Problem von Anonym - 13 Jahre

Angst

Hallo ich bin 13 und habe immer Angst, dass mich jemand verfolgt. Sogar in meinem Haus. Wenn ich Abends von der Toilette zu meinem Zimmer gehe (sind ca.2meter) denke ich immer hinter mir steht jemand. Genauso ist es wenn ich normal im Haus rumlaufe oder auf der Straße bin. Ich drehe mich dann um und sehe, dass da niemand ist. Trotzdem habe ich total Angst. Das alles hat in der 2. Klasse angefangen, als wir in der Schule besprochen haben, dass es "Kinderfänger" gibt. Ich habe oft versucht es zu verdrängen. 1 Jahr lang hatte ich auch keine Angst aber seid kurzem ist es wieder da. Ich weis nicht, was ich tun soll. Bitte um Hilfe

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Anonyme,

wenn ich als Kind bei meiner Oma übernachtet habe, oder die erste Nacht im Urlaub war, lief es immer so ab: Wir sagten Gute Nacht, ich las noch ein bisschen, machte das Licht aus und zog die Decke hoch. Was geschah dann?

Es gibt Leute, die legen sich hin und schlafen, wo immer sie gerade sind. Manche haben kein Problem, draußen unterwegs zu sein, egal zu welcher Tageszeit. Wenn man ein ängstlicher Mensch ist, geht es einem oft so wie damals mir: Auf einmal kommen dir die warnenden Sätze wieder in den Kopf. Oder eine schlimme Szene aus einem Film oder Buch erscheint, furchtbar lebendig, vor dem inneren Auge. Dein Herz fängt schon leicht an zu pochen; und es braucht nur ein winziges Rascheln oder Knacksen, schont rast dein Puls, und du bist hellwach. Zuerst rollst du dich eng zusammen. Dann beginnst du zu überlegen, ob du dich umdrehen sollst - Ausschau halten nach dem namenlosen Grauen. Es knackt wieder. Ist es näher gekommen? Vorsichtig streckt man einen Finger nach der Nachttischlampe aus; dann die ganze Hand. Und wie einem der Herzschlag geht, wie schauderhaft es ist, wenn man den Schalter nicht gleich findet! Plötzlich ist es hell. Du schaust dich um. Der Gedanke ist noch da, die Angst ist noch nicht fort - du spürst es. Ein wenig fühlst du dich, als hättest du mehrere Nächte nicht geschlafen. Drehst dich um, setzt dich im Bett auf - und merkst erst jetzt, wie stark du geschwitzt hast. Irgendwie ist alles, wie es war. Keine Gefahr weit und breit. Oder doch? Irgendwo in den Winkeln, die dein Blick nicht erreicht, ist etwas Fremdes. Etwas, das sich nicht fassen und benennen lässt - aber trotzdem spürbar ist.

Genauso kann es einem überall gehen, auch auf offener Straße und am hellichten Tag. Der Knackpunkt ist die geheime Angst, die dauerhaft ist und nicht fortgeht; sie hält sich nur bedeckt.
Der erste Schritt wäre, dass du genau überlegst, wovor du konkret Angst hast. Du hattest geschrieben, es geht darum, dass jemand hinter dir steht. Aber kannst du diesen jemand irgendwie beschreiben? Hat deine Ahnung irgendein Gesicht? Und wenn es nur ganz unklar ist? Und welche Bilder verbinden sich sonst noch mit dieser Angst? Kommen dir bestimmte Sätze in den Sinn, die deine Lehrerin damals gesagt hat? Oder fühlst du dich noch an andere Erlebnisse erinnert? Kannst du daneben noch ein weiteres Gefühl erkennen - Peinlichkeit oder Hilflosigkeit? Das alles können Fragen sein. Ziel ist es, herauszufinden, ob diese Angst bestimmte Auslöser hat - und wann sie besonders stark ist. Ob du ein bestimmtes Detail herausgreifen, und gezielt bekämpfen kannst.

Ich möchte erklären, was ich damit meine: Als meine Mutter mich zum ersten Mal vor "Kinderfängern" gewarnt hat, beschrieb sie ziemlich genau, wie die vorgehen würden. Es hieß, sie würden uns Süßigkeiten oder Spielsachen oder sowas anbieten, damit wir mitkommen. In diesem Augenblick empfand ich nicht nur Angst, sondern noch ein anderes Gefühl: Paul, du bist noch ein Kind. Du bist noch schwach. Sie können dich rumkriegen. Natürlich hatte meine Mama das nicht gewollt, sie hätte es auch gar nicht verhindern können. Aber neben meine Angst trat danach immer der Wunsch, endlich groß zu sein, damit man mich nicht länger mit Bonbons locken könnte. Heute weiß ich, dass wir alle in der Gefahr sind, schwach zu werden. Doch immer, wenn ich an diese Zeit denke, denke ich auch an ein bestimmtes Bild: Die Straße nicht weit weg von zuhause, wo an einem Platz, wo ich nicht gern vorbei gehe, ein Auto steht. Und das war wohl der Albtraum, einmal noch mehr zu erfahren.

Wenn du solche Bilder in dir aufspüren kannst, dann könntest du etwas gegen sie unternehmen. Zum Beispiel mit einer Freundin, oder deiner Mutter, genau dorthin gehen. Und versuchen, das Bild zu ändern. Setzt euch ein bisschen in die Sonne, unterhaltet euch. Horcht auf das Rascheln und Knacken. Und sage dir selbst, dass man dich nicht fangen wird. Dass du nicht schwach bist. Du wirst sofort aufhorchen, wenn man dich komisch anspricht. Du wirst dich auch wehren. Die Erzählungen in der Schule waren für Kinder gedacht, die noch nicht wissen, was für Gefahren es gibt. Du aber weißt ganz genau darüber bescheid - deswegen sind sie nicht weg, aber du gibst sehr gut auf dich Acht. Viel besser als - leider - viele Andere.

Gegen die Angst, die dich auf der Straße befällt, lässt sich auch etwas tun. Vielleicht kannst du eine Freundin bitten, dich zur Schule zu begleiten - oder mit dir im Bus / Bahn zu fahren? Es wäre wohl besser, wenn du jemanden an deiner Seite hast, dem du vertraust. Für die nächste Zeit könntest du solche Orte meiden, wo kaum jemand ist, und an belebte Plätze gehen. Denn auch alle anderen Leute sind verpflichtet, dir im Notfall beizustehen. Zuhause kannst du dir Rituale schaffen, um gegen die Angst vorzugehen: Verdränge sie nicht, sondern setze dich mit ihr auseinander. Hast du tatsächlich Angst, entführt zu werden? Dann steck dir einen Zettel in die Tasche, auf dem eure Nummer und Adresse stehen. Oder auch ein paar mehr. Und denk dir: Wenn mir jemals etwas zustößt, kann ich sie irgendwo hinterlassen, und werde gerettet. Sollten deine Eltern abends mal nicht da sein, kannst du dir das Telefon oder Handy in greifbare Nähe legen. Schreib auf ein Blatt daneben, groß ihre Nummern (auch wenn du sie längst auswendig kannst), und die der Polizei. Sag Freunden bescheid, wenn du allein bist - sie werden als Erstes gefragt, falls man dich nicht mehr findet. Lass in einem der anderen Zimmer das Licht brennen, wenn du schlafen gehst. Das schreckt ab. Nimm eine Taschenlampe mit - und hab keine Angst, dass das kindisch wäre; du brauchst es eben. Wo es möglich ist, kannst du auch bei einer Freundin übernachten. So lernst du zum einen noch besser, in ungewohnten Situationen zu sein, und hast gleich jemand bei dir, wenn du Angst bekommst. Wozu ich dir auch raten möchte, wäre, einen Selbstverteidigungskurs zu machen. Dafür lassen sich bestimmt auch Andere finden, die mit dir hingehen. Zwar ist jede gefährliche Situation anders - aber es gibt Sicherheit, dort gewesen zu sein. Sie können auch gute Ratschläge geben, wie man sich im Ernstfall verhält.

Bei all dem, denke immer daran: Die Leute, die Kinder rauben, haben selbst Angst. Ungeheure, scheußliche, nagende Angst. Sie wissen genau, dass das, was sie tun, die schlimmste aller Taten ist. Und doch gibt es etwas, das sie dazu treibt. Irgendwo in ihnen schreit eine Stimme: "Gib dich zu erkennen! Unternimm was! Geh lieber gleich zur Polizei, und dich ausweinen - noch ist es nicht zu spät. Wenn du das tust, was du gerade machst, wirst du nie wieder ein glücklicher Mensch werden. Überall sind sie gewarnt, gewarnt vor solchen wie dir. Sie werden es herausfinden. Vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann. Dein Gesicht wird verhasst sein, du wirst dir keinen Traum mehr erlauben dürfen. Tu es nicht, du bist doch auch mal klein gewesen!" So schreit es in ihnen, das schlechte Gewissen, die ganze Zeit. Und doch tun sie es. Du kannst, wenn es wirklich mal dazu kommt - was hoffentlich niemals eintritt - viel tun, um sie zu verunsichern. Sie bewegen sich auf einer dünnen Schale, die du zum Einsturz bringen kannst. Der Drang, die Tat zu begehen, ist da - aber er kann in einer Sekunde weg sein. Dann ist da nur noch Angst. Kannst du schreien? Dann schrei! Und sie werden kalten Schweiß bekommen, sie werden Schmerzen haben - und dich loslassen. Das Wichtigste ist, nicht aufzuhören. Dich mit aller Kraft zu wehren. Niemand hat das Recht, dich einfach aufzugreifen - mache es deutlich, sollte sowas passieren

Ich weiß, dass du ein starkes und kluges Mädchen bist. Denn du flüchtest dich nicht in Wunschbilder, du bist dir bewusst, dass das Leben auch gefährlich ist. Und solange dieses Bewusstsein da ist, bist du ziemlich sicher. Jeden Tag lesen wir in den Zeitungen von entsetzlichen Geschichten. Die Nachrichten im Fernsehen, Radio, Internet machen uns glauben, dass das Böse überall ist. Aber es gibt auch viele Kinder, die glücklich aufwachsen. Die Fälle, die passieren, betreffen nur einen kleinen Teil. Es sind immer noch viel zu viele, denn jedes Kind, dem ein Leid geschieht, ist eines zuviel. Aber du bist ein starkes Mädchen. Du weißt um deine Rechte, und du wirst eines Tages vielleicht gegen das Unrecht kämpfen, das Kindern angetan wird. Ich könnte es mir gut vorstellen. Deine Eltern dürfen sehr stolz auf dich sein, eine Tochter wie dich zu haben. Eine, die sich genau kennt, und auf das achtet, was um sie herum geschieht. Nur quälen soll dich das nicht. Du kannst es schaffen, die Angst zu besiegen. Sei dir immer bewusst, dass du nicht hilflos bist - sondern das Leben in die Hand nehmen wirst.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul