdig wird. Und dann seinen Nachkommen zur Last fällt. Vielleicht werden meine Kinder sagen: "Das ist Oma Lilli. Früher war sie eine aufgeweckte und gewitzte Frau. Jetzt hat sie nachgelassen, dass macht das Alter. Sie versteht nicht mehr so viel und ist manchmal etwas störrisch. Habt bitte Nachsicht mir ihr"
Ich will nicht so in Erinnerung bleiben, als jemand, der ständig auf die Hilfe von anderen angewiesen ist. Also das ist jetzt nicht schlimm, aber ich will meine Würde, vor allem meinen Verstand bewahren. Obwohl, wenn ich meinen Verstand nicht hätte, dann würde ich jetzt nicht über diese "Probleme" nachdenken. Und anscheinend kann es auch nicht viel Verstand sein, sonst würde ich meine Gedanken intelligenteren Themen widmen :D

Noch zu meiner Person, nicht dass ihr jetzt denkt, ich hätte Depressionen oder so. Ich bin ganz normal, okay, realtiv normal :D und durchaus ein fröhlicher Mensch. Diese Gedanken kommen mir oft nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Morgens sieht die Welt schon ganz anders aus :D
Es hilft mir, wenn ich mit jemanden darüber rede. Ich habe mit meinem Vater schon mal über das Leben und den Tod und den Sinn philosophiert, und das war sehr schön und auch lustig.
Aber manchmal packen mich die "schlimmen Gedanken", wie sie nenne, eben doch wieder...
Insofern hat es mir schon geholfen, den Text hier zu schreiben. Ich überlege gerade, ob ich ihn trotzdem noch abschicken soll. Weil es irgendwie auch albern ist. Und merkwürdig. Aber ich glaube schon (; Wenn ich mir schon einmal die Mühe gemacht habe, es alles niederzuschreiben, by the way, tut mir Leid, dass es so lang geworden ist... ://
Liebe Grüße
Lilli

PaulG Anwort von PaulG

Grüße dich Lilli!

Tja, das Alter... ich habe mittlerweile mein Abitur und werde zwanzig. Ich kann dir sagen, das ist ein komisches Gefühl.

So viele Jahre haben wir uns auf den Sommer gefreut, weil dann die großen Ferien kamen. Und wenn der Sommer sich dem Ende zuneigte, dann waren wir traurig bis end-sauer, weil die Schule wieder anfing. Irgendwann - meistens ziemlich schnell -, war es dann so, als wären nie Ferien gewesen. Aber die Schule war wieder zur Gewohnheit geworden.

Ja, Gewohnheit, Stabilität, Rhythmus - das sind vielleicht die entscheidenden Begriffe. Mit dem Wort "Schule" ist die Idee verbunden: Ihr habt noch Zeit, noch fängt das eigentliche Leben nicht an. Jetzt ist für mich diese Zeit rum. Es vergehen keine Schuljahre mehr, nur das Leben vergeht noch. Das war erstmal ein Schock für mich. Ich bin sehr dankbar und froh über mein bisheriges Leben, und ich würde es nicht anders haben wollen. Aber trotzdem frage auch ich mich häufig: Wo geht das eigentlich noch hin?

Verstand hast du, und zwar einen mächtig großen. Das Thema, das dich beschäftigt, ist ein sehr intelligentes Thema. Ein uraltes und sehr schwieriges. Seit es Menschen auf der Welt gibt, haben sie sich über den Tod den Kopf zerbrochen. Über das Alter, das Sterben. Über das, was von ihnen zurückbleibt. Dass wir einmal vergehen, zumindest das, was sichtbar ist, macht ja Sinn: Es folgen neue Generationen, für die sonst kein Platz wäre. Unsere Körper sind nun einmal vergänglich, so ist die Natur, und neue, starke junge Menschen und frische Ideen sollen zu ihrem Recht kommen. Das ist gut so, aber trotzdem haben wir Angst vor dem Ende. Davor, alt und kantig zu werden, was uns allen irgendwann bevorsteht.

Die Menschheit hat eine Antwort auf die Frage "Was bleibt von mir?" gefunden. Und die lautet Kultur. Ob es die Pyramiden waren, wortgewaltige Romane oder das legendäre Coco Nr. 5: Immer schon haben wir uns bemüht, etwas zu hinterlassen, aus dem die kommenden Menschen Kraft schöpfen; das sie an uns erinnert, mit dem sie sich identifizieren, das ihnen hilft und sie dazu bewegt, uns zu mögen. Denn das ist es letztendlich. Viele Leute sind auf diese Weise schon - sehr zu Recht - unsterblich geworden. Vielleicht hat die Kürze des Lebens auch diesen Sinn: Dass alle sich bemühen, etwas aus sich zu machen. Zwar haben viele das nicht geschafft oder wurden daran gehindert, oder wurden sogar zu Verbrechern und Diktatoren: Aber wer schuldlos aus dem Leben geht, an den wird man sich gern erinnern. Und wenn es das Böse nicht gäbe, wie würden wir dann das Gute erkennen? Würden wir überhaupt genießen, hätten wir keinen Vergleich: Das ist schön, das nicht?

Wenn ich mir eines wünsche, dann, dass der Tod mich eines Tages überrascht. Ich will alles leben. Ich will mich bemühen, alles zu erreichen, das ich mir wünsche, mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Kraft. Und wenn mich das Leben verliert, eines Tages, wenn ich noch lange nicht am Ziel bin, aber zu beschäftigt, um ans Sterben zu denken: Dann fände ich das schön. Nachdenken, was der Tod ist, kann ich auch, nachdem ich gestorben bin. So helfe ich mir im Augenblick.

Das ist auch eine wichtige Frage: Was kommt nach dem Sterben? Was ist der Tod? Nun, wie viele Menschen haben im Lauf der Geschichte schon die Hände gerungen, und verzweifelt geseufzt: Ich weiß es nicht, niemand wird es je wissen! Wenn etwas folgt, wissen es nur die, die diesen Weg schon gegangen sind. Das größte Geheimnis unserer Existenz, das seltsame Ding, das sich Bewusstsein, Persönlichkeit, Seele nennt; das undefinierbare, nicht abzugrenzende und doch spürbare, das uns von den Tieren unterscheidet... dieses Geheimnis wird, so hoffe ich, für immer eines bleiben. Was Tiere so sympathisch macht, ist unter Anderem, das sie ehrlich sind. Kein Tier ist böse, jedes folgt nur seinen Anlagen. Kein Tier wird von sich aus gefährlich oder boshaft, weil seine Anlagen es nicht zulassen. So wird es immer erst durch die Menschen, die es dazu bringen. Wir Menschen sind geteilt in ein Hell und ein Dunkel, und jeder Mensch sollte sich das Ziel setzen, die Dunkelheit in der Welt zu bekämpfen. Aus seinen Fähigkeiten das Beste zu machen. Was ist dein Ziel? Was es auch ist, kämpf immer dafür, unermüdlich. Wer reinen Gewissens zu leben versucht, der muss auch im nächsten Leben nichts fürchten. Wie das aussieht, ist eine Frage, der sich unzählige Religionen widmen. Es ist nur klar, dass es verschiedene Religionen gibt, denn auch wir Menschen sind ja verschieden, tragen Streit aus und wollen Macht und Nachruhm - auch ohne die Religion. Ob Jesus, Buddha, Mohammed, Zarathustra und all die Anderen, im Grunde auch nur Menschen waren, die den Tod fürchteten und sich danach sehnten, nicht vergessen zu werden: Das ist offen. Die Religionen waren eine Folge des ewigen Neids, aber auch der ewigen Liebe und Hoffnung. Und so wie sie viel Leid über die Welt gebracht haben, so haben sie auch, jede einzelne, sehr viel Gutes bewirkt: Sie haben mutige Männer und Frauen dazu gebracht, ohne Angst die Wahrheit über blutige Diktaturen zu sagen. Sie haben Unzähligen, die schuldlos krank wurden, das Sterben erleichtert. Sie haben dafür gesorgt, dass begabte Kinder zu Gelehrten und Entdeckern wurden. Dass Bedürftige Essen und Kleidung bekamen. Und, und, und. Religionen sind weder gut noch böse, Religionen - in ihrer Vielzahl, und in ihrem Wirken - sind ganz und gar menschlich. Und alles, was Mensch ist, strebt nach Ewigkeit. So klingt es für mich logisch. Ich bin nur ein Mensch, ich muss nicht Recht haben. Mag sein, Gott lässt sich nicht in die Karten gucken - aber nicht mal das ist sicher. Wir denken nach, weil wir immer wieder eine Idee brauchen, mit der wir leben können. Sie wechseln, sie müssen nicht stimmen - aber hilfreich sind sie.

Jetzt ganz konkret zu dem Alzheimer: Auch das können wir nicht voraussehen. Ich würde behaupten, man kann schon viel dagegen tun, wenn man sich geistig rege hält - so wie du es ja gerade tust. Wenn man sich empört, wenn man grübelt was das Zeug hält, wenn man seine Gedanken aufschreibt. Denn Lilli, das ist das Leben! Sieh dir noch einmal den Text an, den du uns geschrieben hast, und in dem viele sehr gute und für dein Alter äußerst reife Gedanken stehen. Lies ihn und lass zu, dass du erschauderst: Das habe ich gelebt!, sollte dein Gedanke sein. Ich habe diesen Kelch bis zur Neige ausgetrunken. Und in einem Jahr oder in zehn, denkst du vielleicht daran. Dass du dich gemeinsam mit mir über Gott und die Welt verbreitet hast. Du hast es gelebt, du hast das Mensch-Sein mit beiden Händen ergriffen, hast es geschmeckt und gespürt: Die drängenden Fragen in dir, auch der große Knoten, vielleicht die Verwunderung oder die Skepsis, wenn du meine Antwort liest - all das ist Leben, ist Mensch-Sein. Du hast es getan, du tust es, wann immer du das liest. Darauf darfst du sehr stolz sein.

Geh dein Leben durch und frage dich: Was habe ich erlebt, das außer mir niemand erlebt hat? Was ist mir besonders in Erinnerung, bis jetzt? Was will ich noch? Für was von dem, das bis jetzt geschehen ist, bin ich besonders dankbar? Ich bin sicher, du wirst zu allem etwas finden. Das ist, finde ich, das Wichtige: Wenn du immer und überall verzweifelt probierst, ein Erlebnis auszukosten, klappt es nicht. Versuche, weniger zu planen und lass die Dinge passieren. Habe nicht einen bestimmten Anspruch, sondern vertrau darauf, dass, wenn du deine Zeit ausfüllst, die guten Gefühle und Erinnerungen kommen. Wertschätzung klappt am besten, wenn man sich ganz einlässt, und später eine Bilanz zieht.

Für die nächste Zeit heißt das: Zieh die Schuhe aus, spring in eine nasse Wiese, bevor es richtig hell ist. So lange, bis deine Füße ganz kalt sind. Dann renne in den Sommermorgen, bis dein Herz klopft wie verrückt. Geh ins Freibad und danke dem Leben dafür, wenn dich das Wasser umgibt. Schau dir die tanzenden Flecken auf der Oberfläche an, leg dich in den Schatten unter einen Baum. Streichel einen Hund und lehne deine Stirn an die eines Pferdes. Iss eine Riesenportion Eis, heb einen Käfer hoch und schau ihn dir an - wie früher, als Kind. Erlaube dir, Kind zu sein. Erlaube dir, verrückt zu sein. Tu das, was dir einfällt, spür die Natur, die um uns geht wie ein großes Herz. Und wenn du abends im Bett liegst, geh alles noch einmal durch: Spür das kühle Gras, die Sonne, den Schlag der Wellen. Das ist Leben. All das ist die Essenz, die das große Herz durch die Welt strömen lässt. Und wenn du einmal, in vielen Jahren, gestorben bist, dann wirst du Teil dieses Stromes. Du wirst Sonnenschein auf reifen Feldern, Wasser im Fluss, Tau auf den Gräsern, Flimmern der Hitze. Lilli, das ist das Leben - greif zu, jetzt! Und wenn du diese Freude ganz spürst, dann wird sie dir immer erhalten bleiben. Selbst, wenn eines Tages deine Gedanken an Tiefe verlieren, wirst du immer noch den großen Herzschlag spüren, wenn dich ein Sonnenstrahl trifft oder das Wasser schillert. Das ist ewig, und du wirst einmal Teil davon sein. Ob wir es spüren und wissen, wenn es soweit ist, das wissen wir nicht - allein schon, weil es nicht vorstellbar ist. Aber dass wir nicht verloren gehen, das ist sicher. Wir werden Tropfen im Haar eines Liebespaares, das sich im Regen küsst. Wir werden Wellen, in die ein kleines Kind zum ersten Mal springt und vor Freude aufschreit. Wir werden ewig leben. Die Frage, wo unser Bewusstsein hingeht, unser Denken, die können wir offen lassen - dieses Geheimnis zu ergründen, steht noch aus. Nicht umsonst wird es so sein, denn wir sollen ja das Leben leben und nicht vorbeiziehen lassen.

Wer sagt, er habe sein Leben nicht richtig genutzt, der hat möglicherweise auch die falschen Maßstäbe. Kannst du dich an einer Blume erfreuen, die am Wegrand steht - oder brauchst du den Eiffelturm? So hat ein guter Freund es mir erklärt, der viel in der Welt umher gekommen ist. Man sollte versuchen, das Naheliegende zu achten. Das Kleine, das sich von selbst ergibt. Ich habe einige Städte in meinem Leben gesehen, auch einige sehr große. Aber was ist mir besonders in Erinnerung? Wenn ich an Paris denke, denke ich nicht nur an die großen Bauten. Ich denke daran, wie es war, auf die Straße zu treten, und von dem Bunten geblendet zu sein. Die Fische und Hummer auf dem Markt, einen Wasserspeier vor dem Himmel, das Rauschen der Großstadt, als ich nachts das Fenster öffnete. Diese Bilder sind wunderschön und, hoffe ich, unauslöschbar. Dafür möchte ich dem Leben danken.

Was sind deine Ziele? Hast du einen Wunschberuf? Wenn ja, klasse! Falls nicht: Mach nicht den Fehler, unbedingt ein Ziel haben zu wollen. Sei dir immer bewusst, dass das Leben auch einfach so schön sein kann. Man muss nicht immer etwas vorhaben. Man darf auch Dinge einfach geschehen lassen. Und wie sieht es privat aus? Möchtest du mal eine Familie haben? Wenn ja, dann mach dir niemals Druck deswegen. Lass dich finden von deinem Traumprinzen, und erinner dich immer wieder daran, wie ihr euch kennen gelernt habt. Wie es war, als dein Kind zum ersten Mal in deinem Arm lag. Das alles sind Erlebnisse und Bilder, die mit ihrem besonderen Gefühl und ihren besonderen Details, ganz allein dir gehören. Und gleichzeitig bist du Teil eines großen Ganzen, das keine Erklärung braucht, weil es einfach zu schön ist.

Wie wird es mit uns sein, wenn wir alt sind? Ob wir dann Pflege brauchen? Ob man uns mitleidig belächelt? Du hast von verschiedenen Gefühlen geschrieben: Der Machtlosigkeit, ein alter, kaum flexibler Mensch zu sein; der Sehnsucht nach dem Tod, weil alles, das wir geliebt haben, fort ist; und der Haltung der (dann) Jüngeren, wenn wir alt sind, von wegen "Ach, könnten wir den Klotz abschütteln!" (Was so ziemlich die frechste Gemeinheit überhaupt ist, so eine Haltung zu haben). Wir können noch nicht wissen, wie es dann ist. Aber Tatsache ist, dass wir im Leben verschiedene Phasen durchlaufen. Am Anfang sind wir Kinder, und wenn wir Glück haben, in gute Umstände geboren zu werden, ist erstmal alles schön. Dann kommt die Pubertät, und mit ihr viel Schönes, aber auch Schmerzhaftes: Zweifel, Ängste, Enttäuschungen. Dann werden wir erwachsen, nehmen unser Leben in die Hand. Für dich und mich ist alles möglich, wir können noch die Welt retten. Wahrscheinlich schafft man das im Ganzen nie. Aber es gehört zu unserer Zeit im Leben, diesen Wunsch zu haben; diejenigen, die ihm nachgehen, haben die Menschheit vorangebracht. Du, Lilli: Ich möchte gerne mit dir die Welt retten. Wie sieht es aus, bist du dabei? In einigen Jahren, wenn wir zur Ruhe kommen, sind wir immer noch engagiert, aber sehen die Welt anders. Und so verändert es sich bis ganz zum Schluss. Je nach dem, wie wir leben, kann das Gefühl immer ein gutes sein. Und wenn es irgendwann so weit ist - hoffentlich noch lange hin -, dann kommen wir gerne an dieses Ende. Im Moment ist es nicht vorstellbar - aber ich bin sicher, es ist zu schaffen, dass man am Ende des Lebens dankt und ohne Angst, aber auch ohne Bitterkeit geht.

Dies alles sind meine Gedanken - ob sie für dich gut sind, weiß ich nicht. Aber es war mir ein Bedürfnis, all das aufzuschreiben - auch wenn es, sogar für meine Begriffe, lang geworden ist. Es durfte nicht weniger stehen. Das Gedicht, das ich eigentlich am Ende einfügen wollte, verlinke ich dir deshalb. Nimm es mir bitte nicht übel, dass es ausgerechnet eine Gedenkseite ist - wir nehmen selbstverständlich Anteil, und ich fand es so schön präsentiert:

http://www.gedenkseiten.de/nana-staecker/kondolenzbuch/1402/

"Einst" von Lulu von Strauß und Torney (ein klasse Name, oder :) ?)

...WOBEI (Nachtrag) die Frau ihre Dichtung - so schön sie ist - nicht nur zum Guten eingesetzt hat. Dass ihr, nicht unwillkommen, die Verehrung der Nazis galt, und sie als Verfasserin entsprechender Texte im Gespräch ist - das erfahre ich erst heute. Ich bitte dich sehr, mir das nachzusehen. Recht haben ihre Zeilen; denn Menschen sind wir alle, auch wenn manche ihr Leben und ihre Fähigkeit nicht bloß gut verwenden, wie wir wissen.

Im Ernst: Es ist mir unangenehm. Ich wusste einfach nichts über das zweite Gesicht der Dichterin. Ob man es mir jetzt übel nimmt oder nicht - und, liebe Lilli, ich hoffe wirklich, du kannst mir verzeihen -, ich ärgere mich, das verzapft zu haben. Ich lasse es stehen aus zwei Gründen: Erstens, weil ich dem Gedicht (inhaltlich und als einzelnem) zustimme. Und zweitens, weil es in der Seite nach dem Link eine Widmung hat, die einfach traurig ist. Und die ich nicht in Zweifel ziehen möchte. Lassen wir aber doch noch unseren geschätzen Hermann Hesse zu Wort kommen:

http://www.hhesse.de/gedichte.php?load=stufen

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul