Problem von Michael - 15 Jahre

Selbstmordgedanken

Hey, ich nutze VPN und eine anonyme email die nicht zurück zu verfolgen ist.
Hab seit meinem gesamten leben nie eine Freundin und nie eine richtige Beziehung, passe nicht in das schonheitsideal unserer Gesellschaft. Gemobbt wurde ich bereits im Kindergarten... seit ein paar Monaten denke ich mehrmals am Tag schluss zu machen... also selbstmord... ich will mit niemanden darüber reden; weder Freunde noch Familie, ich will sie einfach nicht damit belasten...
Ritzen oder so tu ich nicht da es viel zu auffällig wäre, ich verdräng es einfach... tatsächlich will ich nicht jetzt das leben nehmen sondern erst in 10 Jahren... ich will meinen Abschluss machen, meine Ausbildung zum sani absolvieren , ein paar leben retten und anschließend... ihr wisst ja...
Übrigens ne Nachricht an da draußen; beurteilt jemand nicht nach seinem äußeren, sondern dass was er für die anderen macht...

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Michael,

gut, dass du uns von deinen Gedanken geschrieben hast. Ich erhebe nicht Anspruch auf mehr Information, als du mir von dir aus geben möchtest, keine Sorge. Zwar ist deine Zuschrift später einsehbar; doch selbst wenn wir darüber hinaus etwas wüssten, würden wir es nicht weitergeben. Eine Frage der Ehre, um es pathetisch auszudrücken.

Wie sieht dein Schönheitsideal aus? Trachtest du danach, so zu werden, wie die Gesellschaft es verlangt? Oder möchtest du nicht viel lieber sein können, wie du bist, und gerne? Du schwankst zwischen dem Gefühl, nicht zu genügen, und dem Wunsch, man möge an dir genug haben. Gut, dass dieser Wunsch in dir ist - denn er ist berechtigt. Hat es keinen Reiz für dich, auch um dein eigenes Leben zu kämpfen? Können wir Leute von der Schwelle des Todes zurück holen, wenn wir uns selbst schon an ihrer Stelle sehen? Ich finde es klasse, dass du dir ein Ziel gesetzt hast, es verfolgen willst. Aber wie schwer müsste es dir fallen, zum Lebensretter zu werden, indem du deinem eigenen Tod entgegen gehst...?

Vor kurzem las ich in der Zeitung den Nachruf auf einen jungen Mann, der sich eifrig für die Feuerwehr engagiert hatte - und plötzlich verunglückt war. Ein hoffnungsvolles Leben, zerbrochen wie ein Strohhalm, bevor er richtig reif war. Und doch hat er viel Gutes bewirkt. Siehst du vor deinem geistigen Auge schon deinen Nachruf? Ist es wirklich dein Wunsch, ihm den Tenor zu geben: Er hätte noch so viel erreichen können? Oder gibt es nicht etwas, das im Stillen danach ruft, die Trauernotiz möge ganz andere Töne anschlagen: Er hat alles erreicht, was man sich wünschen kann, und dabei vielen das Leben gerettet? Kommt dir das nicht schöner vor?

Bist du ganz sicher, im Lauf der nächsten Jahre nicht dem Mädchen deiner Träume zu begegnen? Ganz sicher, nicht Trendsetter werden zu können? Ganz sicher, dass du dir nie selbst gefallen kannst? Dass das Schönheitsideal unerreichbar ist? Ich spreche nicht von dem, was die Werbung vorgibt. Ich spreche von dem Weg der Mitte: Umzusetzen, was dir von dem zusagt, das die Gesellschaft fordert - und gleichzeitig deine eigenen Akzente setzen? Siehst du in den kommenden zehn Jahren nirgends einen Lichtblick?

Alles Dunkel. Die kalte Brust, die du drückst, und in dir der brennende Wunsch, du mögest dort liegen... Irgendwo eine Ahnung von Freude, die plötzlich verflogen ist, wie ein schöner Traum. Lippen, denen du wieder Atem einhauchst - und leise streift dich die Sehnsucht, da wären Lippen, die du zärtlich berühren könntest... Gelingt es dir wirklich nicht, dir das vorzustellen? Bist du gewiss, dass dein Wunsch, zu leben, nicht wiederkehren und übermächtig werden kann? Da du deinen Tod ja schon aufgeschoben hast? Kann deine Galgenfrist nicht Momente bereit halten, in denen du fragst, was ein Richtplatz sei? Es wie ein Märchen scheint, dass du dich je tot gewünscht hast?

Du bist noch jung, Michael. Deine Pläne sind gut, aber sie könnten tausendmal mehr Früchte tragen, gingest du sie mit Enthusiasmus an, statt mit verhohlener Todessehnsucht. Willst du dich tatsächlich überzeugen, es gäbe keine Freunde und keine Partnerin für dich? Bist du sicher, dass nicht irgendwo Sicherheit lebt: Was jetzt war, ist längst nicht alles gewesen? Ist es nicht irgendwo in dir vorzufinden? Das dumpfe, aber starke Gefühl, dass noch nicht alles vorbei ist? Der Lebensretter Michael kann auch ein bejubelter Lebensretter sein, statt ein vergessener. Der betrauerte Michael kann auch ein heißgeliebter sein. Du kannst es werden - wenn du dich auflehnst gegen das ach so wahre "Ideal". Solange du nicht aufbegehrst, kannst du nicht frei werden von dem verhassten Bild, dem du doch selbser noch anhängst.

Du hast soviel vor, das ist toll - erlaube dir, ehrgeizig zu sein statt lebensmüde. Hoffnug auf die Liebe zu pflegen, dich daran zu freuen, statt an der Gewissheit deines Todes. Er kommt früh genug. Trau dich, das Ende deiner Frist wieder ins Unbekannte zu schieben - und das Dazwischen zu genießen, nicht abzuleisten. Es geht nicht sofort, aber es geht. Warum? Weil dein Wunsch, diese Hoffnugslosigkeit nicht haben zu müssen, der richtige ist. Weil die Stimme in dir Recht hat, die nach dem Leben ruft - so zart sie sein mag. Ich beurteile dich nicht nach dem, wie du aussiehst - ich kenne dein Aussehen nicht, und muss es nicht kennen, um zu wissen, dass du ein prima Kerl bist. Noch mehr als das, was du dir vorgenommen hast, schätze ich aber, dass du dem Leben eine Chance gibst. Geh deinen Weg - was dir darauf begegnet, weißt du nicht. Aber wenn du ihn mit Inhalten füllst, werden es gute Ereignisse sein. Dein Weg kann dir eingeben, dass er selbst das Ziel ist, nicht die Perfektion und nicht der Tod. Das Eine kommt nie, nach dem Anderen fragt man lieber nicht allzu oft.

Ich möchte dich ermutigen, deinen Weg zu gehen - aber geh ihn mit Neugier, nicht mit Bitterkeit. Tu dir nichts an - auch nicht zehn mühsame Jahre, die ein Ziel haben, das keines ist. Erlaube dir, eine Probezeit zu nehmen bis dahin, wo du ins volle Leben trittst: Geliebt, liebend, als Lebensretter, der sich selbst gefunden hat. Aber finden und annehmen kannst du dich nur, wenn du losgehst. Und nicht deinen Blick auf die Dunkelheit am Ende verengst, sondern nach Lichtern an der Straße schaust. Ich wünsche dir, das du sie sehen kannst. Du tritt aus einem Tunnel, nun fasse nicht den nächsten ins Auge - erfreu dich lieber an deinen Zielen, deinem Ehrgeiz, auch deiner Wut. Richte sie darauf, deinem Ideal näher zu kommen - aber lass es dir nicht diktieren. Es ist noch alles offen; schlage dir nicht selbst die Türen zu, denn du würdest etwas wegsperren, dass die Welt und die Menschheit nötig haben. Dich, der du wert bist, zu leben als Mensch, nicht als Maschine. Als jemand, der dem Leben verpflichtet ist, und nicht dem Tod. Fühlt sich das nicht viel, viel schöner an?

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul