Problem von Anonym - 16 Jahre

Muskeln und Magersucht

Hey liebes Kummer Kasten Team!



Mir fällt es schwer, darüber zu reden. Ich hatte Magersucht, vor Ca 1 Jahr bin ich vom stationären Aufenthalt entlassen worden. Ich glaub, ich wollte durch hungern erreichen, dass man Muskeln sieht. Mittlerweile weiß ich, dass man zuerst etwas zunehmen muss, um diese aufzubauen. Mein essverhalten hat sich größtenteils normalisiert, bis auf dass ich eig immer Hunger hab. Ich trainiere auch seit meiner Entlassung. Ich finde aber, dass ich nur dick geworden bin. Ich wiege 66 kg und bin1.78 groß.
Ich fühle mich zurzeit so unwohl, dass ich gar nicht raus gehen möchte. Ich mag Wandern und Mountainbiken aber total gern, und das mach ich auch. Ich habe auch einen hund, mit ihr bin ich am liebsten draußen.
Was soll ich tun? Ich hasse mich und meinen Körper einfach so.
Bitte um Antwort!
Danke im voraus, lg

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

erst einmal möchte ich dir sagen, dass ich großen Respekt vor deiner Leistung habe. Meinen Glückwunsch, dass du es geschafft hast, dich aus dieser Krise zu befreien. Das ist wirklich etwas, auf das du sehr stolz sein kannst.

Zu deinem Gewicht glaube ich sagen zu können, dass es ganz normal für deine Größe ist. Es könnte auch mehr sein, und du wärst noch immer mitnichten dick. Empfindest du es als Rückfall in deine alten Gewohnheiten, dass du dich so fühlst? Ich habe dich so verstanden, dass das eigentlich nicht der Fall ist. Nur bitte ich dich trotzdem, aufzupassen: Denn du mutest dir viel zu, sichtbar muskulös werden zu wollen. Eben - auch wenn du es vielleicht nicht hören magst -, weil du eine Gewichtskrise hinter dir hast. Es könnte leicht geschehen, dass du durch ein Hintertor wieder dahin kommst, zu denken, da sei zuviel Fett und zuwenig Muskeln. Doch dem ist nicht so - du bist genau richtig, wie du bist.

Muskelaufbau ist natürlich was, das auch nicht ohne Gewichtszunahme abgehen kann. Wenn du annimmst, dass nach einem Jahr Training ein deutlich größerer Teil als vorher Muskeln sind, kannst du rechnen, dass der noch zunimmt. Und damit auch dein Gewicht insgesamt. Es ist also gar nicht schlecht, noch ein bisschen zuzunehmen - so kommst du aus dem Risikobereich. Damit meine ich nicht, dass du zu dünn wärst. Aber wenn dein Körper sich immer nahe am Minimum dessen bewegt, was er braucht, und nur wenig Spielraum zum Abnehmen hat, bevor es gefährlich wird, dann fällt auch der Muskelaufbau schwerer. Da du ja viel Sport treibst, brauchst du einfach mehr Energie. Auch wenn dir dein gesteigerter Hunger und die Menge, die du isst, seltsam vorkommen: Lass es ruhig zu, es ist das Richtige.

Es ist schön, dass dir das Wandern und Mountainbiken so gefällt. Bewahre dir diese Freude - aber tu es nur, wenn du wirklich Lust dazu hast, nicht aus Zwang gegen dich selbst: "Ich muss das jetzt tun" - das ist ungut. Höre immer darauf, ob du das Bedürfnis hast, aber tu es des Spaßes, nicht der Sache selbst wegen. Mit deinem Hund musst du natürlich regelmäßig nach draußen, was, vermute ich, weniger anstrengend ist. Vielleicht könntest du es so machen, dich darauf zu beschränken, wenn du mal nicht die allergrößte Lust auf Sport hast? Zwar ist es wichtig, Routine zu haben, aber man sollte auch nicht gegen sich arbeiten. Dein Körper signalisiert dir, was er braucht - höre auf ihn. Denn dein Körper ist schön.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Wo wären wir, gäbe es nur eine Definition von Schönheit? Zum Glück hat jeder seine eigene. Und auch wenn manche darüber lachen: Es existieren durchaus innere Werte, die in der Liebe eine Rolle spielen. Das Aussehen ist nur ein kleiner Teil dessen, was den Menschen wirklich ausmacht. Ich kann verstehen, dass es dir unmöglich scheint, dein eigenes Ideal zu sein. Aber ich bin sicher, dass du für Andere ein Ideal sein kannst. Für deinen Freund, und für die vielen, die mit einer Essstörung kämpfen, und für die du Vorbild bist. Es ist wirklich toll, was du geleistet hast - und, realistisch betrachtet, lässt sich so ein heftiges Problem vielleicht nie restlos ausräumen. In kleinen Anflügen, die dennoch schmerzhaft sind, kann es dich immer wieder einholen. Und für all diese Gelegenheiten sage ich dir: Du bist schön, weil Schönheit nicht definiert ist durch Gewicht, Größe, Haar- und Hautfarbe und dergleichen mehr. Hässlichkeit - wenn es so etwas gibt -, liegt dann vor, wenn jemand sich selbst aufgegeben hat. Das hast du selbst in den Tagen deiner Krankheit nie getan - denn ewiger Kampf liegt ja im Wesen der Magersucht, wenngleich er nicht erfolgreich sein kann. Warum bist du schön? Weil du das Wandern und Biken genießt, mit deinem Hund die Natur; weil du mit Genuss essen kannst; weil du etwas für deine Gesundheit tust; weil du nachdenkst, statt unüberlegt zu handeln. All das sind erstmal keine optisch sichtbaren Dinge. Aber sie alle schlagen sich darin nieder, wie du wirkst - ein schöner Mensch, ein Mensch, der das gern ist, der Inhalte hat. Wärst du dir selbst egal, hättest du keine Skrupel, auf die Straße zu gehen, gleich wie unfertig und abgestumpft du wärst - dann könnte man erschrecken, sich abgestoßen fühlen. Das wird bei dir aber nie der Fall sein. Man wird in dir eine junge Frau sehen, die sich vorsichtig, aber rücksichtsvoll bewegt, die mit ihren Blicken und Gesten eine wechselvolle Geschichte genauso mitteilt, wie eine tiefe Persönlichkeit; und diese Persönlichkeit spiegelt sich auf deinen Zügen, auf deinen Gliedern - man kann sie nicht hässlich finden. Man wird sich davon angezogen fühlen.

Hab keine Angst. Das möchte ich dir sagen. Du bist gut, wie du bist. Ich verstehe, dass du nicht von heute auf morgen deine Furcht ablegen kannst - das verlangt auch niemand von dir. Aber ich hoffe, dir mitgegeben zu haben, dass du schön bist. Weil jemand, der sich um sich sorgt, nie wirklich unschön sein kann. Du bist im Augenblick vielleicht nicht dein eigenes Idol - doch insgeheim wünschst du dir doch, es werden zu können? Es gibt viele Leute, die dir gerne dabei helfen würden. Vertrau darauf, das du sie finden wirst; ich bin ganz sicher, du wirst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul