Problem von Juny - 21 Jahre

Gedankenkarussell stoppen!

Hallo liebes Kummerkasten-Team,
meine vor drei Wochen gestellte Mail konnte leider nicht beantwortet werden (ich verstehe, dass ihr viel um die Ohren habt und mit Sicherheit auch viele Probleme, die weitaus brisanter sind als dies hier), aber ich versuche es noch einmal:
Ich bin seit neun Monaten mit meinem Freund zusammen. Er ist mein erster „richtiger“ – davor hatte ich zwar eine Larifari-Beziehung mit 16 Jahren aber da konnte man nicht von Liebe reden. Egal…
Also wir beide haben uns Ende Dezember letzten Jahres kennengelernt und Mitte Januar waren wir bereits ein Paar. Überhaupt ging vieles bei uns ziemlich schnell. Ich hatte so gut wie keine „Schmetterlinge-im-Bauch“- Phase (nur ab und zu), das hat mir ziemlich viele Gedanken beschert, bspw., ob ich ihn genug liebe etc. Wir haben darüber geredet – überhaupt können wir sehr gut miteinander reden, was ich sehr liebe. Er sah das nicht so schlimm, weil er ja im Grunde mein erster Freund ist und es versteht, wenn‘s bei mir gefühlsmäßig ziemlich drunter und drüber geht. Nur leider setzt sich mein Gedankenkarussell immer wieder in Bewegung und dann entflammen die Zweifel. Ich mache mir nahezu jede Woche Gedanken über verschiedene Dinge, die ihn und unsere Beziehung anbelangen, ob diese richtig sind, gut laufen usw. und das macht mir Angst! (An sich bin ich ein sehr nachdenklicher Mensch.) Ich muss aber dazusagen, dass ich dieses Gedankenkreisen nur habe, wenn er nicht bei mir ist, wenn wir zusammen Zeit verbringen, ist alles gut. Manchmal stören mich Dinge an ihm – Kleinigkeiten, z. B., dass er in Gesellschaft meist irgendeinen lockeren Spruch auf Lager hat, der mir dann vor den anderen etwas unangenehm ist (wenn wir allein sind, kommt sowas in der Regel nicht vor) Er liebt seine Familie sehr, zeigt das auch, macht viel mit ihnen, auch umarmen sie sich sehr oft-morgens und abends (kenne ich von zu Hause nicht so) Ich muss auch zugeben, ich bin lieber mit ihm allein oder gemeinsam bei meiner Familie als bei seiner, die sind so komplett anders als meine (manchmal etwas aufgesetzt, sehr offen, mit einem eigenartigen Sinn für Humor). Auch kommt es mir so vor, als ob er nicht so wirklich viele Freunde hat. Das gefällt mir auch nicht so gut, wobei es mir aber nicht um die Menge sondern an der Qualität seiner Freundschaften geht. Ich habe auch nicht unglaublich viele Freunde aber mit einigen unternehme ich ab und zu mal was. Er eher nicht so oft. Zudem ist er ein Gentleman, würde mir am liebsten die Welt zu Füßen legen. Das gefiel mir anfangs, doch dann war es etwas befremdlich, das sagte ich ihm auch und dämmte es dann etwas ein. Er ist ein sehr lieber Mensch, mir nur manchmal etwas zu lieb. Ich bin zwar sehr harmoniebedürftig aber wohl auch so jemand, der ein paar Reibungen benötigt, um Grenzen zu erkennen. Leider haben wir noch nie so richtig gestritten, weil er zudem auch sehr geduldig ist und über vieles hinwegsieht. Ich möchte ihn keineswegs perfekt machen oder verbiegen, das steht mir nicht zu. Und er sieht es auch nicht so, dass ich ihn schon irgendwie verbogen hätte. Aber an so Kleinigkeiten störe ich mich manchmal etwas und dann überlege ich.
Ich komme nun zu den positiven Seiten an ihm, die ich liebe. Ich bin so gerne in seiner Gegenwart und kann mir meine Zukunft mit ihm vorstellen. Meine Familie akzeptiert ihn und findet, dass er mir sehr gut tut. Ich möchte ihn nicht verlieren. Eigentlich ist alles perfekt. Ich könnte mit ihm doch eigentlich uneingeschränkt glücklich sein (sowohl bei seiner An- also auch Abwesenheit)– er liebt mich aus tiefstem Herzen, ist für mich da und nimmt mich in den Arm, wenn es mir nicht gut geht, würde mir nie was Böses antun wollen, er steht zu mir, ist sehr zärtlich und vorsichtig (weil eben mein 1. Freund) und ich kann bei ihm so sein, wie ich bin. Doch manchmal bewege ich mich von einem Hoch- ins nächste Tiefgefühl, weil ich mich eben so reinsteigere :(. Ich bin durcheinander. Was ist da nur los? Warum bin ich einen Tag auf Wolke sieben und den anderen nur am grübeln?? Liebe ich ihn nicht genug? Setze ich mich zu sehr unter Druck? Denke ich zu viel über Kleinigkeiten nach? Kennen wir uns noch nicht genug um mich auf ihn uneingeschränkt einzulassen? Ist das nur ein Phänomen, was man anfangs beim ersten Freund hat und was sich im Laufe der Beziehung legt? Ich hoffe, ihr könnt mir helfen, denn dieses ständige Auf und Ab ist echt nervenzerreißend. Wenn das normal sein sollte, hättet ihr eine Idee, wie ich damit besser klar komme? Ich will ihn endlich mal uneingeschränkt lieben und nicht so viel nachdenken, wie und was ich und er so sagen oder tun. Liebe Grüße.

PaulG Anwort von PaulG

Liebe Juny,

du hast es ein "Karussell" genannt. Wie war das als wir klein waren, auf dem Karussell? Der Reiz ist doch der, das alles in Bewegung kommt. Man spürt Wind, wo keiner war, plötzlich setzt er aus, man schaut sich um... und weiter geht's. Man versucht einen Punkt festzuhalten, der einem entgegenfliegt. Es klappt nicht, aber alles richtet sich darauf, ihn wieder einzufangen. Das ist das bescheidenste, vielleicht das schönste Glück: Das, was ist, einmal richtig wertzuschätzen. Es ist nichts anders als sonst; aber die Aufregung, die fliegenden Bilder, die nicht bleiben und doch wiederkehren - alles sehen, alles spüren, alles verlieren und wieder bekommen.

Lass es sich drehen. Genau das, was du erlebst, ist die Liebe. Du hast einen Menschen gefunden, der dich so annimmt wie du bist, bei dem du dich geborgen und sicher fühlst. Er hat zwar seine Macken und kleinen Unebenheiten, aber seine Qualitäten überwiegen bei weitem. In deinem Text fand ich auffällig, dass du dich immer wieder selbst "zurückpfeifst". Ich glaubte, dein schlechtes Gewissen spüren zu können. Das musst du aber nicht haben. Die "uneingeschränkte Liebe", nach der du suchst, gibt es wohl nicht. Ich würde eher sagen, dass das, was du jetzt besitzt und fühlst, die schönste Liebe ist.

Wie, glaubst du, geht es ihm? Glaubst du nicht, dass er im Stillen auch dies und jenes aufzählen könnte, das ihm nicht so passt? Aber im nächsten Moment über sich selbst lacht, sich zur Ordnung ruft und ohne Ende von dir schwärmen könnte? Was ihr habt, ist die beste Basis für eine Zukunft. Eure kleinen Schwächen werden früh genug zur Sprache kommen. Es wird Streit geben, ihr werdet euch manchmal fragen, ob ihr nicht einen großen Fehler gemacht habt. Aber da das, was ihr aneinander liebt, so mächtig und überwiegend ist, werdet ihr immer wieder zum Anfang zurückkehren. Das, was euch der Andere gibt, ohne das ihr nicht sein könnt, wird immer stärker sein. Trau dich, auch die kleinen Zweifel und Überlegungen zuzulassen. Der Tag, an dem ihr voneinander verlangt, euch anzupassen, wird früh genug kommen. Ihr werdet ihn jedoch überstehen - denn euer Gefühl, euer Soulmate zu haben, wird stärker sein. Ich glaube, das ist das Entscheidende: Es geht allen so, aber schon deine Frage, ob es in Ordnung ist, beweist, dass ihr besonders gut füreinander seid. Sieh es als Beweis, dass ihr einen guten Beginn gemacht habt. Denn wenn du zu sicher bist, ist das auch nicht gut. Das Ende der Spannung kannst du nicht erzwingen. Es wird kommen, aber verlier nicht den Glauben daran. Was ist deine Angst? Nicht eigentlich, dass er dich verlässt, nicht eigentlich, dass es ein Verständigungsproblem gibt; nicht eigentlich, dass er nicht zu dir passt, du ihn nicht liebst. Sondern es ist die Art und Weise dieser Liebe. Die aber ist immer anders - ein "richtig" und "erstrebenswert", das man suchen könnte, gibt es nur bedingt. Erst wenn sich nichts mehr dreht, sollte man misstrauisch werden.

Genieße eure Liebe in vollen Zügen, wo sich die Gelegenheit bietet. Die Normalität, die du vermisst, also Reibung und Weigerung, sich verbiegen zu lassen (ob man wollte oder nicht), euch beide betreffend, wird kommen. Doch auch die Zweifel haben ihre Berechtigung. Wahrscheinlich ist es unmöglich, sie sofort zu beenden - aber wirf dir auch nicht vor, wenn sie kommen. "Gefühl, Zweifel - ich kenne dich. Muss ich mich von dir geißeln lassen?" Ohne ein Auf und Ab kann es ja nicht gehen? Es ist das Wahre, das Schönste, das Beste. Das Karussell wird ins Schlingern kommen, Quietschen und Wackeln; aber wünsche dir nicht, es zu stoppen, denn das bedeutet nicht Erlösung, sondern Ernüchterung. Wenn er wirklich der Richtige für dich ist - und alles, was du schreibst, spricht dafür -, dann kann die Fahrt nicht angehalten werden. Lass die Dinge auf dich zufliegen, lass es geschehen, dass du manchmal ein bisschen unruhig wirst, oder Bauchweh bekommst - das gehört dazu. Ohne das alles wäre es künstlich und unecht. Auch nachden ihr schon läner zusammen passt, kann es noch dauern, bis sich eine Gewohnheit einstellt. Besser allerdings, sie wird nie so stark, dass man sich auf sie verlässt.

Seine Gewohnheiten und die seiner Familie, sind etwas anders als die, die du kennst. Ich kann verstehen, dass es manchmal fremd auf dich wirkt - aber ein perfektes Zusammenspiel kann es nicht geben. Wichtiger ist es, aus dem Verschiedenen ein Ganzes zu formen, das voneinander lernen kann. Gib dir auch dafür die Zeit, die nötig ist. Auch neun Monate sind ja keine Frist, nach der bestimmte Dinge funktinoieren müssen, oder nicht mehr stören dürfen. Ihr werdet euch nie ganz angleichen - das solltet ihr auch nicht, denn dann würdet ihr unkritisch, unflexibel, würdet euch zu sicher fühlen. Doch eure Liebe ist dabei, sich zu entwickeln - immer und überall, auch gerade. Was seine Familie betrifft, geht es vorerst darum, sie zu akzeptieren - dasselbe kannst du von ihnen verlangen. Hast du darüber mit ihm schon gesprochen? Ich bin sicher, er versteht, dass deine Zweifel auch aus Unsicherheit kommen. Sie braucht, um weniger zu werden; die Beziehung ist ja nie die einzige "Baustelle" im Leben, und sicherlich die am wenigsten fristgerechte. Doch über allem Nachdenken wisst ihr doch immer, was ihr aneinander habt; du musst es nicht in Frage stellen, bist dir sicher, dass er dir gut tut. Unter allen Zweifeln schält sich immer wieder die Sehnsucht nach ihm, das Gefühl der Sicherheit, heraus - und das feste Wissen, dass ihr zueinander gehört. Das ist das Schönste, erhalte es dir - aber lass es dir weder klein reden, noch tu das selbst. Du hast einen Edelstein gefunden - habe den Mut, ihn nicht zu schleifen, denn dann würde er seinen Glanz verlieren.

Alles Gute und Liebe Grüße,

Paul