Problem von Anonym - 18 Jahre

Sex = wichtig?

Hallo liebes Team,

ich habe ein Problem mit mir selbst - oder sagen wir so: die Gesellschaft sieht es vielleicht als "Problem" an, ich jedoch nicht.
Es geht darum, dass Sex meiner Meinung nach überbewertet wird. Besonders in meinem Alter reden natürlich viele darüber, rühmen sich damit und sehen es als das Wichtigste in einer Beziehung an. Ich finde dieses Denken ekelhaft (nicht die Sache an sich, sondern, dass sich die Gesellschaft so entwickelt hat).

Da ich jedoch wahrscheinlich zu der absoluten Minderheit gehöre, die denkt, dass Sex nur eine sehr minderwertige Rolle im Leben eines Menschen spielt, frage ich mich, ob das denn normal ist, wie ich denke? Bin ich jetzt prüde oder altmodisch?

Denn wenn ich in meinem Bekanntenkreis mitbekomme, dass andere nach zwei Wochen mit Menschen ins Bett springen, die sie nicht mal ansatzweise kennen - geschweige denn lieben können - kann ich einfach nicht nachvollziehen, wie man so sein kann.
Wieso ist das manchen Menschen so unwichtig?
Wieso können Leute zu One Night Stands bereit sein? Mit einem Menschen so etwas Intimes tun und ihn danach wahrscheinlich nie wieder sehen? Ist es nicht so, dass man sich sicher sein sollte, mit diesem Menschen - theoretisch - sein ganzes Leben verbringen zu wollen?
Ich finde es ja auch okay, nicht nur einen, sondern mehrere Sexpartner in seinem Leben gehabt zu haben, aber die meisten 16-Jährigen heutzutage können sie nicht einmal mehr an ihren Fingern abzählen.

Bin ich einfach noch nicht so reif wie andere? Oder bin ich so anders? Denkt ihr, dass sich meine Meinung diesbezüglich irgendwann noch ändern könnte?

Ich kann nachvollziehen, dass man vielleicht nicht ganz herauslesen kann, was mein eigentliches Problem ist, bin aber trotzdem dankbar für jede Antwort!

Liebe Grüße

PaulG Anwort von PaulG

Grüße dich liebe Anonyme!

Ich vermute mal, es gibt solche und solche. Wie es dir geht, meine ich zu verstehen: Dass es so aussieht, als sei niemand mehr an was Ernsthaftem interessiert. Überall dreht sich alles nur um das Eine; ein Mädchen, die mit 13 noch keinen Freund vorweisen kann, wird als Mauerblümchen abgestempelt, und es gibt viele, die mit sechzehn Jahren nichts Wichtigeres kennen, als Sex. Trotzdem bin ich sicher, dass es auch viele Leute gibt, denen eine feste Beziehung und Liebe sehr wichtig sind.

Wenn ich mir besonders die Jüngeren so anhöre, scheint mir oft, sie wissen gar nicht, was Beziehung eigentlich heißt. Für sie ist, einen "Freund" oder "Freundin" zu haben, etwas, das man unbedingt machen muss - die Gefühle, die dazu gehören, können sie oft nicht richtig einschätzen. Es gibt zwar viele, die in diesem Alter wirklich echte Liebe empfinden, aber leider geraten diese oft an die Falschen. Später wird "Beziehung" dann zu der Bedingung, die man erfüllen muss, um mit jemand schlafen zu dürfen - in sich bedeutet sie den Leuten nichts Großes. Speziell bei uns Jungs ist es wohl so, dass die Befriedigung des Triebs für die meisten im Vordergrund steht. Das kann die Omnipräsenz von Sex in Zeitung, Fernsehen, Internet, allein nicht begründen; auch nicht, dass Männer "halt so sind" (wären!). Es liegt, glaube ich, auch an der Schwierigkeit, die viele mit der Liebe überhaupt haben.

Ich selbst bin jemand, dem Beziehung und Liebe sehr wichtig sind. So versuche ich es auch über den Kummerkasten mitzuteilen: Gefühle kommen zuerst. Und es gibt den Zeitpunkt nicht, wo man "Sex gehabt haben sollte" - das dauert genau so lange, bis man den oder die Richtige gefunden hat. Diese Denkweise teilen nicht alle - sie ist bestimmt auch nicht die einzig vernünftige, allein schon deshalb nicht, weil es anders auch funktionieren kann.

Die Jungs, die ich so kenne, haben ganz unterschiedliche Vorstellungen von Beziehung. Manche gibt es, die sich das gar nicht vorstellen können - denen die Liebe (traurig genug!) bis jetzt fremd geblieben ist. Dafür legen sie umso mehr Gewicht auf Sex. Andere sind gegen Sex ohne Liebe, und warten auf die Richtige - was ihnen auch nicht immer zum Guten gereicht, was ihr Wohlbefinden und Selbstbewusstsein angeht. Wieder andere Jungs sagen, die Frau fürs Leben komme schon irgendwann - vorerst ist Sex angesagt, also One Night Stands (vermute ich). Für sie gibt es Mädchen fürs Bett, und eine für die Liebe - irgendwann.

Ich muss dir sagen, dass ich persönlich diese Haltung inkonsequent finde. Ich akzeptiere sie und gebe zu, dass es kein Problem ist, man damit gut auskommt. Aber: Sie täuschen sich die ganze Zeit darüber, dass nicht jedes Mädchen nur bis zum nächsten Morgen denkt. Viele wünschen sich insgeheim mehr, wenn sie jemanden kennen lernen - und erhoffen sich vielleicht, durch Sex bei ihm Gefühle wecken zu können. Dass sie diese Mädchen, die alle sehr liebenswert sind, bitter enttäuschen, interessiert viele Jungs gar nicht. Natürlich gibt es Mädels, die auch stark an Sex interessiert sind. Aber ich glaube, es bildet keinen Widerspruch, Lust auf einen Mann zu haben, möglicherweise einen bestimmten, und damit auch "in seinem Gesichtskreis bleiben" zu wollen. Männer, die eine feste Beziehung auf später verschieben, und dennoch ihren Spaß haben (wenn nötig, auf Kosten Anderer), gibt es leider viele. Das ist heute eben möglich - früher hat man mit sechzehn geheiratet :) Du siehst, es ist also nicht nur ein Nachteil, dass wir heute so frei damit umgehen. Es bleibt auch Zeit, den Wunschpartner zu finden, und die Möglichkeit, Fehltritte zu tun - ohne dass man lebenslang an jemanden gebunden ist. Darüber hinaus sind wir weitgehend aufgeklärt - immerhin viel mehr als noch vor einigen Jahrzehnten -, und die Akzeptanz von Homosexualität und Anderem nimmt immer mehr zu. Das sind doch sehr gute Dinge, oder?

Warum hat mancher so ein Problem mit der Liebe? Warum ist Sex so oft wichtiger? Ich könnte mir vorstellen, dass sie über lauter Bedürfnis nach Sex vergessen, dass noch andere Dinge im Leben wichtig sind. Eine Beziehung ergibt sich schon, wenn man authentisch ist und fest im Leben steht, seine Probleme zu lösen, und sich zu entwickeln sucht; mit Sex ist es was Anderes. Man kann nur einen bestimmten Menschen lieben - in diesem Moment ist es egal, wie er aussieht und denkt. Liebe relativiert alle Kleinigkeiten, die nicht ganz perfekt sind. Solange man jedoch nicht liebt, ist man permanent dem Drang unterworfen, zu gefallen, und zu beweisen, dass man wer ist. Wie ziehe ich mich an, welches Deo / Parfüm verwende ich, wie trage ich meine Haare, wie schaffe ich es überhaupt, sexuell begehrt zu werden und jemanden zu befriedigen...? In einer Beziehung ist es leichter möglich, diese Fragen zu klären. Aber dahin muss man erstmal kommen. Bis dahin suchen die Leute immer wieder nach dem Beweis, dass sie genügen, und in dieser "versexten" Gesellschaft noch nicht zum alten Eisen gehören. Ein One Night Stand geht vorbei, vielleicht war man sogar betrunken, und weiß nicht, ob es peinlich war - die Sache an sich zählt, nicht das davor und danach. Wenn aber am nächsten Morgen der Partner oder Partnerin neben einem aufwacht, muss man Rede und Antwort stehen - und wird vielleicht abgestraft.

Verstehst du, wie ich es meine? Im tiefsten Innern wissen wir alle, dass Sex alleine unseren Hunger nicht stillt. Aber er sättigt gerade genug, die eigene Unsicherheit und Furcht, was in einer Beziehung sein könnte, zu betäuben. Denn Beziehung heißt nicht nur, dass man an sich arbeiten muss, sondern auch, dass man vor allem für einen einzigen Menschen attraktiv sein soll. Da kommt bei manchem die Frage auf: Reicht es mir, dass nur eine Person mich begehrt? Oder brauche ich die Aufmerksamkeit von vielen, die Möglichkeit, zu wählen? After all, wer nach Sex sucht, schafft es aus den verschiedensten Gründen nicht, sich zu binden. Mag sein, er oder sie hat den Traumpartner noch nicht entdeckt; mag sein, sie machen sich zu sehr abhängig von dem Gedanken, sich zu beweisen; mag sein, sie wissen gar nicht recht, was Liebe ist; oder sie sind nicht an der Verpflichtung interessiert, die man gegenüber einem Partner hat: Sich zu verändern, Rücksicht zu nehmen, irgendwann Pläne für die Zukunft zu machen, vielleicht auch Kinder... das alles zählt rein. Und nachdem wir immer und überall mit Sex konfrontiert sind, und gar nicht auf den Gedanken kommen, ein Partner fürs Leben könne genug sein, fallen viele auf diese Schiene.

Konnte ich deine Frage - sofern ich sie richtig begriffen habe - vielleicht etwas beantworten? Für mich persönlich ist es so: Sex ist etwas, da geht es ums Prinzip - man möchte es einfach. Unsicher ist man, solange man niemanden an seiner Seite hat. Ich suche die Frau mit Herz und Verstand - aber eben zuvorderst nach diesen Dingen, in einem Wort, nach der Liebe. Alles Andere kann folgen, doch eigentliche Zufriedenheit verschafft nur, geliebt zu werden - und selber zu lieben.

Nicht jeder ist der Typ, treu zu sein - aber dann sollte man es auch nicht darauf ankommen lassen. Besser ist doch, wer sich noch nicht bereit für eine Bindung fühlt, sucht nach One Night Stands - als dass sie Beziehungen eingehen, und sich wieder trennen, was für den Partner schmerzhaft ist? Mein Wunsch in unserer Zeit wäre es nicht, dass die One Night Stands und "unverbindlichen" Geschichten aufhören würden; das alles hat seine Berechtigung. Mir tut es mehr weh, wenn ich mitbekomme, wie Leute das Wort "Liebe" so entwürdigen, indem sie es, schnell gesagt, auch wieder vergessen. Und auf einmal ist der- oder diejenige, die man eben noch "geliebt" hat, ein Idiot. Diese Leute - meistens sind es Jungs und Männer - verdienen die Liebe einer Frau gar nicht.

Was mir noch wichtig wäre, zu sagen: Häufig wird es religiös begründet, sich für einen besonderen Menschen aufzuheben. Gezwungen werden sollte dazu keiner. Wenn einem Religion wichtig ist, ist das natürlich kein Thema. Allerdings, auch als religiöser Mensch geht man manchmal Beziehungen ein, die einfach nicht haltbar sind; demnach ist es auch kein Fehler, sich zu trennen und einen Neuanfang zu wagen. Was zählt, ist meiner Meinung nach der Wunsch, das Beziehungsbild selbst - weder steht es im Widerspruch zum Glauben, dass man mehr als einen Partner hatte, noch ist es schlimm, seine Jungfräulichkeit jemand geschenkt zu haben, der nicht für immer bei einem bleibt. Denn jede Liebe ist einzigartig, ist ein ganz neues Erleben. Und wenn man den Sex richtig wertschätzt, würde ich sagen, ist jedes Mal auf seine Art ein "erstes Mal".

Über dich meine ich, Folgendes sagen zu können: Du bist überaus reif, sicher viel reifer, als viele in unserem Alter noch sind. Was bin ich? Ich bin zumindest recht verkopft. Denke viel nach. Ob ich Recht habe, muss sich in meinem Umgang mit Menschen, jeden Tag neu erweisen. Ich würde aber meinen, bleib du nur, wie du bist: Deine Vorstellung von Beziehung ist sehr gut und vernünftig. Natürlich kann es sein, dass sie sich zeitweise ändert. Dann ist es auch dein Recht, deinen Bedürfnissen nachzugehen. Jedoch - wer einmal die Liebe wirklich erfahren und gelebt hat, und einmal sicher war, mit einer Person leben zu wollen: Der wird es nie mehr vergessen. Diesen Gedanken berührt zu haben, darauf darfst du sehr stolz sein. Ich wünsche dir viel Glück in der Liebe, und in allem Übrigen natürlich auch.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul