Problem von Oliver - 17 Jahre

Freundin hat starke psychische Probleme

Erst einmal möchte ich mich hier für eure ganze Arbeit sehr bedanken. Ich finde es toll wie ihr allen helft und euch um die Probleme anderer kümmert. Ich habe bereits vor einem Monat geschrieben und noch keine Antwort bekommen, deswegen schreibe ich diesen Text hier noch einmal. Leider ist es seither nicht besser geworden und ich weiss jetzt mittlerweile echt nicht mehr mit wem ich noch reden soll, deswegen wende ich mich an euch.

Um zum Problem zu kommen. Ich habe jetzt seit 3 Monaten eine Freundin, 15 Jahre alt. Ich bin zwar zwei Jahre älter aber uns stört das kein Stück. Sie ist sehr erwachsen für ihr Alter und ein echt schlaues und kreatives Mädchen. Wir hatten noch nie Streit und verstehen uns absolut perfekt. Leider gibt es trotzdem viele Dinge die uns im Weg stehen.

Da sind zuallererst mal ihre Eltern die leider auf keinen Fall wollen dass sie einen Freund hat. Sie sagen immer sie wäre noch nicht bereit für sowas und da ihre Eltern Zeugen Jehovas sind verbieten sie es ihr mit Menschen zu verkehren die nicht dieser Religion/Sekte angehören, geschweige denn mit ihnen zusammen zu sein. Sie wissen noch nichts von mir und wir haben unsere Beziehung solange heimlich geführt, wollen es ihnen aber bald sagen. Nun bleibt uns noch die Angst vor dem was dann kommt, was uns zum nächsten Problem führt. Ihr Vater behandelt sie teilweise echt schlimm und sie wird oft angeschrien. Er hat sie als kleines Kind sogar schon vergewaltigt wie sie mir erzählt hat.

Sie wurde oft von ihren Ex-Freunden als SM-Spielzeug benutzt und die haben sie alle ziemlich fertig gemacht. Auch in der Schule hat sich das rumgesprochen und sie wurde deswegen echt heftig gemobbt, was irgendwann dazu geführt hat, dass sie angefangen hat sich zu schneiden, ganz besonders nachdem dann auch noch ihre beste Freundin starb. Sie sagt mit mir zusammenzusein hilft ihr davon wegzukommen. Sie hat es jetzt auch einen Monat ohne ausgehalten aber vor ein paar Tagen ist es wieder passiert und sie ist in eine üble Depression verfallen, was leider öfter geschieht, denn sie ist als manisch-depressiv diagnostiziert. Sie sagt dann oft so Dinge wie "Eigentlich ist es mir egal ob ich sterbe" und ähnliches. Ich habe deswegen echt Angst um sie und es tut mir auch selbst im Herzen weh wenn sie das tut. Sie war schon in einer Anstalt, aber das hätte es nur schlimmer gemacht sagt sie.

Seit die Schule wieder angefangen hat, hat sie jetzt noch diesen zusätzlichen Druck auf sich lasten und wird auch dort oft als "Hure" beleidigt und fertiggemacht weil sich all das rumgesprochen hat. Das zieht sie zusätzlich nochmal sehr runter und wenn ich dran denke dass grade mal eine Woche rum ist, habe ich Angst dass das noch viel schlimmer werden könnte.

Tatsache ist, dass all diese Erlebnisse aus Schule, Missbrauch, ihren Freunden und Tod von Freunden wohl ihre Psyche ziemlich erwischt hat. Ich hab sie jetzt in den letzten Tagen mehrmals erlebt dass sie auf einmal einen krassen Persönlichkeitsumschwung hatte. Während sie sonst immer so lieb und unschuldig ist und immer total lustig drauf fing sie auf einmal an davon zu reden wie sie jetzt irgendwen oder irgendwas braucht dem sie Schmerzen zufügen kann und dem sie wehtun kann und wenn sie das nicht kriegt dann sich selbst. Sie sagte dauernd sie fühlt sich so tot und muss sich fühlen und kriegt dann immer diesen Drang danach sich wieder zu schneiden. Sie sagt sie fühlt sich wie zwei Persönlichkeiten und die eine ist diese depressive und selbstverletzende die bei ihr dann mit der anderen kämpft und manchmal die Oberhand gewinnt, so wie sie es ausdrückt. Und ich weiss halt echt nicht wie ich damit dann noch umgehen soll.

Es ist wirklich schwer mit ihr, aber ich liebe sie über alles und würde auch wirklich alles für sie tun. Ich fühl mich nur so hilflos, weil wir uns auch nie sehen und ich sie in solchen Momenten auch nie persönlich beruhigen kann oder so. Jetzt suche ich also Rat bei euch. Danke dass ihr diesen langen Text gelesen habt. Ich hoffe auf eine baldige Antwort und Hilfe durch euch. Gruß~

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Oliver,

bitte entschuldige, dass du beim letzten Mal keine Antwort erhalten hast. Ich will mein Bestes geben, dir zu raten :)

Ich finde es klasse, dass du dich um deine Freundin sorgst und trotz allem zu ihr hältst. Auf den ersten Blick sieht es ja wirklich aus, als sei absolut alles gegen euch. Trotzdem möchte ich mich deinem Optimismus anschließen: Es ist zu schaffen. Damit nichts vergessen wird, gehe ich die Punkte, die du genannt hast, nochmal von oben nach unten durch.

Dass ihre Eltern Zeugen Jehovas sind, scheint mir spontan das größte Hindernis zu sein. Denn hier liegt wirklich eine Gefahr für eure Beziehung: Wenn ihr es ihnen schon gesagt habt, weißt du vielleicht schon mehr. Generell musst du damit rechnen, dass sie euch die Beziehung verbieten und alles tun, um den Kontakt zu verhindern. Wie deine Freundin zu dieser Sekte steht, ist das eine - ich nehme an, dass sie darin ohnehin keine Zukunft für sich sieht; aber auch der Missbrauch, den sie von ihrem Vater erfahren hat, steht ja im Raum. Es stellt sich die Frage: Möchtet ihr ihn anzeigen? Mag sie gegen den Glauben ihrer Eltern rebellieren? Beides wäre verständlich und sinnvoll, aber ihr nehmt damit viel Verantwortung auf euch. Es kann schwerlich was Anderes bedeuten, als dass sie aus ihrer Familie ausbricht. Für die erste Zeit danach muss eine Lösung gefunden werden: Wo kann sie bleiben?, und auch: Wie kann sie geschützt werden? Es ist sehr gut, dass ihr mit offenen Karten spielen möchtet, aber es verlangt euch viel Mut und Kraft ab, das zu tun. Ich würde sagen, dass es vielleicht wirklich die Polizei ist, die euch da raten kann. Denn das Eine geht nicht ohne das Andere: Sie kann, da sie noch minderjährig ist, nicht einfach flüchten; das muss begründet sein, und da zu der Sekte ja noch die Misshandlung kommt, ist es für jeden verständlich. Aber ihr müsst es darlegen, und dabei ist es wichtig, dass du deiner Freundin beistehst. Nach allem, was ihr angetan wurde, kann es für sie eine große Belastung sein, über ihre Erfahrungen zu sprechen - besonders, wenn sie sich bislang nur dir geöffnet hat. Du solltest also an ihrer Seite bleiben und sie stärken. Ebenso wichtig ist es, dass ihr auch deine Eltern einweiht. Ich kann mir vorstellen, dass das unangenehm wird - aber auch sie werden merken, dass in dieser Sache nicht zu spaßen ist. Falls sich eine weniger krasse Lösung findet, wäre die natürlich vorzuziehen; aber ihr solltet darauf gefasst sein, diesen Weg gehen zu müssen.

Was ich oben geschrieben habe, gilt genauso für ihre Exfreunde. Es ist kein leichter Gang, aber es wird ihr auch helfen, damit abzuschließen. Ganz vergessen lässt es sich nie, aber überwinden; für sie muss es sehr quälend sein, dass sie allem so hilflos ausgeliefert war und ist. Ihr solltet euch Ansprechpartner schaffen, die etwas verändern können - und überhaupt Leute einweihen, denen ihr vertraut. Einschließlich deiner eigenen Familie, wie gesagt, das fände ich wichtig.

Dies ist die erste Aufgabe. Für die Situation in der Schule werden sich danach neue Dinge ergeben. Denn gerade in der Schule ist sie gefährdet, von ihren Eltern angegangen zu werden - und das Mobbing kommt noch hinzu. Es ist furchtbar, was sie erfahren hat, und es erschreckt mich, dass sie deshalb fertig gemacht wird. Für diese Probleme empfiehlt sich über kurz oder lang eine Therapie. Jedoch, der erste Ansprechpartner bist du. Eure Beziehung stellt für sie sicher einen Ausgleich dar zu dem, was sie täglich mitmachen muss. Wie stark siehst du eine Gefahr, dass sie vielleicht wirklich handgreiflich wird? Was nur allzu verständlich wäre! Aber es wäre gut, wenn es nicht geschehen würde. Denn das ruft Dritte auf den Plan, die all das nichts angeht, und macht es für sie nochmal schwieriger.

Ich weiß nicht ganz, wie ich euren Kontakt auffassen soll: Läuft es nur telefonisch oder per Chat ab? Habt ihr eine Möglichkeit, euch wenigstens ab und zu zu sehen? Dass du in so entscheidenden Momenten, wie ich sie angeregt habe, dabei bist, wäre schon wichtig. Das wird natürlich schwierig sein, solange sie von zuhause so unter Druck steht. Das verstehe ich. Du hast geschrieben, dass sie schon einmal in einer Psychiatrie gewesen ist: Auch dort können die Zustände schlimm sein, aber generell ist es in so extremen Lebenslagen eine Sache, über die man nachdenken sollte. Wenn sie dort ist, gibt es immer die Möglichkeit, den Therapeuten oder die Station zu wechseln, oder über eine andere Klinik nachzudenken. Vor allem wäre es eine einfachere Möglichkeit, all das einmal weiterzuerzählen, als die Polizei. Sie bleibt mit ihren Sorgen nicht allein, gerade was die Familie betrifft - und ist davor geschützt, sich selbst zu verletzen, oder noch Schlimmeres zu tun. Es kann sein, dass es nicht ausbleibt, sehr unangenehme Dinge zu akzeptieren: Kontrolle, eine neue, sehr strenge Routine, Streit und Konflikte auf der Station, womöglich mit Ärzten; Medikamente, Untersuchungen und Behandlungsweisen, die erst einmal abschrecken. Dennoch möchte ich euch nahelegen, diesen Gedanken nicht von euch zu weisen. Ich möchte fast sagen, so schrecklich wie es ihr geht, kommt man irgendwann fast nicht drumherum. Auch in einer Klinik muss erst geschaut werden, wie man ihr helfen kann - Streit, Misserfolge und "Zwischentiefs" gehören meist dazu. Doch es ist eine Möglichkeit, ihr effektiv zu helfen. Sowie eine, bei der du zumindest sicher sein kannst, dass sie außer Gefahr ist. Oft gibt es in den Kliniken auch Unterricht, der sie nicht so sehr fordern würde, wie es die Regelschule tut; aber man hält sich rege. Solange sie noch zur Schule geht, wäre es wichtig, auch dort das Mobbing anzusprechen. Das kannst du erstmal nicht tun, aber ich erkläre im nächsten Absatz, was ich meine.

Du kannst viel tun, um ihr Ruhe, Entspannung und Sicherheit zu geben: Zum einen, indem du ihre Stimmungsschwankungen als unverschuldet akzeptierst, und dich nicht ärgerst, wenn du sie mal ertragen musst - sie vielleicht patzig, unfreundlich, wütend dir gegenüber wird. Es hat ja nichts mit dir zu tun, es sind die anderen Sachen, die in ihr rumoren. Kannst du sie vielleicht zur Schule begleiten, oder von dort abholen? Ich glaube, es würde sie erleichtern, wenn ihre Mitschüler euch Arm in Arm sehen, und du - sei es auch nur mit Gesten und Blicken - klar machst: Das ist mein Mädchen, und ihr habt sie in Ruhe zu lassen. Solltest du mal eine konkrete Situation mitkriegen, schreite unbedingt ein, und hilf ihr; das wird es bessern, vielleicht sogar vorerst beenden. Und je sicherer sie deiner ist, desto mehr gelingt es ihr, den Schulalltag zu bewältigen - besonders auch den Lernstoff. Das sollte trotz allem nicht zu kurz kommen, soweit es irgendwie geht. Zeugnisse und Mitarbeitsnoten, sind immer auch Verhandlungsbasis für künftige Unterbringungen, Behandlungen, Schulwechsel und Gespräche.

Ich bin sicher, dass deine Sorge um sie, nicht vergeblich sein wird. Die Zärtlichkeit und Nähe, die du ihr bietest, zumal nicht. Aber denk auch immer daran: Du hast dich in eine sehr verantwortungsvolle Situation und Rolle begeben, aus der sich schlecht wieder austreten lässt. Zumindest für eine gewisse Zeit. Sie braucht dich, das wird sie selbst sagen; aber was wäre, wenn du nicht mehr da wärst? Sowas passiert, aber wie würde es dir damit gehen? Ich will dich für nichts in die Pflicht nehmen. Doch wenn eure Beziehung sich verkompliziert, wirst du immer auch Gewissensbisse haben, dir vielleicht sehr schwer tun, diese Rolle nicht mehr erfüllen zu wollen - oder zu können.

Auch du hast deine Bedürfnisse, sie kann dich nicht halten, wenn du nicht magst. Im Moment ist das ja nicht der Fall, und wird vielleicht nie. Ich möchte es einfach mal allgemein gesagt haben: Was du tust, ehrt dich sehr und freut mich persönlich total - gib nichts darauf, wenn manche dich für verrückt erklären. Nichtsdestotrotz, auch für dich gibt es Schmerzgrenzen. Achte genau darauf, wann du selber nicht mehr in der Lage bist, ihr Unterstützung zu bieten. Dann darfst auch du dir Freiräume nehmen. Es ist besser, zwischendurch kürzer zu treten, als auf einmal nur noch ausbrechen zu wollen. Die kommende Zeit wird sie viel Aufmerksamkeit brauchen, die du ihr geben solltest - und sicher gern wirst. Das wird nicht immer so bleiben, aber vielleicht nicht so bald ändern, wie man sich wünscht. Vergiss auch nie deine eigenen Wünsche und Bedürfnisse, und schätze ein, was sie dir gibt. Es kann schwer werden, falls das, was du für sie tust, einmal das Verhältnis verloren hat zu dem, was du zurückbekommst: Nähe, Rücksicht, Zeit zu weit, Gespräche über alles Mögliche, aber auch über deine Probleme. Das gilt nicht unbedingt für jetzt, aber in Zukunft sollte es bedacht werden. Wie gesagt, es freut mich, dass du sie aus Liebe so unterstützt. Doch ich möchte dich auch bitten, auf dich zu achten, dich nicht zu übernehmen. Es ist in eurer beider Interesse.

Ich wünsche euch das Allerbeste, und bin überzeugt, dass ihr gemeinsam es schaffen könnt. Besprecht euch immer gut, zieht eure Planung durch, nehmt Rücksicht - und lasst euch doch nicht unterkriegen. Es ist zu schaffen, und ich hoffe, dass es klappt. Denn das habt ihr zwei echt verdient. Viel Glück für die kommende Zeit - du kanst dich gern wieder an uns wenden, wenn sich etwas Neues ergibt.

Liebe Grüße,

Paul