Problem von Tobi - 17 Jahre

Antwort an Paul G.

Hallo, danke nochmal für alles.

Du wolltest wissen was mit meinen jüngeren Geschwistern passiert ist, ich erzähls dir.
Sie haben beide nie das Licht der Welt erblickt. Erst wäre mein kleiner Bruder, wir hatten schon einen Namen - Phillip, wir hatten uns alle auf das Baby gefreut, wir machten einen kleinen Ausflug nach Südtirol, da ging es meiner Mutter unerwartet schlecht, im Krankenhaus stellten sie fest, dass das Baby gestorben war, den Grund kenne ich nicht. Ich war damals noch klein, kann mich aber gut daran erinnern. Meine Mutter hat die Tage darauf die ganze Zeit geweint, mein Vater kein Wort gesprochen. Ich verstand es erst nicht, ich habe erst später begriffen. Heute wäre Phillip so 12-13 Jahre alt. 2-3 Jahre später versuchten es meine Eltern erneut, es war ein Mädchen, wir gaben ihr den Namen Maria. Bei ihr wurde Mongolismus festgestellt. Sie starb auch n paar Monate vor der Geburt. Meine Eltern waren am Boden. Heute wird fasst nie über die zwei gesprochen, meine Mutter stellt sich trotzdem manchmal vor wie es wäre, wenn die Zwei noch leben würden.

Und jetzt noch, warum mein Vater manchmal so geladen ist. Er war schon mal verheiratet wurde aber betrogen, seine damalige Frau hatte den gemeinsamen Sohn gepackt und war untergetaucht, mein Vater war so am Boden, dass er fast von einer Brücke gesprungen wäre, sein Vater hat ihn in letzter Sekunde daran gehindert. Irgendwann hat man die Frau dann ausfindig gemacht. Vor Gericht wurde beschlossen, das er das Kind jede Woche sehen darf. Dann lernte er meine Mutter kennen. Zu seinem ersten Sohn hab ich ein tolles Verhältnis, er ist mein großer Bruder, mit ihm unternehme ich auch was. Mein Vater war mal Arbeitslos, nur mit Mühe bekam er einen neuen Job, doch sein Chef hat ihn fertig gemacht. Dann ging die Firma ins Ausland, mein Vater verlor wieder seine Arbeit, er hat schon viele Bewerbungen geschrieben, doch meistens nur Absagen bekommen, mit 53 ist es schwer, einen Job zu finden der eine Familie ernährt.

PaulG Anwort von PaulG

Lieber Tobi,

ich hoffe, dich nicht unter Druck gesetzt zu haben. Ich empfinde es als Ehre, dass du es mir erzählt hast, zumal es ja öffentlich wird. Für mich wird jetzt manches klarer, was deine Situation betrifft. Deine Zuschriften haben für mich nie einen Zweifel daran gelassen, dass du ein fürsorglicher, liebenswerter Mensch bist. Aber jetzt verstehe ich deine Verzweiflung noch besser - und das ist auch wichtig, denn ich will nicht zuviel von dir verlangen.

Ich habe das Gefühl, dass sich hier umso deutlicher zeigt, warum dein Vater dir auch manchmal Unrecht tut: Er kann nichts dafür, wir wollen es ihm auch gar nicht vorwerfen - wer wollte das schon? Ich glaube, dass du längst selbst weißt, dass seine Kritik nicht eigentlich dich meint. Sondern dass kleine Auslöser bewirken können, dass ihn auf einmal Verzweiflung übermannt. Er kann sehr stolz sein, einen Sohn wie dich zu haben. In deiner ersten Zuschrift hattest du erzählt, dass dir auch Religion wichtig ist. Das finde ich bewundernswert, denn es ist wirklich furchtbar, was geschehen ist. Es tut mir sehr leid für euch. Ich weiß nicht, wie es mir damit gehen würde - vermutlich würde es mir zumindest schwer fallen, an die Liebe zu glauben, extrem schwer. Wenn es ginge. Ich hoffe wirklich, nicht zu hohe Ansprüche an dich zu stellen, wenn ich gewisse Vorschläge mache. Es sind natürlich auch immer meine Gedanken, die nicht universell gültig sind. Aber auch hinter diesen steht eine Geschichte, meine, die unschöne und freudige Ereignisse einschließt; nur der Wechsel von beidem, in vielen Tönen von sehr hell zu sehr dunkel, hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Anders würde ich vielleicht nie im Kummerkasten schreiben. Meine Arbeit bedeutet nicht, dass ich Weisheiten austeilen will; ich möchte Erfahrungen vermitteln, die mir geholfen haben. Damit ist wenigstens erwiesen, dass sie es können - aber nicht, dass jedem, und immer.

Nachdem ich all das weiß, muss ich über deinen Vater sagen: Ich ziehe den Hut vor ihm - und ich glaube, dass du, ob er dich kritisiert oder nicht, mit sein größter Stolz bist. Er wird sich oft fragen, wozu er gelebt hat bis jetzt. Ob nicht alles und jeder gegen ihn ist, und was er falsch gemacht hat. Dabei hat er gar nichts falsch gemacht. Er hat sich gut um euch gekümmert, und in dir und deinem Halbbruder zwei Söhne, die sich gut verstehen und aufmerksame junge Männer sind. Das ist eines der bedeutendsten und fantastischsten Dinge, die er erreicht hat. Da du deinen Vater am besten kennst, möchte ich dir auch zugestehen, völlig selbst zu entscheiden, wie du dich ihm gegenüber verhalten willst. Gerade wenn es zum Streit kommt. Du hast geschrieben, dass er ein Perfektionist ist. Mir erscheint es so: Er sucht nach etwas, irgendetwas, das perfekt ist - und findet überall nur das Gegenteil. Dabei hat er viel erreicht. Auch für ihn wäre es gut, mit sich nicht so hart ins Gericht zu gehen. Was man aber nicht einfordern kann, zumal die Suche nach einer Arbeit ja auch notwendig ist, viel davon abhängt. Könntest du dir aber vorstellen, deinem Vater mal, ohne näheren Anlass, zu danken? Vielleicht einen Brief zu schreiben? Es wird ihm gut tun, und möglicherweise wird er gar nichts dazu sagen. Aber dass es eine Stärkung sein würde, glaube ich auf jeden Fall. Gleiches gilt natürlich für deine Mutter - auch sie kann ich nur bewundern. Was möchte ich einer Frau sagen, die so etwas erleiden muss? Ich kann tatsächlich nur das sagen: Dass ich sie für ihre Stärke bewundere, und ihren Schmerz verstehen kann. Doch was heißt Letzteres schon? Kann ich als Mann diesen Schmerz wirklich nachvollziehen, in seiner ganzen Tragweite erfassen? Ein wenig komme ich mir verloren vor. Ist es nicht überheblich, in dieser Lage einen Rat aussprechen zu wollen - ich, der ich selber noch jung bin? Ich habe dir immer gern geraten, Tobi, so traurig der Anlass war, es hat mich mit Hoffnung erfüllt, jemanden wie dich vor mir zu haben. Denn du bist jemand, der wahrhaftig weiß, was Liebe ist. Es gibt viele Dinge, die ich nicht weiß und erfahren habe, was vielleicht einen Nachteil bedeutet. Doch eines kann ich wohl behaupten: Ich kenne die Liebe. Und wenn du mir schreibst, Tobi, spüre ich heraus, dass du geliebt wirst, und dass deine Liebe heiß und aufrichtig ist. Fühl dich stolz, du selbst zu sein - und solche Eltern zu haben.

Deine kleinen Geschwister haben nie das Licht der Welt erblickt - das ist fürchterlich, unbegreiflich. Wenn du dich nach dem Grund fragst, warum du am Leben bist und sie nicht, möchte ich antworten: Es kann keinen wirklichen Grund geben - denn die beiden waren vollkommen unschuldig. Wenn es etwas gibt, ist es der Auftrag an dich: Sie nie zu vergessen, und das Schmerzhafte dieses Erlebnisses weiterzutragen, indem du es in Fürsorge und Mitgefühl umsetzt. So wird aus dem Schrecklichen etwas Gutes. Der Satz mag abgedroschen daher kommen - es ist der einzige, der mir einfällt, um auszudrücken, wovon ich überzeugt bin: Dass kein Leben umsonst ist, es mag kurz oder lang sein, reich oder unspektakulär, gut oder schlecht - oder geendet haben, bevor es richtig begonnen hatte.

Meine Oma erzählt mir manchmal von der Nacht, als ich geboren wurde. Das Besondere an dieser Nacht war, dass man mich etliche Wochen später erwartet hatte. Welche Ängste sie ausgestanden hat, ist manchmal noch in der Faszination zu merken, mit der sie mich beobachtet. Und dann bin ich über mich selbst überrascht: Paul, du bist am Leben - und gar nicht mal schlecht. Es war nicht einfach bis jetzt, aber was daraus entstand, könnte viel schlimmer sein. Und in solchen Momenten spüre ich auch, was ich selbst oft vergesse: Dass es mich nur einmal gibt. Und wenn es einen wirksameren Beweis gibt, dass ich eine Aufgabe habe, als diese Entwicklung - welcher sollte das sein? Ich bin nichts Außergewöhnliches, das will ich auch gar nicht sein. Ich will ich selbst sein, und dazu gehören auch Fehltritte und Peinlichkeiten. Dieses Gefühl möchte ich dir gern vermitteln. Dass du nicht auf der Welt bist, um auf geraden Bahnen zu laufen, oder irgendwelchen Idealen zu genügen, als deinen eigenen. Dass es genau das Ungerade, Unschöne, das Tragische und Hinderliche ist, das wir nie ganz loswerden, aber aus dem wir unseren Sinn für die Ungerechtigkeit schärfen - das das Leben lebenswert macht. Und uns merken lässt, dass wir einzigartig sind. Allein deshalb schon nicht falsch, sondern mit einer Aufgabe versehen. Wozu träumen und lieben wir sonst? Jene, die dieses Glück nicht hatten; die, die zu früh aus dem Leben gerissen wurden: Sie beschwören uns, unsere Gesundheit, unsere Sinnes- und Tatkraft gegen die Ungerechtigkeit, und für die Liebe einzusetzen. Du tust es, Tobi. Zu deinem eigenen Nutzen, aber auch zum Wohl derer, denen du Hoffnung schenkst. Dieser einmalige Beweis für die Liebe gegen alle Widerstände, steht nicht umsonst lesbar da. Es soll dich nicht bloßstellen, und das tut es auch nicht. Es soll Beispiel sein, und es ist, da bin ich sicher, ein sehr gutes.

Ich danke dir noch einmal sehr für deine Offenheit, das ist nicht selbstverständlich. Ich habe den Wunsch, dir etwas Zuversicht zu geben - ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Die Arbeit im Kummerkasten lässt mich auch immer wieder über mich selbst nachdenken. Und ich kann dir versichern, so wenig du es erwarten magst, du hast viele Gedanken bei mir angestoßen, die ich schätze, und die mir eine Stütze sind. Denn das ist mir der größte Wunsch für dich: Dass du dein So-sein nicht nur als Schwäche sehen kannst. Sondern darin das erkennst, was dich gerade so sympathisch macht: Nicht auf Konventionen hören zu wollen; weiterzumachen, nach Wegen zu suchen, beständig zu sein. Sogar, wenn es dir selbst weh tut. Daher sage ich: Lass auch die Liebe zu dir selbst nicht zu kurz kommen! Du gehst deinen Weg, und er wird dir wieder einfacher sein. Gib die Hoffnung nicht auf - du wirst nur verlieren, wenn du dich zuvor selbst verlierst. Das wirst du aber nicht, denn mit allem, was du uns geschrieben hast, arbeitest du bereits dagegen. Ich glaube an dich - und ich weiß, nicht allein zu sein. Du fehlst noch, Tobi. Magst du nicht dabei sein?

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul